# taz.de -- Hamburger Institut für Sozialforschung: Der Himmel der Theorieprod… | |
> Die Verdienste des Hamburger Instituts für Soziaforschung um die | |
> kritische Öffentlichkeit sind groß. Reemtsma, der es nun schließt, | |
> ermöglichte viel. | |
Bild: Jan Philipp Reemstma auf einer Tagung des Hamburger Instituts für Sozial… | |
Als junger Soziologiestudent bin ich einmal in meine Heimatstadt Nürnberg | |
gefahren, um mir den Streik der AEG-Mitarbeiter*innen anzusehen. | |
Damals war verkündet worden, dass das dortige Werk zum Jahr 2007 | |
geschlossen würde. Trotz, Trauer, Solidarität und Wehmut prägten die | |
Situation, nicht nur bei den Beschäftigten, sondern in der ganzen | |
Stadtgesellschaft. Gefühle, die man nur entwickeln kann, wenn die Sache | |
etwas bedeutete, wenn sie das Leben geprägt und die Welt berührt hat. | |
[1][So wird es wohl auch mit dem Hamburger Institut für Sozialforschung | |
(HIS) sein, dessen endgültige Schließung für das Jahr 2028 geplant ist.] | |
Ich habe hier als Doktorand von 2009 bis 2016 gearbeitet. Der Trubel um die | |
Wehrmachtsausstellungen, die zwischen 1995 bis 1999 und 2001 bis 2004 in | |
zahlreichen Städten gezeigt wurden, war damals abgeebbt. | |
Als Schüler waren sie auch mein erster Kontakt zur Arbeit des HIS gewesen. | |
Bis heute bilden die Ausstellungen das Aushängeschild des Instituts, dessen | |
historische, soziologische und politikwissenschaftliche Forschung sich zu | |
großen Teilen mit Fragen der Gewalt befasst. | |
Das HIS hat Karrieren geprägt. Zu seinen Alumni zählen intellektuelle | |
Größen wie Hannes Heer, Michael Wildt, [2][Heinz Bude], Wolfgang Kraushaar, | |
Bernd Greiner, Wolfgang Bonß und viele weitere mit längeren und kürzeren | |
Stationen in Hamburg. | |
## Außenwirkung und akademische Relevanz | |
Die Verdienste des Instituts um die kritische Öffentlichkeit der | |
Bundesrepublik sind Legende: die Beiträge seiner Mitarbeiter*innen in | |
den Medien, die zahlreichen Publikationen in der hauseigenen Zeitschrift | |
Mittelweg 36 oder im eigenen Verlag, unzählige Tagungen, Forschungsprojekte | |
und Debattenbeiträge. | |
Dass dem Institut der Spagat zwischen intellektueller Außenwirkung und | |
akademischer Relevanz gelang, belegen nicht zuletzt zahlreiche Berufungen | |
ehemaliger Mitarbeiter*innen des Instituts auf Professuren in der | |
Bundesrepublik und im Ausland. | |
Im Inneren zusammengehalten wurde das Institut nach meiner Wahrnehmung von | |
einem die vertretenen Disziplinen übergreifenden Konsens, der alle | |
Forschungsprojekte auf das Ziel der Theorieproduktion verpflichtete. In der | |
Zeit nach der Wehrmachtsausstellung habe ich diese analytische Orientierung | |
vor allem in der soziologischen Arbeit im Haus als Quelle eines | |
außergewöhnlich ambitionierten Denkens erlebt. | |
Der vermittelte Ansatz war, dass jedes Projekt, ob es sich nun um Geld, | |
Freundschaft, neue soziale Klassen oder verlorene Orte drehte, einen Teil | |
des Ganzen im Blick hatte. Diese Ausrichtung, gepaart mit der Idee, mit | |
vielen anderen an einem Theoriegebäude für die Gegenwart zu arbeiten, maß | |
selbst der Arbeit von Doktorand*innen eine Relevanz bei, die zum | |
strengen und anspruchsvollen Denken motivierte. | |
## Komfort und Privileg | |
Wer hier mitzog, konnte mit einer Unterstützung rechnen, die im | |
sozialwissenschaftlichen Betrieb ihresgleichen suchte: eine eigene | |
Bibliothek mit kompetenten Mitarbeiter*innen, die Rechercheaufträge | |
übernahmen. Ein monatliches Kolloquium, in dem man an die wirklich | |
grundlegenden Texte heranging. Die Arbeit am Schreiben mit den Redakteuren | |
der hauseigenen Zeitschrift. Das alles in für den wissenschaftlichen | |
Nachwuchs vollkommen unüblicher Vollzeitbeschäftigung. Es war der Himmel | |
und wir wussten es. | |
Der außergewöhnliche Komfort der Arbeit am HIS war nicht nur Privileg, | |
sondern Ausweis der Selbstwertschätzung. In der Belegschaft hatte man das | |
Gefühl, aufgehoben zu werden. Man durfte und sollte dazugehören, auch wenn | |
die Verträge damals schon lange nicht mehr unbefristet ausgestellt wurden. | |
Im Idealfall legte dieser Geist des Hauses das Fundament einer gut | |
gepolsterten Pflichtethik: Weil man das Glück habe, fürs Denken bezahlt zu | |
werden, habe man die Sache auch gut zu machen. So oder so ähnlich erinnere | |
ich die von Jan Philipp Reemtsma in die Belegschaft gesprochene Nachricht. | |
Man sollte das Hamburger Institut freilich auch nicht verklären. Seine | |
organisatorische Agilität und inhaltliche Unabhängigkeit hängen von einer | |
Struktur ab, die auch im Vergleich zum bürokratischen, oft behäbigen und | |
von Drittmitteln abhängigen Normalbetrieb der Massenuniversität alles | |
andere als demokratisch ist. Am Ende sind die großen Entscheidungen mit der | |
Person des Stifters, der das Haus mit einem erklecklichen Teil seines | |
Privatvermögens finanziert, unverbrüchlich verbunden. | |
## Eine private Angelegenheit | |
Wer heute argumentiert, dass die Unabhängigkeit des Hauses auch mit einem | |
Beirat aufrechtzuerhalten wäre, sollte zur Kenntnis nehmen, dass das HIS in | |
seiner Grundstruktur nie eine öffentliche, sondern immer eine private | |
Angelegenheit war. Als solche war das Haus nicht nur außergewöhnlich in der | |
deutschen Wissenschaftslandschaft. | |
Der hohe persönliche Einsatz, den der Arbeitsstil, die gemeinsame Mission | |
und die letztlich auf eine Person zugeschnittene betriebliche Herrschaft | |
erforderten, hatten so manchen Fallout. Als junger Doktorand habe ich | |
international geachtete Professoren weinen sehen und Spannungen in Räumen | |
gespürt, die ich mir schlicht nicht erklären konnte. Aber wir haben auch | |
getanzt, bis in die Nacht gesprochen und uns als Teil eines besonderen | |
Ortes gefühlt. | |
Meine Zeit am HIS war mit dem Amtsantritt des aktuellen Direktors vorbei. | |
Ich wechselte zu dieser Zeit in ein anderes Institut. Die organisatorische | |
Neuausrichtung ab 2015 diente nach meiner Wahrnehmung der Annäherung an den | |
akademischen Normalbetrieb. | |
Das alte HIS hatte sich mit Personen wie [3][Wolfgang Kraushaar oder Klaus | |
Naumann noch Lebensexperten für bestimmte öffentlichkeitsrelevante Themen | |
wie den Linksterrorismus] oder die Bundeswehr geleistet. Das neue HIS | |
sollte sich stärker um zeitlich befristete Forschungsgruppen sortieren und | |
damit letztlich nach dem Vorbild öffentlicher Forschung an Dynamik | |
gewinnen. Die öffentliche Relevanz trat in den Hintergrund. Für den | |
Mittelbau und den wissenschaftlichen Nachwuchs entstanden dafür neue | |
Spielräume im Haus. | |
## Der lange Atem des Zivilisationsbruchs | |
Die Umstrukturierung hatte den Abschied einer ganzen Reihe von | |
Mitarbeitenden zur Folge, die lange Zeit Gesicht und Stimme des HIS gewesen | |
waren. Vielfach waren sie über ihre Forschungsthemen eng an ein | |
intellektuelles Generationenprojekt gebunden, das sie mit dem Stifter | |
teilten. Im Kern war das alte Bundesrepublik, der lange Atem des | |
Zivilisationsbruchs. | |
Die folgende Neuausrichtung versuchte, das bereits eingetretene Ende dieses | |
Generationenprojekts durch die Überführung sehr spezifischer Fragen in | |
normale Wissenschaft zu überspielen. Aber das HIS war eben nie normal. | |
Gerade deswegen sind hinsichtlich seiner Schließung Trotz, Trauer, | |
Solidarität und Wehmut angebracht. Weil es etwas bedeutete. | |
19 Jan 2024 | |
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## AUTOREN | |
Philipp Staab | |
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