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# taz.de -- Nachruf auf Historiker John Röhl: Der Standhafte
> Nachruf auf den großen Historiker John Röhl, der als einer der Ersten die
> wilhelminische Gesellschaft kritisch erforschte.
Bild: John Röhl (1938–2023)
In dem Film „Bridge of Spies“ erzählt der Spion Rudolf Abel eine Geschichte
aus seiner Kindheit. Ein Freund wurde von marodierenden Soldaten schwer
misshandelt: „Sie schlugen ihn, aber er stand jedes Mal wieder auf. Sie
schlugen ihn immer härter, ohne Erfolg. Irgendwann gaben sie es auf und
ließen ihn am Leben. Sie nannten ihn Stoikiy muzhik. Der standhafte Mann.“
John Röhl mochte diese Filmszene, vielleicht weil er mit dem resilienten
Mann viel gemeinsam hatte. Schon als Kind lernte er Gewalt kennen. Seine
Eltern arbeiteten 1944 in Südungarn. Als Sechsjähriger musste er erleben,
wie seine englische Mutter von der Gestapo verhört und sein deutscher Vater
von der SS verschleppt wurde. Nach einer langen Odyssee landete John in
einem Schweizer Kinderheim und konnte erst 1946 zu seiner Mutter nach
England ausreisen. Am 17. November ist Röhl im Alter von 85 Jahren in
Sussex gestorben.
Nach dem Krieg war es nicht einfach, als Kind einer britischen Mutter und
eines deutschen Vaters aufzuwachsen. Nach der Scheidung der Eltern musste
Röhl zwischen den beiden Ländern pendeln. In Manchester lebte er in der
bohemienhaften Familie der Mutter, in Deutschland in einer alles
verdrängenden deutschen Nachkriegsgesellschaft. Es überrascht daher nicht,
dass er anfing, sich für die Wurzeln des deutsch-britischen Antagonismus zu
interessieren. Kein Historiker hat uns diesen Gegensatz seitdem besser
erklären können als er. Es wurde sein Lebensthema, aber der Weg dorthin war
alles andere als leicht.
## Schwierige Wege gehen
In Großbritannien musste er zuerst seinen Militärdienst als Mechaniker
absolvieren. Obwohl er auf keine elitäre Privatschule gegangen war, konnte
er sich 1958 ein Stipendium für das Corpus Christi College in Cambridge
erkämpfen. Hier brillierte er.
Sein Doktorvater wurde Sir Harry Hinsley, der im Zweiten Weltkrieg an der
Auffindung der Enigma-Maschine beteiligt war. Hinsley erkannte Röhls großes
Potenzial und seine Bereitschaft, schwierige Wege zu gehen. Schon als
junger Doktorand fand Röhl Hintertüren in streng bewachte Gebäude. Für sein
erstes Buch über die wilhelminische Gesellschaft arbeitete er in
ostdeutschen Archiven, später in unzähligen Privatarchiven des deutschen
Hochadels.
1964 wurde er Dozent an der Universität Sussex und später dort zum
Professor für europäische Geschichte ernannt. Er hätte einen Lehrstuhl in
Oxford oder Cambridge verdient, aber die große Originalität seiner Arbeiten
wurde von der British Academy nicht mit einem FBA anerkannt. In Deutschland
und Amerika erhielt er hingegen mehrere große Ehrungen. Sie waren
überfällig, denn seine Archivfunde veränderten unseren Blick auf die
wilhelminische Gesellschaft grundlegend.
## Die große Schuld Kaiser Wilhelms II.
In den Theorien der internationalen Beziehungen gibt es bis heute zwei
Gruppen, die darüber streiten, ob staatliche Akteure (Kaiser, Kanzler,
Diktatoren) oder das internationale System Ereignisse bedingen.
Während der Oxfordhistoriker A. J. P. Taylor in den 1960er Jahren, in stark
generalisierender Weise, das europäische System für den Ausbruch des Ersten
Weltkriegs verantwortlich machte, zeigte Röhl mit einer Wucht an
Quellenbelegen die große Schuld der preußischen Führung, allen voran Kaiser
Wilhelms II.
Röhl geriet damit später auch in Opposition zu Christopher Clark. Clark
griff in seinem Buch über den Ersten Weltkrieg noch einmal Taylors alte
1960er-Jahre-These auf und verteidigte darüber hinaus in einer Biografie
den Charakter Wilhelms II. Der letzte deutsche Kaiser wäre, wie später auch
sein Sohn, der Kronprinz, ein schwacher, relativ einflussloser Mann
gewesen. Dieser Skizze steht John Röhls dreibändige, quellengesättigte
Biografie über Wilhelm II. gegenüber, die einen völlig anderen Mann zeigt.
## Antisemitismus des Kaisers
Röhls Forschungen gewannen auch in der [1][Hohenzollerndebatte 2019] noch
einmal an Relevanz. In Band drei seiner Wilhelm-Biografie zeigt er [2][die
emsige Annäherung mehrere Mitglieder der Hohenzollernfamilie] an die
Nationalsozialisten. Röhls Archivfunde [3][belegten auch den
antisemitischen Verschwörungswahnsinn des Kaisers], der in den 1920er
Jahren bereits darüber fantasierte, Juden vergasen zu lassen.
Röhl hatte Material für einen weiteren, vierten Band, und es ist zu hoffen,
dass der C. H. Beck Verlag in München ihn postum publizieren wird. Johns
Großzügigkeit gegenüber seinen vielen Studenten war legendär. Obwohl schon
schwer krebskrank, half er Kollegen, die sich mit den Unterlassungsklagen
der Hohenzollern herumschlagen mussten. Nebenher versuchte er auch noch
einer nigerianischen Krankenschwester eine Aufenthaltsgenehmigung für
Großbritannien zu erkämpfen. Als echter Stoikiy muzhik blieb er bei alldem
immer gelassen und witzig.
In „Bridge of Spies“ gibt es noch ein Zitat, das zu ihm passt. Tom Hanks
fragt seinen Klienten Abel, ob er keine Angst vor dem Tod habe. Und Abel
antwortet trocken: „Würde es helfen?“
21 Nov 2023
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## AUTOREN
Karina Urbach
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