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# taz.de -- Digitale Süchte: Advent, Advent, nee nee, so nicht
> Unsere Autorin ist süchtig nach Online-Adventskalendern. Türchen für
> Türchen träumt sie von Luxusreisen, Kaschmirpullis oder Designerstühlen.
Bild: Ein Erdmännchem im Londoner Zoo öffnet ein Adventskalendertürchen
Alles begann mit einem [1][Lavazza-Kalender aus dem Jahr 2009] mit Fotos
von Annie Leibovitz. La dolce vita auf jedem Bild. Im Zentrum: Frauen. Gern
mal halbnackt. Das Setting: Spaghetti-essend oder im Kolosseum, Hauptsache
irgendwas mit Italien. Das wiederkehrende Accessoire: ein Lavazza-Tässchen.
Models in großer Pose stellen italienische Kultur nach, und irgendwo lauert
der Espresso. So in etwa die Aussage der Leibovitz-Fotos.
Aus einem Grund, der mir nicht mehr nachvollziehbar ist, wollte ich diesen
Kalender unbedingt haben. Was notwendig war, um ihn zu bekommen? Man sollte
ein Türchen in einem digitalen Adventskalender öffnen – und hoffen. Das hab
ich gemacht. Seither bin ich süchtig.
Online-Adventskalender gehen so: Unternehmen auf der Suche nach
Kundenbindung verlosen an jedem Tag im Advent irgendetwas. Seit diesem Jahr
macht das [2][auch die taz]. Auf einer weihnachtlichen Bildschirmoberfläche
muss ein Türchen geöffnet werden. Klickt man auf die richtige Zahl, die dem
passenden Tag im Dezember entspricht, öffnet es sich. Dahinter befinden
sich die allerschönsten Dinge aus der Konsumwelt. Online-Adventskalender
sind die christlich verbrämte Perversion des Kapitalismus. Es geht ums
Haben-wollen. Nicht um Wollust, sondern um Will-Lust. Nicht um Begehren.
Das Wort ist viel zu schön. Es geht um Gier.
## Weihnachts-Kalender-Sammel-Plattformen
Es gibt eigens Plattformen, auf denen all die Adventskalendergewinnspiele
gelistet sind. Ich [3][benutze ganz gerne eine], wo die Startseite keinen
Weihnachtsmann zeigt, sondern die Zeichnung eines Hirsches. Das wirkt auf
mich nicht so kitschig. Unter der Top-Gewinnspiel-Kategorie sind die Links
zu den digitalen Adventskalendern von Kaufland, Spiegel, Netto, BILDspielt,
Hey Piggy, Stern – um nur einige zu nennen. Ungefähr 800 digitale
Gewinnspiele sind dort schon am Anfang der Adventszeit gesammelt. Im Laufe
der 24 Tage werden es mehr.
Wenn der Advent so richtig im Gange ist, habe ich mir meine eigene
Top-Liste erstellt. Weil ich etwas auf mich halte, sind da vorwiegend
Adressen aus dem alternativen Spektrum drauf. Hess Natur, avocadostore,
Weleda und so weiter. Aber auch an faz.net komme ich nicht vorbei. Da gibt
es meist die neuesten Sachen aus der Elektronikwelt zu gewinnen – edelste
Espressomaschinen, wandfüllende Bildschirme mit einer Auflösung, die es
einem erspart, in den Urlaub zu fahren, hochwertige HiFi-Klangwelten, die
jedes Konzerthaus ersetzen.
Schwach werde ich auch bei teurem Design. Deshalb öffne ich unbedingt
Türchen bei der Vogue für Kaschmirpullover, Taschen oder Luxusurlaube in
Luxusressorts. Und beim Möbelmagazin Bolia –für Beistelltische, fancy
Lampen oder sonst irgendwas, das ich mir niemals leisten könnte. Solche
Edelfirmen haben es mir besonders angetan. Öffne ich ein Türchen und sehe
etwas, spüre ich die Sehnsucht, es zu besitzen. Ich spüre sie extrem.
Dann fülle ich das Onlineformular aus, gebe meine Adresse, mein
Geburtsdatum her, mit einer Freigiebigkeit, die sonst nicht zu mir passt.
Ich verhalte mich absolut jenseits des Verstandes, bin nahezu lobotomiert,
weil die schönen Bildchen von edlen Hockern oder Tablets oder italienischen
Schuhen mir mein Hirn vernebeln. Wie einst der Lavazza-Kalender.
Manchmal muss man eine Frage beantworten oder ein Rätsel lösen, bevor man
sich für den Gewinn eintragen darf. Faz.net ist so ein Kandidat. Ich
empfinde diese Hürden als Zumutung. Ich will sofort zum Gewinnformular.
## Reicht schon die Vorstellung?
Ich will mir für einen Augenblick vorstellen, wie es wäre, wenn ich das
neueste Apple-Gadget oder eine geistig-transzendente Rolex gewinnen, also
besitzen, würde, und weder Spielchen machen noch Fragen beantworten, etwa
danach, welcher Fifa-Vorstand wieder welche Korruption zu verantworten hat.
Denn mir vorzustellen, dass ich etwas gewinnen könnte, ist der Moment, der
mich verzaubert. Den will ich festhalten. Wie früher, als ich manchmal
Lotto spielte, nur um mir zu vergegenwärtigen, was ich mit all dem Geld tun
würde. Weil ich mich für dieses Gefühl schämte, habe ich nur selten
nachgeguckt, ob die Zahlen, die ich tippte, gezogen wurden. Wahrscheinlich
bin ich eine der Kandidatinnen, die ihr Lottoglück verfallen ließen, weil
die Vorstellung vom Reichtum schon reichte, um sie zum Träumen zu bringen.
Auch bei dieser Online-Adventskalendersache überkommt mich mitunter Scham.
Ich möchte nicht, dass mich jemand dabei beobachtet, wenn ich die
Gewinnformulare ausfülle. Zumal es zeitaufwändig ist, und meistens auch
nicht geht, wenn man nicht einwilligt, ab sofort mit Werbung zugemüllt zu
werden.
Blöde verhalte ich mich auch. Denn würde ich, anstatt zwei Dutzend Türchen
zu öffnen und das digitale Prozedere zu durchlaufen, ein Dutzend Türchen
öffnen, dabei aber nicht nur für mich, sondern auch für meine Gefährtin das
Gewinnformular ausfüllen, unsere Chance auf einen Gewinn hätte sich
verdoppelt. Warum ich es nicht mache? Wahrscheinlich, weil ich alles für
mich alleine haben will.
Bei Online-Adventskalender-Glücksspielen mitzumachen ist die sinnloseste
Beschäftigung, der ich mich je hingegeben habe – außer am Computer Solitär
zu spielen. Es ist wegen des Reizes, etwas zu besitzen, das man als schön
empfindet. Ob ich dem dieses Jahr wieder verfalle? Ich bin bereit.
Und einmal hat es ja auch geklappt: Ungefähr im März 2009 bekam ich ein
Riesenpaket. Es war der Lavazza-Kalender mit Fotos von Annie Leibovitz. Er
hat mir gar nicht gefallen. Ich habe ihn noch irgendwo. Will ihn jemand?
6 Dec 2023
## LINKS
[1] https://www.sueddeutsche.de/leben/lavazza-kalender-2009-zwoelf-monate-la-do…
[2] https://www.instagram.com/stories/highlights/18015514000951953/
[3] https://www.mein-adventskalender.de/aktuell/online-adventskalender/
## AUTOREN
Waltraud Schwab
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