# taz.de -- Kritik an Israel: Sprachlose Weitergabe | |
> Ist Kritik an Israel wegen der Täterschuld nicht möglich? Davon kann | |
> keine Rede sein – die Aufarbeitung drang nie in die Tiefe der | |
> Gesellschaft ein. | |
Bild: Das Brandenburger Tor in Berlin am 85. Jahrestag der Pogrome vom November… | |
[1][Amerikanische linke und linksliberale Intellektuelle], aber auch | |
Vertreter des Postkolonialismus in Deutschland erwecken den Eindruck, dass | |
es in Deutschland aufgrund einer Täterschuld nicht möglich und opportun | |
sei, Israel zu kritisieren. Es gebe vielmehr eine fragwürdige offizielle | |
Antisemitismusdefinition, die jede Kritik an Israel im Keim ersticke. | |
Als Beleg wird die Absage von Veranstaltungen und Ausstellungen mit | |
Vertretern des Globalen Südens, die sich kritisch zu Israel äußern, | |
angeführt. Auch die Verpflichtungserklärung, die der Berliner Kultursenator | |
allen Vertragspartnern abfordern wollte – [2][wovon er inzwischen abgerückt | |
ist] –, stieß in diesem Zusammenhang auf massiven Widerspruch. | |
Wenn es so wäre, dass es aufgrund von politischen Tabus weder auf | |
institutioneller Ebene noch auf gesellschaftlicher Ebene möglich ist, | |
Israel und seine Regierung zu kritisieren, müsste man sich ernsthaft Sorgen | |
um die Meinungsfreiheit in Deutschland machen. Es ist zudem legitim und | |
notwendig, Versuchen einer Zensur der Kritik an Israel und dem Vorgehen | |
gegenüber der Zivilbevölkerung im Gazastreifen entgegenzutreten. | |
Gleichwohl ist der Eindruck, dass man in Deutschland Israel nicht | |
kritisieren dürfe oder könne, grundfalsch. Jeden Tag wird in der | |
Öffentlichkeit kritisch über die Netanjahu-Regierung, rechtsextreme | |
Minister und das Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung im Gazastreifen | |
berichtet. Auch die dortige inhumane Lage wird ausführlich dargestellt. | |
Zudem wird Israel gemahnt, sich an das Völkerrecht und zivile Standards zu | |
halten sowie die Versorgung der palästinensischen Bevölkerung | |
sicherzustellen. Außerdem wird seit Monaten mit Sympathie über die | |
Protestbewegung in Israel gegen die Netanjahu-Regierung und deren Versuche, | |
die Demokratie auszuhöhlen, informiert. Es kann also keine Rede davon sein, | |
dass man sich in Deutschland nicht kritisch mit Israel auseinandersetzen | |
könne. | |
Überhaupt stellt sich die Frage, ob es in der deutschen | |
Mehrheitsgesellschaft jene „Täterschuld“ gibt, von der behauptet wird, dass | |
sie Kritik an Israel verhindere. Viele Deutsche sind vielmehr gegenüber den | |
Juden und deren Schicksal ziemlich desinteressiert und gleichgültig, wie | |
vor kurzem eine Umfrage von Forsa gezeigt hat: 59 Prozent der Befragten | |
sagten, dass ihnen Israel fremd sei, nur 23 Prozent empfanden eine „Nähe“ | |
zu Israel. Auch die Anteilnahme der deutschen Öffentlichkeit am Massaker | |
der Hamas am 7. Oktober 2023 fiel erschreckend gering aus. | |
Die 68er-Generation kann sich zugutehalten, mit der Elterngeneration die | |
Auseinandersetzung über die Verstrickung in die Nazi-Verbrechen öffentlich | |
geführt zu haben. Insofern ist ein gewisser Stolz auf die in dieser | |
Auseinandersetzung entstandene deutsche Erinnerungskultur zwar berechtigt, | |
aber ob das Ausmaß der Erinnerung angesichts der jüngsten antisemitischen | |
Vorfälle wirklich in die Tiefenschichten der Gesellschaft vorgestoßen ist, | |
bleibt fraglich. | |
## Erinnerung als ritualisierte Pflicht? | |
Zwangsläufig hat die Erinnerung an den Holocaust im Laufe der Zeit unter | |
den Nachfolgegenerationen nicht nur nachgelassen, sondern läuft auch | |
Gefahr, [3][zu einer ritualisierten Pflichtaufgabe] zu werden. Der | |
französische Philosoph Claude Lefort hat einmal gesagt: „Seit einiger Zeit | |
spricht man viel von der ‚Pflicht, sich zu erinnern‘. Das ist erfreulich. | |
[…] Aber ohne die Pflicht zu denken, läuft die Pflicht, sich zu erinnern, | |
Gefahr, wirkungslos zu sein.“ | |
Jedenfalls hat die Aufarbeitung der Vergangenheit nicht so tiefgreifend das | |
Familiengedächtnis vieler deutscher Familien erreicht wie erhofft. Zwar | |
wird im öffentlichen Raum durch Mahn- und Gedenkstätten sowie in | |
Sonntagsreden an die Gräueltaten der Vergangenheit erinnert, aber das | |
verleugnete Wissen um den Holocaust und die Verbrechen des NS-Regimes | |
konnte sich gleichwohl durch das Beschweigen auf verquere Art und Weise auf | |
die nächsten Generationen übertragen. | |
Die Nachfolgegenerationen sind auch heute noch mit der sprachlosen | |
Weitergabe eines schuldbelasteten Erbes konfrontiert. Dies gilt für den | |
Westen, aber noch stärker für den Osten Deutschlands: Unter dem dünnen | |
Firnis des staatlich verordneten Antifaschismus wurden in den Familien noch | |
stärker als im Westen Einstellungsmuster tradiert und konserviert, die | |
nahtlos an die Zeit des Nationalsozialismus anknüpften. Man muss | |
befürchten, dass es jenseits der hohlen Bekenntnisse der AfD-Führung zur | |
christlich-jüdischen Tradition vor allem unter den Mitgliedern der | |
ostdeutschen Landesverbände der AfD einen tief sitzenden Antisemitismus | |
gibt. | |
## Weniger Mitgefühl mit Juden | |
Vor diesem Hintergrund kann man zumindest infrage stellen, ob es in der | |
behaupteten Breite überhaupt jene Täterschuld unter den Deutschen gibt, von | |
der gesagt wird, dass sie eine Art Zwangssolidarität mit Israel stifte. Im | |
Unterbewusstsein wird es sicherlich auch bei den Nachgeborenen noch etwas | |
von diesem Schuldbewusstsein geben, aber gerade durch dessen Verdrängung | |
wendet sich das Mitgefühl eher von den Juden ab als ihnen zu. | |
Wenn man noch einen Schritt weitergeht, kann man auch sagen, dass es zu | |
einer Schuldumkehr gekommen ist, indem sich insbesondere linke Strömungen | |
mit „den“ Palästinensern solidarisieren, weil sie als vermeintliche „Opf… | |
der Opfer“ betrachtet werden. Dabei ist es die Hamas, die – ähnlich wie die | |
Nationalsozialisten – die Juden auslöschen will, und zwar einzig und allein | |
deshalb, weil sie Juden sind. | |
Und wenn heute jüdische Studierende in Deutschland durch | |
propalästinensische Aktivisten am Betreten von Hörsälen behindert werden, | |
erinnert das auf fatale Art und Weise an das Vorgehen des NS-Regimes. Vor | |
diesem Hintergrund kann man froh sein, dass es wenigstens in den | |
politischen Institutionen und in der politischen Klasse eine klare Haltung | |
zu Israel, seinem Existenzrecht und seinem Recht auf Selbstverteidigung | |
gibt. | |
30 Jan 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Linker-Antisemitismus/!5572949 | |
[2] /Antisemitismus-im-Kulturbetrieb/!5984346 | |
[3] https://www.swr.de/swr2/leben-und-gesellschaft/holocaustgedenktag-2022-100.… | |
## AUTOREN | |
Lothar Probst | |
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Kolumne Die Wahrheit | |
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