| # taz.de -- Zukunft der Evangelischen Kirche: Im Namen des Events | |
| > Der deutsche Protestantismus versucht sich angesichts schwindender | |
| > Mitgliederzahlen neu zu erfinden. Und dabei alte Traditionen nicht zu | |
| > vergessen. | |
| Hamburg/Lutherstadt Eisleben taz | Im Rollköfferchen steckt Angelika | |
| Gogolins Talar, denn nach der Teambesprechung soll die Pastorin an der | |
| Binnenalster ein Paar segnen. Abends steht dann noch eine der | |
| Reeperbahn-Hochzeiten an. Kirchlich heiraten „mit einem Astra in der Hand, | |
| direkt am Tresen einer original Hamburger Kiezkneipe“? St. Moment macht’s | |
| möglich. Sünde und Segen – aufregend nah beieinander. | |
| St. Moment, heiliger Moment also, so heißt die „Ritualagentur“, die in der | |
| Apostelkirche in Hamburg-Eimsbüttel ihre Büros hat. Mit individuell | |
| gestalteten Lebensfeiern wollen die Pastorinnen hier die Hürden zur | |
| evangelischen Kirche abbauen. Den Menschen, ihren persönlichen Wünschen und | |
| Orten näher kommen. Dafür packen die Pastoren auch mal den Koffer. | |
| „Weihnachten gut machen, die Kasualien gut machen“, sagt Angelika Gogolin. | |
| So könne man Kirchenferne erreichen. Kasualien, das ist evangelisch für | |
| Übergangsritus: Taufe, Trauung, Beerdigung. | |
| In der bayrischen Landeskirche hat es mit der „Segen.Servicestelle“ | |
| angefangen, in Berlin gibt es mittlerweile das „Segens-Büro“. Dort wie hier | |
| im Norden geht es darum, mit stimmungsvollen Feiern die Menschen zu halten, | |
| vielleicht sogar ein paar neue zu gewinnen. Beides versprechen sich viele | |
| Pastoren auch von warmem Licht und weichen Herzen in den | |
| Weihnachtsgottesdiensten. [1][Denn die Kirche hat es bitter nötig.] | |
| Deutschland ist das Land Martin Luthers und der Reformation, | |
| jahrhundertelang war die Elite im Land preußisch-protestantisch geprägt. | |
| Als „Kirche der Freiheit“, wie sie sich 2006 in einem Impulspapier nannte, | |
| gilt die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) vielen als die „gute“ der | |
| beiden Großkirchen. Frauen können mittlerweile alle Ämter bekleiden, | |
| [2][auch mit Queers gehen die meisten der 20 Landeskirchen akzeptierend | |
| um]. Doch wie ihre katholische Schwester bröckelt auch die EKD. | |
| ## Feierliche Rituale, keine nüchternen Worte | |
| Mitte November hat sie ihre sechste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung | |
| vorgestellt. Das Ergebnis: Die Deutschen erwarten viel von der EKD. Etwa, | |
| dass diese konsequent Geflüchtete unterstützt. [3][Doch die Kirchenbindung | |
| schwindet schnell.] Selbst von den Nochmitgliedern verstehen sich | |
| mittlerweile rund ein Drittel als nicht religiös. Zumindest im | |
| traditionellen Sinn. Sexualisierte Gewalt spielt bei den evangelischen | |
| Kirchenaustritten bislang keine große Rolle. [4][Im Januar aber soll die | |
| erste umfassende Missbrauchsstudie vorgelegt werden.] Einen Aufschwung an | |
| Mitgliedern wird sie definitiv nicht bringen. | |
| Den verspricht sich die Kirche des nüchternen Wortes ausgerechnet vom | |
| Feiern stimmungsvoller Rituale. Dabei steht mancherorts die große Tradition | |
| im Zentrum, an anderer Stelle wollen sie das Traditionelle gerade hinter | |
| sich lassen. | |
| Angelika Gogolin, ihre Kollegen und Bürohund Kasi sitzen nach der | |
| Besprechung Anfang Dezember – Donnerstag ist Teamtag – noch bei einem | |
| schnellen Kaffee in der Kirchenküche zusammen. 10 Mitarbeitende hat St. | |
| Moment, neben den Pastorinnen und Verwaltungsmitarbeitenden auch einen | |
| eigenen Musiker. Das Wort „multiprofessionell“ fällt mehrmals im Gespräch. | |
| Die Pastorinnen hier haben Spaß an ihrem Job. „Manchmal vergisst man, dass | |
| es Arbeit ist“, sagt Angelika Gogolin. Ihre Kollegen tragen bunte Schals | |
| und lustige Handschuhe, an der Tür des Büros steht „Co-Working“. Pastor | |
| Fabio Fried, Experte für Taufen, sagt: „Unsere Webseite ist SEO-optimiert, | |
| dadurch werden wir bei Google recht hoch geranked.“ | |
| ## Die Kirche ist nur noch ein Anbieter unter vielen | |
| In den Straßen um die Apostelkirche, eine wuchtige Burg aus Backstein, | |
| reiht sich Laden an Laden. Auf dem Schaufenster der „Digitalen Tischlerei“ | |
| steht: „Always custom made“. Neben dem „Cheesecake Heaven“ kommt der | |
| „Brautschuppen“, um die Ecke die „Adam & Eve Beauty Lounge“. Der örtli… | |
| Bestatter heißt „Trostwerk“ und verspricht „andere Bestattungen“. Die | |
| evangelische Kirche – sie ist heute ein Anbieter unter vielen. Auch bei | |
| Babymessen, Hochzeitsmessen, Bestattungsmessen. | |
| Eine Marktanalyse habe ergeben, dass eine Ritualagentur das Richtige sei | |
| für Hamburg, sagt Meike Barnahl, Gründerin und Leiterin von St. Moment, am | |
| Küchentisch. Die Anfragen, viele davon aus dem Umland und anderen Teilen | |
| Deutschlands, geben dem Ritual-Start-up recht. Die „Benchmark“ für das | |
| Jahr, die Zielmarke also, sei schon im Mai erreicht worden. | |
| Im Radio hat Tobias Geiseler von den Kneipenhochzeiten gehört, die St. | |
| Moment anbietet. Geiseler, der als Koch arbeitet, und seine Freundin Sandra | |
| Albrecht hatten „schon lange geplant zu heiraten“. Dann kam Corona. Der | |
| Hörfunkbericht im vergangenen Mai ließ ihn direkt bei St. Moment anrufen, | |
| Angelika Gogolin stand für eine Trauung am selben Abend bereit. Im | |
| Windjammer, einer Kneipe an der Reeperbahn, die mit St. Moment | |
| zusammenarbeitet. | |
| „Es war genau das, was zu uns passt. Wir sind spontan, lebenslustig, stoßen | |
| gern mal mit einem Bier an“, sagt Geiseler. Mit der Kirche haben er und | |
| seine Frau nichts am Hut, auch wenn Albrecht offiziell Katholikin ist. | |
| Auch die zwei Kinder der beiden hat Pastorin Gogolin im Windjammer | |
| gesegnet. „Ich war wirklich sehr ergriffen und den Tränen nah“, sagt | |
| Geiseler. Seit dieser Erfahrung habe er „mehr das Gefühl, dass Gott die | |
| Hand über einen hält“. | |
| ## Nicht alle begrüßen die Innovationen | |
| Ob er als ehrenamtlicher Fußballtrainer und glühender HSV-Fan nicht | |
| überlegt habe, im Volksparkstadion zu heiraten? Das bietet der Verein | |
| schließlich auch an. „Das kann man sich finanziell gar nicht leisten“, sagt | |
| Geiseler. „Bei uns fällt nicht viel ab.“ | |
| St. Moment bietet ein „Hochzeits-Paket“, ein „Tauf-Paket“, | |
| „Bestattungs-Paket“ und das Angebot „Fröhliche Weihnachten für traurige | |
| Menschen“ an Heiligabend. Kostenfrei, auch für Nichtmitglieder. „Es bekommt | |
| jeder, was er möchte“, sagt Barnahl. Ganz individuell. Nicht bei allen | |
| innerhalb der EKD kommt dieses Modell gut an. „Am Anfang gab es erheblichen | |
| Gegenwind, einige in der Kirche waren sehr angepikst von uns“, sagt | |
| Barnahl. Einige Gemeindepastoren sahen die Agentur als Konkurrenz. „Die | |
| dachten, wir nehmen ihnen ihre Schäfchen weg.“ Angelika Gogolin berichtet | |
| von der Angst vor zu viel „Halligalli“, vor Trauungen am Gleitschirm, beim | |
| Tauchgang. In diese Richtung habe es aber noch keine Anfragen gegeben. | |
| Gogolin scheint fast ein bisschen enttäuscht darüber. Dann muss sie los, | |
| zur Segnung an der Alster. | |
| Fabio Fried weist auf das hin, was der schicke Instagram-Account von St. | |
| Moment nicht zeige: dass mit den Ritualen nicht nur „Halligalli“, sondern | |
| auch Seelsorge einhergehe, der Umgang mit Verlusten. „Die Leute bringen ihr | |
| Lebensthema mit“, sagt Fried. | |
| „Es gibt keine Innovation, wenn es alle geil finden“, sagt Barnahl zur | |
| Kritik. In Hamburg habe sich das Miteinander allerdings verbessert, es gebe | |
| sogar Kooperationsanfragen. St. Moment biete schließlich auch den Gemeinden | |
| etwas an: Inspiration, Beratung für eigene Messestände, Hilfe bei eigenen | |
| Events. | |
| ## Hier setzen sie auf eine Agentur, dort auf Architektur | |
| Denn auch vor Ort fragen Menschen an, die Rituale wollen, aber keine engere | |
| Bindung an die Kirche. Heilige Momente, no strings attached, quasi. Von | |
| Pfarrern aus den Nobelvororten Hamburgs und anderer Städte ist zu hören, | |
| [5][dass viele Wohlhabende aus steuerlichen Gründen nicht mehr Mitglieder | |
| seien], doch im Gegenzug für Rituale spendeten. | |
| FDP-Bundesfinanzminister Christian Lindner etwa und die Welt-Journalistin | |
| Franca Lehfeldt. 2022 wurden die beiden auf Sylt von einer Pastorin | |
| getraut. Obwohl sie aus der Kirche ausgetreten sind und keine | |
| entsprechenden Steuern zahlen. „Man darf aber davon ausgehen, dass der | |
| Gemeinde keinerlei wirtschaftlicher Nachteil entstanden ist“, sagte | |
| Lindner, nachdem es Kritik an seiner „Gratismentalität“ gegeben hatte. | |
| Einer der Kritikpunkte: Selbst wenn Lindner spendet, bleibt das Geld auf | |
| Sylt und verteilt sich nicht in ärmere Gebiete der Landeskirche. | |
| Und wo bleibt ohne Kirchensteuer die Sozialarbeit? „Die ist auch über | |
| Drittmittel finanziert“, sagen sie hier bei St. Moment. Und haben recht. | |
| Diakonie, Obdachlose: Die Kirche hat ihre soziale Arbeit großenteils in | |
| Unternehmen organisiert. Und fungiert dabei oft als Dienstleisterin für den | |
| Staat. | |
| Wenn bei St. Moment in Hamburg die kirchliche Tradition ganz in den | |
| Hintergrund tritt, spielt sie in Lutherstadt Eisleben die zentrale Rolle. | |
| Das lässt sich die Kirche Einiges kosten. Die kleine Stadt in | |
| Sachsen-Anhalt mit 22.000 Einwohnern ist der Geburtsort des großen | |
| Reformators. | |
| Es ist schon dunkel, doch der Weg in die Eisleber Innenstadt funkelt wie | |
| die Kieselsteine in Grimms Märchen. „Hier sind Lämpchen in das Pflaster | |
| eingelassen“, sagt Heiner Urmoneit. Sie weisen zu den Stätten, wo Luther | |
| als Sohn eines Hüttenpächters 1483 geboren und 63 Jahre später gestorben | |
| ist. Urmoneit stoppt vor einem Hauseingang, holt einen Schlüssel, und wenig | |
| später schließt der Pfarrer St. Petri auf, Luthers Taufkirche, seit 2012 | |
| zum „Zentrum Taufe“ erhoben, Urmoneits Arbeitsplatz. | |
| Wenig später geht Urmoneit, elegant, als wär’s eine tägliche Übung, auf d… | |
| Knie, taucht mit der Hand in das große Becken am Kirchenboden und lädt ein, | |
| es ihm gleichzutun. Auf der Innenseite des Beckens ist der Taufbefehl aus | |
| dem Matthäusevangelium eingelassen. | |
| Urmoneit lässt die Hand im Wasser kreisen, in die Stille hinein plätschert | |
| es, als würde tief unten eine Quelle entspringen. Die Temperatur fühlt sich | |
| auch danach an. „Wenn eine Taufe ansteht, wird das Wasser erwärmt“, | |
| versichert Urmoneit. Und in den Fußboden ist eine Heizung eingebaut, die | |
| die ganze Kirche bei konstant 8 Grad hält. | |
| Nicht nur bei der Heizung ist das „Zentrum Taufe“ bestens bestückt, auch | |
| bei der Schwimmbadtechnik, und das hat nicht nur hygienische Gründe. Es | |
| geht auch um Theologie. So ruhig, wie das Wasser jetzt wieder steht, ist es | |
| selten, sagt Urmoneit. „Taufwasser muss fließen.“ Man kann Säuglinge tauf… | |
| und Erwachsene, man kann am See taufen, in der Kirche oder am Krankenbett, | |
| doch eines ist wichtig: Das Wasser muss fließen. Ob tröpfchenweise oder | |
| durch vollständiges Untertauchen, nur fließendes Wasser symbolisiert Leben | |
| und Neuanfang, so wie im Jordan, wo Jesus einst von Johannes getauft wurde. | |
| Um der Theologie zu entsprechen, ist im Untergrund einiges an Technik | |
| montiert. Während der Öffnungszeiten, erzählt Urmoneit, hält eine Pumpe das | |
| Wasser in Bewegung, filtert es und tauscht es aus. Einmal pro Woche | |
| kontrolliere ein Techniker die Anlage. Kurzum – man kann sich dem Brunnen | |
| anvertrauen, mit seinem Körper und mit seinem Geist. | |
| Seit dem Umbau scheint die ganze Kirche von sanften Wellen erfasst. Die | |
| Bodenplatte, mit Wellenlinien ziseliert, lenkt den Schritt wie von selbst | |
| zum Taufbecken hinunter, aus dem wie aus einem blauschimmernden Auge reines | |
| Wasser glänzt, als gäbe es von hier eine wundersame Verbindung zum | |
| Baikalsee oder irgendeinem anderen Wunder der Schöpfung. Fünf | |
| Architekturbüros haben Entwürfe eingereicht, der aus Berlin hat den | |
| Zuschlag erhalten. | |
| Aber wie gelangt man denn nun hinein in das göttliche Nass? Nur an | |
| Tauftagen führe eine Treppe in das 70 Zentimeter tiefe Wasser, sagt | |
| Urmoneit. Das verhindere, dass jemand – sei es aus Spaß, sei es aus Rührung | |
| – in das Becken steigt, um die eigene Taufe zu wiederholen, etwa weil man | |
| sie wie Luther als Säugling erfahren hat und keine Erinnerung daran hat. | |
| Die Taufe gibt es für jeden nur einmal, macht Urmoneit klar. Und sie bleibt | |
| gültig, ganz gleich, wie das Leben auch verläuft. Deswegen sind | |
| Wiedertaufen unerwünscht, Feiern allerdings, die an die eigene Taufe | |
| erinnern, sogenannte Taufgedächtnisse, sind Teil des Projekts. | |
| „Die Taufe in ihrer ganzen Bandbreite anbieten“ – so bekräftigt es Urmon… | |
| an diesem Abend noch mehrfach, sei die Hauptaufgabe seiner Arbeit. Es | |
| klingt wie Werbung, doch Urmoneit ist alles andere als ein PR-Agent. Der | |
| 56-jährige Pfarrerssohn aus Magdeburg leitet das Taufzentrum seit 2018. Für | |
| die „ganze Bandbreite“ ist das neuartige Becken zentral. Es macht | |
| „Ganzkörpertaufen“ möglich, ein Ritual, [6][das bisher eher Freikirchen u… | |
| Orthodoxe praktizierten]. Urmoneit holt Bilder hervor, sie zeigen drei | |
| Menschen im Becken, in der Mitte der Täufling im feierlichen, aber | |
| weltlichem Gewand, zu seiner Seite Pastorin und Pate ganz in Weiß. | |
| Das „Zentrum Taufe“ mit dem zwei Meter zwanzig großen „Gewässer“ inmi… | |
| einer spätgotischen Kirche ist einzigartig innerhalb der EKD. | |
| Architektonisch scheint der rund 2 Millionen Euro teure Umbau gelungen, der | |
| zum großen Teil über Bundesmittel finanziert wurde. Zumindest ist die | |
| Kritik an der „Eventkirche“ verstummt. | |
| Als „Badewanne“ hatte sie Friedrich Schorlemmer, der wortmächtige | |
| Luther-Apologet und Bürgerrechtler aus Wittenberg, geschmäht und geätzt, | |
| warum man die Taufe nicht gleich in einem Whirlpool veranstalte? Urmoneit, | |
| der die Lästerei des Kollegen kennt, sagt nüchtern: „Was gut ist für den | |
| Körper, ist gut für den Geist.“ Grundsätzlich zeigt sich Urmoneit, der hier | |
| regelmäßig mehrstündige Taufworkshops für Konfirmanden und Gemeindegruppen | |
| anbietet, offen für Neues. | |
| Ja, Taufe habe auch einen Eventcharakter. War das nicht schon bei Johannes | |
| dem Täufer so? Ob er selbst Pop-up-Taufen veranstalten würde, also | |
| Spontantaufen wie die von Johannes, ohne vorherige Unterweisung? Wie die, | |
| die St. Moment an der Elbe abhält? Er überlegt. „Ich will das nicht | |
| ausschließen.“ In die Stille hinein Glockenklang. „Das 18-Uhr-Läuten“, … | |
| Urmoneit. Unter den Fußsohlen steigt langsam Dezemberkälte hoch. | |
| Ob Whirlpool, Taufbrunnen oder klassisch an Luthers Taufstein, der auch | |
| noch in der Petrikirche steht – der Andrang zu dem Sakrament, das die | |
| Zugehörigkeit zur Kirche begründet und nach Luther von Tod und Teufel | |
| erlöst und „ewige Seligkeit gibt“, hält sich in Grenzen. 143 Taufen stehen | |
| nach zehn Jahren in den Kirchenbüchern, davon 84 im Brunnen. | |
| Heiner Urmoneit ist lange genug Pfarrer in der Mitteldeutschen Kirche, die | |
| sich über Sachsen-Anhalt und Thüringen erstreckt, als dass ihn diese Zahl | |
| erschüttern würden. Die Kirche, an Fläche groß, an Mitgliedern arm, muss | |
| sich seit Generationen in einem kirchenfernen, ja kirchenfeindlichen Milieu | |
| behaupten, das die Kirchenpolitik der SED überdauert hat. Auch noch weit | |
| nach 1990 finden sich Jahre, in denen man die Taufen in der Stadt Luthers | |
| an einer Hand abzählen konnte. | |
| Auf die Touristen immerhin ist Verlass. Neben den 300.000 | |
| Reformationstouristen, die in zehn Jahren neben Luthers Geburtshaus und | |
| Sterbehaus auch in der Taufkirche aufkreuzten, wirken die 143 Taufen dann | |
| doch mickrig. Überhaupt scheint es, dass die Kirche das Gottvertrauen | |
| verloren hat. Unmittelbar nach dem Jubiläum 2017 lief die Projektstelle | |
| aus, und das Taufzentrum, eben noch ein Leuchtturm der Mitteldeutschen | |
| Kirche, wurde dem Kirchenkreis Eisleben-Sömmerda überlassen. Ausgerechnet | |
| ein schwindsüchtiger Flecken auf der Landkarte des schrumpfenden Glaubens | |
| soll die Idee retten. Zählt der Kreis derzeit noch etwa 30.000 | |
| Kirchenmitglieder, könnte sich die Zahl bis 2023 mehr als halbiert haben, | |
| prognostiziert der Kirchenkreis. Acht Planstellen fielen weg. Der Tag | |
| könnte kommen, dass selbst in St. Petri Luthers „gnadenreiches Wasser“ | |
| versiegt. | |
| Unter Urmoneit wird es noch fließen. Er kam 2018 in das Amt, seine | |
| „Kreispfarrstelle“ allerdings wurde mit weiteren Pflichten beladen. So ist | |
| Urmoneit kirchlicherseits auch noch für sämtliche Lutherstätten im Kreis | |
| zuständig und für die Konfirmanden- und Jugendarbeit. Vielleicht ist es | |
| gut, dass die Zahl der Taufen auch 2024 überschaubar bleiben dürfte. Ein | |
| Termin steht – eine Ganzkörpertaufe zur Osternacht. | |
| Und vielleicht gibt es für das Taufzentrum noch ganz andere Perspektiven. | |
| Im Dezember 2022 wurde hier erstmals eine Trauerfeier veranstaltet, erzählt | |
| Urmoneit. Jens Bullerjahn, Sozialdemokrat aus Eisleben und langjähriger | |
| Finanzminister von Sachsen-Anhalt, war mit sechzig Jahren einer schweren | |
| Krankheit erlegen. Kurz vor seinem Tod äußerte Bullerjahn, kein Mitglied | |
| der Kirche, den Wunsch, seinen Abschied in St. Petri zu feiern. So ein | |
| Kirchenbau schenkt Trost. | |
| ## Seit Generationen keine Kirchensteuer | |
| Am nächsten Morgen steht in Sichtweite des Taufzentrums, wo am Abend der | |
| Fußweg funkelte, ein Endfünfziger mit Umhängetasche und Käppi, zieht an | |
| einer Kippe und erzählt detailliert, wie aus Kupferschiefer, dem Reichtum | |
| der Region, reines Kupfer gewonnen wurde. Was am Abend hier nicht zu | |
| erkennen war, ist jetzt in voller Größe zu sehen – ein Denkmal für den | |
| Bergbau im Mansfelder Land, bestehend aus einer mannshohen Seilscheibe, wie | |
| sie Fördertürme krönten, zwei kleine Loren mit Kupferschiefer und einer | |
| Stele. 1990 war mit dem Bergbau Schluss, erzählt Herr Stock, so stellt er | |
| sich vor. Und so wurde aus ihm, dem Bergmann, ein Türsteher, ein | |
| Rekultivierer und dann ein Verlagskaufmann. | |
| Dass Luthers Eltern im Mansfelder Land ihr Glück suchten, lag einzig am | |
| Bergbau. „Arm war der Luther nicht“, fährt Stock fort und betet genauso | |
| detailliert wie die Verfahrenschemie Luthers Lebenslauf runter, bis zum | |
| Reichstag in Worms 1521. „Der Rest ist bekannt.“ Stock blickt mit | |
| grau-blauen Augen in Richtung St. Petri. Woher er das alles weiß? „Als Kind | |
| der Region sollte man das wissen“, sagt er trocken. Dann ist er wohl auch | |
| ein Kind der Kirche? Stock blickt, als hätte er sich verhört, und hebt dann | |
| an: „Mein Ururgroßvater war der Letzte, der Kirchensteuer gezahlt hat!“ Es | |
| klingt hörbar stolz. Und nun will er noch etwas loswerden. „Kennen Sie den | |
| Brief an den Weihnachtsmann von Erich Kästner?“ Was folgt, ist eine überaus | |
| betrübliche Bestandsaufnahme aus dem Jahr 1930 – die der heutigen | |
| bedrückend nahe kommt. Der alte Bergmann rezitiert alle sieben Strophen | |
| fließend und schließt: „Komm, erlös uns von der Plage / Weil ein Mensch das | |
| gar nicht kann. / Ach, das wären Feiertage! / Lieber, guter Weihnachtsmann | |
| …“ | |
| Es klingt, ganz ohne Ritualagentur und Taufzentrum, wie ein tiefes Gebet, | |
| wie ein Seufzer – wie ein echter St. Moment. | |
| 25 Dec 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Zukunft-der-Kirchen/!5949219 | |
| [2] /Lesbische-Theologin-zum-Kirchentag/!5937220 | |
| [3] /Kirchen-in-Deutschland/!5939484 | |
| [4] /Ruecktritt-der-EKD-Chefin-Kurschus/!5971209 | |
| [5] /Umfrage-zur-Kirchensteuer/!5944967 | |
| [6] /Homophobe-evangelische-Christen/!5961680 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Hunglinger | |
| Thomas Gerlach | |
| ## TAGS | |
| Evangelische Kirche | |
| Kirchensteuer | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| GNS | |
| DDR | |
| Unesco-Welterbe | |
| Evangelische Kirche | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Friedrich Schorlemmer ist gestorben: Zweiter Luther in der Lutherstadt | |
| Der ehemalige Studentenpfarrer ist am Montag mit 80 Jahren gestorben. Er | |
| war in der Friedens-, Menschenrechts- und Umweltbewegung der DDR aktiv. | |
| Herrnhuter Brüdergemeine: Mission „Welterbe“ erfüllt | |
| Die Unesco hat entschieden: Herrnhut wird Teil einer Weltkulturerbestätte. | |
| Die Organisation würdigt damit eine Freikirche, die eine solidarische Idee | |
| des Christentums vertritt. Ein Ortsbesuch. | |
| Pastorin über Rassismus: „Jesus war ein Systemkritiker“ | |
| Sarah Vecera ist evangelische Theologin. Ein Gespräch über Rassismus in der | |
| Kirche, Hagar als Vorbild und wie Jesus weiß wurde | |
| Pop-Up-Hochzeitsnacht in Berlin: In Neukölln gesegnet | |
| Bei einer Pop-up-Hochzeitsnacht in Berlin-Neukölln gibt es Gottes Segen. | |
| Eine kirchliche Heirat für die Paare ist das noch nicht. |