# taz.de -- Philip Guston in London: Wie viel Eigenes im Anderen steckt | |
> Die Tate Modern zeigt den satirischen Maler Philip Guston. Der Künstler | |
> fragte das gesellschaftliche Gewissen ab und polarisiert damit bis heute. | |
Bild: Ausstellungsansicht mit Philip Gustons „The Line“ von 1978 in der Tat… | |
Man fällt ja nicht vom Himmel. So sagte es Philip Guston in einer | |
Fernsehdokumentation über sein erstes verbrieftes Bild: „You don’t come out | |
of the sky. You have to come from somewhere!“ Nun könnte man sich nach | |
diesem Ausspruch eine unausgereifte Jugendsünde vorstellen – aber kaum jene | |
Szenerie, die der Künstler da 1930 im Alter von gerade 17 Jahren nach | |
Vorbild des italienischen Malers Giorgio de Chirico so reduziert wie | |
effektvoll auf die Leinwand brachte. | |
Es ist nicht allein der souveräne Umgang mit dem eigenen Handwerk, der | |
erstaunt, sondern auch sein früher Eigensinn von Komposition und Motivik: | |
Ein Baby mit greisem Haar nagt an seiner Mutter, und auch in umgekehrter | |
Richtung lösen sich die Körpergrenzen auf – ein Vexierbild zwischen | |
symbiotischer Liebe und Bodyhorror unter dem Licht einer ewigen, nicht | |
verortbaren Sonne. Vieles, das Gustons große Malerei einmal auszeichnen | |
wird, steckt hier schon drin, auch wenn die sich noch hunderte Male wieder | |
und wieder neu formiert. | |
Die Tate Modern in London zeigt „Philip Guston“, eine umfassende | |
Retrospektive des kanadisch-amerikanischen Künstlers aus 50 Jahren Malerei. | |
Die von Museen in den USA und im Vereinigten Königreich gemeinsam | |
kuratierte Schau [1][war um mehrere Jahre verschoben worden] – ob der | |
paternalistisch anklingenden Sorge, man könne seine Bilder dem Publikum in | |
diesen Zeiten nicht kontextlos zumuten. | |
Gemeint waren wohl Gustons Ku-Klux-Klan-artige Kapuzenwesen, die heute | |
vielen geradezu synonym mit seinem Namen sind. Kaywin Feldman, Direktorin | |
der National Gallery of Art in Washington, behauptete, Guston habe sich | |
damit als weißer Künstler Schwarzes Trauma angeeignet. Es hagelte Proteste | |
gegen die Verschiebung, Tate-Kurator Mark Godfrey schied erbost aus. | |
Kein Interesse an Identitätsfragen | |
Ausgerechnet Philip Gustons Kunst nun einer solchen Verengung zu | |
unterziehen, erscheint erst mal ungerecht. Wie viele Künstler seiner Zeit | |
schien er kein gesteigertes Interesse zu haben, sich öffentlich permanent | |
zu Identitätsfragen zu äußern. | |
Doch gehört zur Biografie, dass Philip Guston 1913 als Philip Goldstein in | |
Montréal geboren wurde. Seinen Namen legte er 1936, wie übrigens später | |
ebenso Stararchitekt Frank (ehemals Goldberg) Gehry, zugunsten der | |
anglisierten Version ab. Seine Eltern waren aus der Ukraine, wo | |
antisemitische Pogrome wüteten, nach Kanada emigriert. Bald darauf zog die | |
Familie nach Los Angeles – eine Stadt, in der zu dieser Zeit Mitglieder des | |
Ku-Klux-Klans auch öffentliche Positionen bekleideten. | |
Der Ku-Klux-Klan machte freilich nie ein Geheimnis aus seiner Abneigung | |
gegen Schwarze wie auch jüdische Menschen. Das Fortwirken dieses | |
historischen Fakts zeigte sich noch 2017 in den gleichzeitig rassistischen | |
wie antisemitischen Ausschreitungen in Charlottesville im US-Bundestaat | |
Virginia. | |
Judenfeindliche Bedrohungen | |
Die offenherzig judenfeindlichen Parolen wurden damals weder von links noch | |
von US-Präsident Trump, der sich sonst gern als großer Freund von Jüdinnen | |
und Juden inszenierte, besonders kommentiert. (Wie heute judenfeindliche | |
Bedrohungen offenbar auch aus der Berichterstattung über die Massenproteste | |
gegen den israelischen Militäreinsatz in Gaza radiert werden, die unweit | |
der Londoner Ausstellung stattfanden.) | |
Dass etliche europäische Jüdinnen und Juden im dualistischen Rassismus | |
US-amerikanischer Prägung als „weiß“ gelesen wurden und sich selbst oftma… | |
so zuordneten, änderte nicht automatisch etwas an ihrer | |
Außenseiterposition, wie Dan Nadel in seinem Text „Now You See Me“ über | |
Philip Gustons jüdische Geschichte im US-amerikanischen Kunstmagazin | |
Artforum darlegte. | |
Die Soziologin Zoé Samudzi kritisierte später, für den Jewish Current, wie | |
die sterile Neuauflage von Gustons Retrospektive in den USA gerade den | |
interessantesten Aspekt, nämlich die amerikanisch-jüdische Haltung zu | |
rassistischer Gewalt, ausklammere. Auch Gustons namentliche Neuerfindung | |
könnte ja etwas darüber erzählen, warum wer wann unsichtbar wird und wen | |
der amerikanische Universalismus überhaupt gemeint haben könnte. | |
Logiken der Malerei | |
Doch für solch komplexere Auseinandersetzung scheinen die | |
Kunstinstitutionen heute vielleicht kein besonders geeigneter Ort. | |
Stattdessen setzt man in London stärker noch als zuvor in den USA auf die | |
Kraft der Kunst. Philip Gustons Werk zeigt eben, dass die Produktion von | |
Malerei oft ganz anderen Logiken folgt als der Kulturbetrieb, der sie | |
verwaltet. | |
Die gruselig-banalen Kapuzenmänner, die Hoods, werden seine Bilder ebenso | |
immer wieder heimsuchen wie der Malerkeil; die einsame Glühbirne, womöglich | |
Reminiszenz an den Vater, der sich in einer Kammer erhängte, oder die | |
mannigfaltigen Hufeisen respektive Sohlen, die womöglich den Bildern von | |
Schuhsammlungen in Auschwitz entstammen, womöglich aber auch andere Quellen | |
haben. | |
Gustons frühe Bilder sind stets auf der Seite derer, die Leid und | |
Unterdrückung erfahren: Den Angriff auf die spanische Stadt Guernica durch | |
die Faschisten verarbeitet er in einem dramatischen Tondo. Die Lynchmorde | |
und das Gebaren der US-Rassisten ziehen sich durch sein gesamtes Werk. | |
Später sollten ihn die Bilder der befreiten Konzentrationslager heimsuchen | |
und in verschiedenen Arbeiten Einzug halten. Doch ergibt sich bei Guston | |
alles stets aus der Malerei selbst, nicht als a priori formuliertes | |
Statement. | |
Austausch mit Künstlern | |
Die italienische Renaissance übt einen großen künstlerischen Einfluss aus, | |
ebenso wie der metaphysische Maler de Chirico [2][oder die US-amerikanische | |
Comickultur]. Gemeinsam mit Freunden wie Reuben Kadish malt der politisch | |
aktive Künstler in den 1930er Jahren großformatige Wandgemälde, bevor er | |
später wieder zur Leinwand zurückkehrt. Auch als dann allein im Studio | |
stehender Künstler liebte Philip Guston den Austausch mit anderen | |
Künstlern, [3][Schriftstellern wie Philip Roth] oder dem Komponisten Morton | |
Feldman, dessen Musikstück an den Malerfreund in der Ausstellung zu hören | |
ist. | |
Formal präsentiert sich sein hier chronologisch aufbereitetes Werk als | |
permanentes Hadern mit der Abstraktion. Oder eher, ein Ankämpfen gegen den | |
eigenen Drang zur Figuration. Auch wenn er den streckenweise bemerkenswert | |
überwältigen kann – so 1951 erstmalig mit „White Painting“, auf dem der | |
Künstler mit Weiß, Beige, Grau in diversen Abstufungen eine raumgreifende, | |
spannungsvolle, schlicht perfekte Komposition schafft. Und beinahe | |
gespenstisch-körperliche Präsenz entfalten die dichten Farbwolken, die | |
Guston bald darauf über die großen Leinwände schickt. | |
So hätte er wohl erfolgreich weitermachen können, doch im Gegensatz zu | |
vielen MalerInnen seiner Generation wandte sich Guston bald wieder der | |
Figuration zu. Interessanterweise verläuft dieser Weg über eine Obsession, | |
die den Künstler mit [4][Max Beckmann] ebenso verbindet wie mit den | |
Cartoons: Es ist die Linie. In einer Zeit der Einsamkeit und Isolation | |
entstanden kleinformatige Leinwände, auf denen ganze Bildräume allein mit | |
ein, zwei schwarzen Linien kreiert werden. | |
Wenige Jahre später sind die Kapuzenmänner wieder da. Die Hoods, die schon | |
Jahrzehnte zuvor immer wieder schemenhaft gespenstisch sich ins Bild | |
geschlichen hatten, erscheinen nun so brachial-banal, wie Guston fortan | |
seine kompletten Motive ausarbeitet. Oft in der Lieblingsfarbe Pastramirot | |
bis Fleischrosa. | |
Spott und Schrecken | |
Die Abbilder der White Supremacists aus den 1930er Jahren führen längst ein | |
Eigenleben auf der Leinwand: geistern auf Kunstvernissagen herum, führen | |
diskursive Debatten über Farbe, werden zum Künstler im Atelier. Es ist | |
natürlich ein Lustigmachen, nicht zuletzt über den eigenen Betrieb, aber | |
Lachen und Spott schmälern den Schrecken nicht. Auf einem sagenhaften Bild | |
fahren die uniformierten Kapuzenleute ins Morgengrauen, Kippe in der Hand, | |
Gebeine ragen aus dem Auto; der amerikanische Horizont unendlich weit und | |
bedrückend eng zugleich. | |
In den letzten Jahren seines Schaffens erhielten der Künstler und seine | |
Frau, die Malerin und Dichterin Musa McKim, seltener Besuch in der Einöde | |
von Woodstock. Gustons Leinwände sind immer noch gewaltig, aber die Motive | |
reduzierter: Alltagsobjekte, Kapuzen, Uhren, Pinsel, Beine, | |
Zigarettenrauch, das malerische Alter Ego in Form eines Zyklopen bleiben | |
zunehmend als Vereinzelte auf der Leinwand. | |
Die Frage, wie viel Eigenes im Anderen steckt, auch und gerade im ultimativ | |
Bösen, zieht sich als roter Faden durch Gustons Werk wie die Frage, was | |
Kunst denn überhaupt zu tun vermag. Auf einem seiner letzten Bilder reckt | |
sich eine comicmäßig gestählte Malerhand aus den Wolken zur Erde und setzt | |
an, eine Linie zu zeichnen. „Only god can make a tree“, wird Philip Guston | |
in seinem lakonischen Humor zum Schluss zitiert, und macht sein | |
lebenslanges Medium, die Malerei, damit noch einmal zum fabelhaften | |
Teufelszeug, das sie in ihren besten Momenten ja sein kann. | |
18 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Katharina J. Cichosch | |
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