# taz.de -- Verlogene Migrationsdebatte: Pöbelei und Propaganda | |
> Die Migrationsdebatte wird meist faktenfrei und voll von Ressentiments | |
> geführt. Drittstaatenlösungen, egal wie viel beschworen, funktionieren | |
> nicht. | |
Bild: Ein Polizist eskortiert illegale Migranten an der polnischen Grenze | |
Aus den Niederlanden kommt nicht nur die düstere Kunde, dass man [1][in | |
einem (einst) toleranten Land Wahlen allein auf Grundlage von Ressentiments | |
gewinnen] kann, sondern auch ein großartiges Buch, das uns helfen könnte, | |
eine solche Politik der niederen Gefühle zu bekämpfen. Das aktuelle Buch | |
von [2][Hein de Haas] – „Migration. 22 populäre Mythen und was wirklich | |
hinter ihnen steckt“ – beginnt mit einem klaren Satz: „Das Phänomen ist … | |
vielschichtig für einfaches Schwarz-Weiß-Denken.“ Auch zu wichtig, könnte | |
man hinzufügen. | |
Und trotzdem: Wir haben keine seriöse Migrationsdebatte mehr. Stattdessen | |
Pöbelei und Propaganda. Die Flüchtlinge aus Syrien kamen: Das Boot ist | |
voll. Dann kamen [3][die Flüchtlinge aus der Ukraine – das Boot ist nicht | |
mehr voll]. | |
Wie der Soziologe de Haas mit unzähligen Fakten beweist, wissen die | |
Allermeisten von uns nicht, worüber sie reden. Es hilft, sich zunächst | |
einmal die Geschichte der Migration vor Augen zu führen: „Allein zwischen | |
1846 und 1924 verließen rund 48 Millionen Europäer den Kontinent.“ Mitte | |
des 20. Jahrhunderts, nach dem Zweiten Weltkrieg, waren die | |
Flüchtlingszahlen in Europa höher als heute. Was ist also neu? Die | |
außereuropäische Herkunft der Migranten. Die Migrationsströme fließen nun | |
umgekehrt. | |
Die meisten Zuwanderer kommen auf legalem Weg. 90 Prozent der afrikanischen | |
Migranten verlassen laut de Haas den Kontinent mit gültigen | |
Einreisepapieren. Ergo sei das Hauptproblem nicht, „dass die Grenzen nicht | |
ausreichend gesichert sind, sondern dass das Zuwanderungssystem nicht | |
funktioniert und trotz der großen Nachfrage nach Arbeitskräften keine | |
geeigneten legalen Möglichkeiten bietet. Das führt zur Kriminalisierung der | |
Zuwanderung.“ | |
Denn die Nachfrage nach Arbeitskräften ist der Motor der Migration. Die | |
europäischen Politiker bedienen sich oft einer binären Opposition zwischen | |
(guten) „Flüchtlingen“ und (schlechten) „Wirtschaftsmigranten“. Diese | |
Unterscheidung ist bequem, da je nach Bedarf mehr Menschen zu bösen | |
Wirtschaftsmigranten erklärt werden können. Allerdings benötigen die | |
europäischen Volkswirtschaften dringend weitere Arbeitskräfte. Ein | |
grundlegender Widerspruch, den wir nicht ehrlich debattieren. De Haas: „Man | |
kann nicht gleichzeitig die Wirtschaft öffnen und die Zuwanderungspolitik | |
liberalisieren und dem Wunsch der Bevölkerung nach weniger Migration | |
nachkommen.“ | |
Neben Arbeitsplätzen sind Demokratie und Menschenrechte die hauptsächlichen | |
Ursachen dafür, dass Menschen in Europa Schutz suchen. Ergo macht ein Teil | |
unserer Gesellschaft folgende teuflische Rechnung auf: Egal, welche Knöpfe | |
wir drücken, es gelingt uns nicht, die Fluchtmigration nach Europa zu | |
senken. Woran liegt das? An unserer übertriebenen Humanität! An unserer | |
liberalen Verfassung! Was wäre, wenn wir das alles beiseite räumen? Wieso | |
beseitigen wir nicht gleich unsere demokratische Attraktivität? | |
Die momentan beschworenen Lösungen, etwa die Unterbringung von Flüchtlingen | |
in Drittländern, ist seit Längerem schon Praxis. Wie es funktioniert, hat | |
die Webseite [4][„openDemocracy“] neulich recherchiert. Das britische | |
Innenministerium behauptet, Flüchtlingen aus aller Welt einen „sicheren und | |
legalen Weg“ zu bieten – über ein Programm des UN-Flüchtlingshilfswerks. | |
Wie wir zukünftig mit Asylberechtigten umgehen werden, zeigt das Beispiel | |
von zwanzig irakischen Familien, die 2011 aus Irak geflohen waren. Das Haus | |
einer der Familien war vom Islamischen Staat in die Luft gesprengt worden; | |
ein Mädchen verbrannte bei dem Angriff. Andere waren als Anhänger | |
religiöser Minderheiten oder Angestellte der Regierung bedroht. | |
## Ausharren in der Warteschleife | |
Alle zwanzig Familien haben saubere Dokumente, die bislang nur einen Nutzen | |
haben – sie beweisen, dass diese Menschen seit einem Jahrzehnt auf eine | |
Neuansiedlung warten. Nach der Registrierung prüft das Flüchtlingshilfswerk | |
die Fälle, und nach einem positiven Bescheid übernimmt einer von achtzehn | |
Staaten (darunter das Vereinigte Königreich) den Antrag auf Asyl. Seit | |
Jahren nun harren diese Menschen aber in der Warteschleife in Drittstaaten | |
aus. Ein Kind ist mangels Medikamenten gestorben, ein Ehemann hat einen | |
Schlaganfall nicht überlebt. Die meisten von ihnen bedauern nun, diesem | |
Verfahren vertraut zu haben. In ihrer Verzweiflung erscheint ihnen ein | |
morsches, übervolles Boot die bessere Alternative gewesen zu sein. | |
Ein weiteres Beispiel: Obwohl in Sonntagsreden unseren Unterstützern in | |
Afghanistan mit viel Pathos dankend gedacht wurde, sind laut Spiegel erst | |
dreizehn (13!) von ihnen im Rahmen eines „Bundesaufnahmeprogramms“ nach | |
Deutschland gekommen. Dabei sollten pro Monat rund tausend Menschen legal | |
einreisen dürfen. Ob für die Diskrepanz der Zahlen Bürokratie, Schlamperei | |
oder Zynismus verantwortlich sind, spielt in diesem Zusammenhang keine | |
Rolle. Entscheidend ist, dass durch die Verlagerung der Asylprüfung ins | |
ferne Ausland das Asylrecht endgültig zur Makulatur wird. | |
## Sinnlose Kampagnen | |
Vor Jahren traf ich in der Hauptstadt von Sierra Leone eine Gruppe von | |
abgeschobenen Flüchtlingen, die teilweise hervorragend deutsch sprachen und | |
sich über Wasser hielten, indem sie in den dortigen Schulen Vorträge | |
hielten, um die Jüngeren vor einer Flucht zu warnen. Zwischen 2015 bis 2019 | |
finanzierte die EU mehr als 130 solche „Aufklärungskampagnen“. Kosten: 45 | |
Millionen Euro. Alles für die Katz! „Sie lachen uns nur aus“, sagte einer. | |
„Ihr seid Versager, sonst nichts.“ Ein Sinnbild unseres teilweise absurden | |
und fast immer verlogenen Umgangs mit Migration. | |
Wie de Haas nüchtern konstatiert: „Was als Flüchtlingskrise bezeichnet | |
wird, ist in Wirklichkeit eine politische Krise und spiegelt den mangelnden | |
Willen wider, Geflüchtete aufzunehmen und die Verantwortung mit anderen | |
Zielländern zu teilen.“ | |
7 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Regierungsbildung-in-den-Niederlanden/!5972845 | |
[2] https://en.wikipedia.org/wiki/Hein_de_Haas | |
[3] /Neue-Asyldebatte/!5958186 | |
[4] https://www.opendemocracy.net/en/ | |
## AUTOREN | |
Ilija Trojanow | |
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