# taz.de -- Reise ins polnische Torún: Bei Kopernikus und Kathrinchen | |
> Rundgang durchs polnische Torún, wo das ganze Jahr über Lebkuchen in | |
> allen Variationen verspeist wird. Sogar in Verbindung mit Entenbrust. | |
Bild: Im Lebkuchenmuseum von Toruń finden sich auch unorthodox geformte Exempl… | |
Ach, unser Fluss, seufzt Maria, und lässt ihren Blick über die Weichsel | |
schweifen, in der auf großen Sandbänken Schwärme von Saatkrähen sitzen. Wo | |
im späten Mittelalter Koggen der Hanse anlegten, um ihre Fracht zu löschen | |
oder weiter gen Ostsee oder Krakau zu transportieren, herrscht heute | |
Stille. In den letzten Jahren führten Dürren immer wieder zu Niedrigwasser, | |
2015 war die Weichsel nur noch 41 Zentimeter tief. Unsere Stadtführerin | |
deutet auf die Anzeigen alter Hochwasserstände am 1432 gebauten Brückentor. | |
Der Fluss konnte der auf einem Hügel gelegenen Stadt nie viel anhaben, aber | |
er hat sie reich gemacht. [1][Toruń], lange Grenzstadt zwischen Ost und | |
West, war einst ein europäisches Handelszentrum. Leinen, Leder, Bienenwachs | |
und Felle aus Russland und Ruthenien, Gewürze aus Indien, Kupfer aus | |
Ungarn, Tuch aus Flandern. | |
Die riesigen Speicher aus Backstein, die heute als Museen, Hotels und | |
Kulturzentren genutzt werden, zeugen davon. Verziert mit Malereien und | |
Fensterluken in Form gebundener Getreidesäcke gleicht so mancher einem | |
Palast. Seit 1997 gehört Toruńs im Krieg weitgehend unzerstörte Altstadt | |
mit ihren gotischen Kirchen und Bürgerhäusern zum Unesco-Weltkulturerbe. Im | |
Sommer voller Touristen, ist es in diesen Spätherbsttagen ruhig. | |
## Von der Burg ist nur das Klo übrig | |
Hinter uns, auf den Ruinen der alten Burg, thront einsam ein steinerner | |
Kreuzritter. 1454 vertrieben beherzte Toruńer Bürger*innen die | |
Burgherren des Deutschen Orden und zerstörten die Anlagen. Geblieben ist | |
der Abort-Turm, das einstige Ordensklo. | |
Wir machen uns auf den Weg durch die Altstadtgassen zum Dom aus dem 13. | |
Jahrhundert, in dem der berühmteste Sohn der Stadt, der Astronom Nikolai | |
Kopernikus, 1473 getauft wurde. Seine Familie zählte zu den wohlhabenden | |
Patriziern, handelte mit Kupfer. Ob Kopernikus wohl polnisch gesprochen | |
habe, frage ich. Vermutlich, meint Maria, doch die Gelehrtensprache war | |
Latein, und unter den Kaufleuten kommunizierte man in einer Art | |
Mittelhochdeutsch, auch wenn Deutsch damals kaum ein Begriff war. Seit 1853 | |
steht der Universalgelehrte lebensgroß auf dem Altmarkt vor dem | |
backsteinernen Rathaus, das mit seinem vierzig Meter hohen, viereckigen | |
Turm aus dem 13. Jahrhundert, Vorbild für das Jahrhunderte später gebaute | |
Rote Rathaus in Berlin war. | |
In der Źeglarska Ulica, der „Seglerstraße“, die vom Haupttor zum Alten | |
Markt führt, sind alte Gemerke ins Pflaster eingelassen, Logos bedeutender | |
Kaufmannsfamilien. Überhaupt sollte man in Toruń öfter nach unten schauen. | |
Wappen von Hanse- und Handelsstädten, mit denen man Kontakte pflegte, | |
darunter Rostock, Bremen und Erfurt, finden sich im Pflaster der | |
Fußgängerzone, und am Alten Markt gibt es den Toruńer „Walk of Fame“ mit | |
Namen von Celebritys, die irgendwie mit der Stadt verbunden sind. | |
Berühmter als viele dieser Menschen ist das Produkt, das die Messingplatten | |
symbolisieren: die Kathrinchen-Lebkuchen, auf Polnisch Katarzynki. Passend | |
dazu setzt mich Maria am Ende unserer Tour vor dem Lebkuchenmuseum ab. | |
Toruń ist Lebkuchenstadt, mit einer ins 13. Jahrhundert zurückreichenden | |
Tradition. Alles, was es dafür brauchte, gab es reichlich: Getreide aus den | |
Weichselebenen, Honig und die Gewürze, die über Handelsrouten in die Stadt | |
gelangten. Zimt, Koriander, Sternanis, Ingwer, Nelken und Piment sind die | |
Klassiker. | |
## Haltbarer Proviant für Handelsreisende | |
Ihren Ursprung haben die Pierniki, wie Lebkuchen hier heißen, in den | |
Klöstern, sie galten als Fastenspeise und Arznei. Im Toruńer Nonnenkloster | |
der Heiligen Katharina von Alexandria wurde traditionell am Namenstag der | |
christlichen Märtyrerin, dem 25. November, mit dem Backen des Teiges | |
begonnen, der zuvor sechs, besser zwölf Wochen, gereift haben sollte. Schon | |
bald verließen die Rezepte die Klostermauern und in ganz Toruń wurden | |
Pierniki gebacken, das ganze Jahr über. Ihrer Haltbarkeit wegen dienten sie | |
auch als Proviant für Handelsreisende. | |
Über die Form der Katarzynki – sechs Kreise, die sich zu einem bogigen | |
Rechteck zusammenfügen, ähnlich der Silhouette eines Gummibärchens – | |
kursieren Legenden. Eine, so hatte ich von Maria gehört, gehe auf Katharina | |
zurück, die in ihrem Martyrium auf mit Sägen und Nägeln besäumte Räder | |
gebunden worden sei. Weniger barbarische Versionen werden im Museum | |
erzählt, zum Beispiel die von der Tochter eines Küchlers und einem | |
Gesellen, der aus lauter Verliebtheit zu ihr zwei Herzen und zwei Ringe in | |
eine [2][Lebkuchenform] verwandelte. | |
Das Gebäude des Lebkuchenmuseums wurde 1885 als Pierniki-Fabrik am Rande | |
der Altstadt errichtet. Schon 1913 produzierte man in einer größeren | |
Fabrik, die – wie bis heute – vor den Toren der Stadt angesiedelt wurde. | |
Damals arbeiteten Hunderte in mehreren lokalen Lebkuchenunternehmen. Der | |
Zweite Weltkrieg nagte auch an den Lebkuchen, Gebäude wurden zerstört, | |
Maschinen nach Deutschland verbracht. | |
## Eine Erfolgsgeschichte aus Wendezeiten | |
Nach dem Krieg wurde neu im dann verstaatlichten Betrieb „Kopernik“ | |
begonnen. Ehemalige Mitarbeiter erinnerten sich an verschollene Rezepturen, | |
doch es mangelte oft an den teuren exotischen Zutaten. 1991 wurde das | |
Unternehmen von seinen Mitarbeitern in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, | |
viele Angestellte halten Anteile. Eine Erfolgsgeschichte aus Wendezeiten. | |
Eine polnische Freundin von mir behauptet, in ihrer sozialistischen | |
Kindheit hätten ihr die „Kopernik“-Lebkuchen besser geschmeckt, aber, so | |
räumt sie sofort ein, damals gab es eben auch nichts Vergleichbares. | |
Mandeln, Ingwer und Schokolade waren Luxus. | |
Kern des Museums sind alte Verkaufsräume, ein nachgebautes Büro und ein | |
Raum für Workshops, aus dem es mir schon morgens entgegenduftet. Der | |
eigentliche Schatz befindet sich im Untergeschoss, eine Sammlung | |
filigraner, hölzerner Lebkuchenformen aus mehreren Jahrhunderten. Zur Zunft | |
der Lebkuchenbäcker – auch Lebzeltler genannt – kam die der | |
Modellschnitzer. Der Teig war das eine, die Form das andere, und da ist man | |
erfinderisch. So wurde etwa dem polnischen Papst Johannes Paul II. einst | |
ein Piernik mit der Darstellung von Kopernikus’ heliozentrischem Weltbild | |
geschenkt. Den allergrößten Lebkuchen soll allerdings die russische Zarin | |
Katarina II. 1778 bekommen haben, 2 Meter mal 30 Zentimeter groß. | |
Nach so viel Geschichte geht es zurück in die Stadt, wo an jeder Ecke | |
Pierniki verkauft werden. Neben den Klassikern aus der | |
„Kopernik“-Produktion existieren inzwischen auch kleinere Manufakturen, wie | |
die von Iga Sarzynska, die Tradition neu interpretiert. 2016 eröffnete die | |
aus einer Bäckerfamilie stammende Unternehmerin ihren ersten wunderschön | |
gestylten Laden, dessen Kreationen kleine Kunstwerke sind. Die dunklen, | |
einfachen Spekulatius in Engelsform – der Engel ist Wappenzeichen Toruńs – | |
finde ich besonders lecker. Buchweizenhonig und Gewürze, sogar eine Spur | |
Pfeffer, geben ihnen eine süß-herbe Geschmacksnote. | |
Lebkuchen findet sich in Toruń in vielen Varianten, die Stadt ist auch | |
bekannt für ihr süßliches Lebkuchenbier, Restaurants bieten lokale Gerichte | |
mit Gebäcknote an, wie die Lebkuchensoße zur Entenbrust. Zur regionalen | |
Küche zählen auch Źurek, die traditionelle saure Brotsuppe, eingelegte | |
Pilze, Wild und natürlich Rote Bete in allerlei Versionen. | |
Am Morgen vor der Abreise schaue ich noch einmal aus den kleinen halbrunden | |
Hotelfenstern, die wie die Holzbalken den einstigen Speicher ahnen lassen, | |
über die Weichsel. Eine mögliche Herkunft ihres Namens ist übrigens | |
„sickern, langsam fließen“ und das tut sie an diesem Tag auch. Auf dem | |
üppigen Frühstücksbüffet warten Fisch in Aspik, allerlei Fleischpasteten | |
und polnische Käsesorten. Auch Süßes fehlt nicht, Buchweizenhonig, | |
Sauerkirschmarmelade – und eine Lebkuchentorte. | |
26 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Polen/!t5008485 | |
[2] /Zu-Besuch-in-einer-Lebkuchenfabrik/!5735964 | |
## AUTOREN | |
Sabine Berking | |
## TAGS | |
Reiseland Polen | |
Genuss | |
Polen | |
wochentaz | |
Feminismus | |
Reisen in Europa | |
Reiseland Frankreich | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Linker Feminismus: Wem gehören die Küchen? | |
Bei der MarxFem-Konferenz in Warschau diskutierten Teilnehmerinnen über | |
Feminismus und dessen materielle Basis. Wie arbeiten wir und wie sorgen | |
wir? | |
Osteuropa mit dem Rad: Die Rad-Nomadin | |
2.000 Kilometer auf dem Donauradweg. Allein und mit eigenem Rhythmus durch | |
eine postsozialistische Landschaft. | |
Genuss in Frankreich: Schlemmertour durch das Burgund | |
Die ostfranzösische Stadt Dijon ist die burgundische Schlemmermetropole. | |
2022 eröffnete hier die Cité Internationale de la Gastronomie et du Vin. |