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# taz.de -- Urteil zu Israels Justizreform: Den Schaden hätte die Demokratie
> Israels Oberstes Gericht verwirft den Kern der umstrittenen Justizreform.
> Während Premier Netanjahu schweigt, üben seine Minister Kritik. Und nun?
Bild: „Der Oberste Gerichtshof hat heute seine Pflicht zum Schutz der israeli…
Berlin taz | Heute scheint es eine Ewigkeit her zu sein, dass
Hunderttausende Israelis Autobahnen blockierten, mit wehenden israelischen
Fahnen gegen den geplanten Staatsumbau protestierten und „Demokratie“
skandierten. Seit dem Hamas-Überfall vom 7. Oktober und dem daraufhin
erklärten Krieg Israels gegen die Terrorgruppe ist die Protestbewegung in
ihrer früheren Form zum Erliegen gekommen. Das Urteil, das das Oberste
Gericht am Montag fällte, ist so eine denkwürdige Mahnung, die die Israelis
daran erinnert, was einst das ganze Land bewegte.
[1][Das Oberste Gericht entschied, dass eine von der Knesset verabschiedete
Änderung eines Grundgesetzes nicht rechtmäßig sei], nämlich die Abschaffung
der sogenannten Angemessenheitsklausel. Vor der Änderung dieser Klausel
hatte das Gericht die Möglichkeit, Entscheidungen von Regierungsmitgliedern
und anderen Amtsträgern als „unangemessen“ einzustufen. Dabei geht es nicht
nur um mögliche Gesetzesverstöße, sondern auch um Personalentscheidungen,
die das Gericht für ungültig erklären kann, etwa wegen laufender
Korruptionsverfahren oder Disziplinarstrafen.
Die Regierung hatte die Gesetzesänderung kurz vor der Sommerpause im Juli
vergangenen Jahres durchgedrückt. Sie blieb der erste und bislang einzige
Teil der ursprünglich angekündigten, großangelegten „Justizreform“. Nun …
das Oberste Gericht sie gekippt.
Acht von 15 Richter*innen urteilten, dass die Gesetzesänderung nicht
rechtens sei. „Das Gericht befand, dass die Änderung den Kern von Israels
Wesen als demokratischen Staat einen schweren und noch nie dagewesenen
Schaden zufügt“, hieß es zur Begründung. Die Gerichtsentscheidung befasst
sich außerdem mit der grundlegenden Frage, ob das Gericht überhaupt die
Autorität hat, vom Parlament erlassene Grundgesetze oder Änderungen dieser
Gesetze niederzuschlagen. Diese Frage bejahten 13 der 15 Richter*innen.
Die Reaktionen auf das Urteil spalten das Land. Doch die Entscheidung, ob
es zu einer Verfassungskrise kommt, ist noch nicht gefallen. Dabei hatten
viele Israelis [2][die Gerichtsentscheidung im Vorfeld] als Scheitelpunkt
betrachtet, an dem sich genau dies entscheiden würde. Die Opposition
reagierte eindeutig. Der zentristische Politiker Jair Lapid begrüßte das
Urteil: „Der Oberste Gerichtshof hat heute seine Pflicht zum Schutz der
israelischen Bürger erfüllt“, schrieb er auf X, vormals Twitter. Auch Benny
Gantz, der vor drei Monaten dem Notstandskabinett beigetreten war, drängte
darauf, dass das Urteil akzeptiert werden muss.
## Minister*innen werfen dem Gericht vor, das Land zu spalten
Aus dem regulären rechts-religiösen Kabinett hingegen kamen zwar harsche
Reaktionen, jedoch keine eindeutige Ankündigung, das Urteil nicht
akzeptieren zu wollen. Justizminister Yariv Levin, der Architekt der Pläne
zum Staatsumbau, warf den Richter*innen des Obersten Gerichtshofs vor,
„alle Macht, die eigentlich auf die drei staatlichen Gewalten verteilt sein
müsste, an sich zu nehmen“. Er fügte hinzu, dass das Urteil „uns nicht
aufhalten würde“: Was genau dies bedeutet, blieb unklar, doch die Äußerung
stellt die Möglichkeit in den Raum, dass es zu einer Eskalation zwischen
der Regierung und dem Obersten Gericht kommen könnte.
Der rechtsextreme Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir,
nannte die Entscheidung ein „gefährliches und antidemokratisches Ereignis“.
Geschlossen warfen die Minister*innen dem Gericht vor, ausgerechnet zu
dieser Zeit, in der Israel Krieg führe, das Land zu spalten und Israels
Kriegsanstrengungen zu untergraben.
Von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu selbst kam zunächst keine
Reaktion. Seine Likud-Partei erklärte jedoch, dass die Entscheidung des
Obersten Gerichtshofes eine „gegen den Willen des Volkes zur Einheit,
insbesondere in Kriegszeiten“ sei.
## Der Krieg spielt Netanjahu in die Hände
Nach Ansicht der israelischen Rechtswissenschaftlerin Tamar
Hostovsky-Brandes war die Annahme, dass die Verfassungskrise am Tag der
Gerichtsentscheidung ihren Höhepunkt erreichen würde, von Anfang an falsch:
„Hier geht es nicht um einen Befehl an die Regierung, etwas zu tun oder zu
lassen. Die Regierung muss nichts erklären.“ Vielmehr bleibt abzuwarten, ob
sich die Regierung an die Autorität des Gerichts halten wird, wenn dieses
Regierungsentscheidungen auf der Grundlage der Angemessenheitsklausel für
nichtig erklärt.
In gewisser Weise spielt [3][der Krieg] Netanjahu auch in dieser Hinsicht
in die Hände: Vor dem 7. Oktober hätte der politische Druck Netanjahu
wahrscheinlich dazu veranlasst, eine klare Stellungnahme zum Gerichtsurteil
abzugeben. In der gegenwärtigen Kriegssituation kann die Antwort auf die
Frage, wie es mit Israels Rechtskrise weitergeht, jedoch einfach verschoben
werden – möglicherweise bis nach dem Krieg, wann auch immer das sein mag.
Hostovsky-Brandes hingegen hofft, dass die erlahmte Protestbewegung nun
wieder lauter wird.
2 Jan 2024
## LINKS
[1] /Justizreform-in-Israel/!5982006
[2] /Klage-gegen-Israels-Justizreform/!5956702
[3] /Schwerpunkt-Nahost-Konflikt/!t5007999
## AUTOREN
Judith Poppe
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