# taz.de -- Autor über die Welt als Familie: „Alle Menschen haben Eltern“ | |
> Der britische Journalist Simon Sebag Montefiore hat eine Weltgeschichte | |
> als Familiengeschichte geschrieben. Im Gespräch erzählt er, wie er darauf | |
> kam. | |
Bild: Harun al Raschid empfängt fränkische Gesandte. Gemälde von Julius Köc… | |
taz: Herr Montefiore, Sie sind Bestsellerautor und bekannt für Ihre | |
historischen Bücher zur russischen Geschichte. War Ihre Motivation, jetzt | |
eine Globalgeschichte mit dem Titel „Die Welt“ zu schreiben, die eines | |
staunenden Kindes oder die eines Diktators, der die Welt beherrschen will? | |
Nette Idee. Aber nichts davon trifft zu. Ich wollte die Geschichte der Welt | |
so erzählen, dass man nichts über sie wissen muss, um sie zu verstehen. | |
Dass man nicht von fremden Namen und entfernten Orten eingeschüchtert ist. | |
Ihr Buch hat im Deutschen 1.500 Seiten. Sie sind zuversichtlich, dass sich | |
Leser*innen davon nicht einschüchtern lassen? | |
Es ist in der Tat ein Türstopper. Aber übertreiben wir es nicht. Mein Buch | |
ist auch nicht dicker als insgesamt zwei Biografien. Noch dazu so | |
geschrieben, dass man versteht, wie all die verschiedenen Orte und Personen | |
auf der Welt zusammengehören. Mit einem Wort: leicht konsumierbar. | |
Leicht konsumierbar steht in Deutschland immer sofort unter Verdacht. | |
[1][Auch Ihre Biografie „Der junge Stalin“ brachte deutsche Historiker und | |
Kritiker zum Naserümpfen.] Statt historischer Analyse würde es menscheln. | |
Ja, aber dieses Naserümpfen ist keine deutsche Spezifität. Und trotzdem | |
großer Quatsch. Selbstverständlich habe ich den Ehrgeiz, so nah wie möglich | |
an die Wahrheit heranzukommen und das auf Grundlage des neuesten | |
wissenschaftlichen Forschungsstands. Aber genauso ehrgeizig bin ich darin, | |
das Ganze so schön wie ich kann aufzuschreiben. | |
Sie haben aber auch ganz schön prominente Leser*innen. Wladimir Putin soll | |
von Ihrem 2014 erschienenen Buch über die [2][Zarendynastie „Die Romanows“] | |
geradezu begeistert gewesen sein. | |
Ja, seine Mitarbeiter erzählten mir, dass er erst über die Lektüre | |
verstanden hätte, auf welche Weise die Romanows die Ukraine und die Krim | |
annektiert hatten. Zum Dank machte er mir das Angebot, in den | |
Stalin-Archiven recherchieren zu können. | |
Der Schriftsteller Stefan Zweig hat die beste Biografie über Maria Stuart | |
geschrieben. Wie weit weg ist Ihr Sachbuch von einem Roman über die Welt? | |
Absolut weit weg. Mein Buch ist zwar schön geschrieben, wenn auch | |
vielleicht nicht so schön wie das von Stefan Zweig. aber es gibt hier keine | |
Formulierung von der Sorte: Ihr Herz klopfte, als sie zum Ball ging. Es sei | |
denn, ich habe dafür eine Quelle gefunden, einen Brief, einen | |
Tagebucheintrag, einen Zeugen. | |
Sie haben nichts erfunden, aber vielleicht was gefunden? | |
Klar. Aber nicht im archäologischen Sinne. Aber bei einigen Dingen habe ich | |
eine neue Sichtweise, einen neuen Gedanken zu den schon bestehenden | |
hinzugefügt. | |
Warum haben Sie sich dafür entschieden, eine „Familiengeschichte der | |
Menschheit“ zu schreiben? | |
Die Idee, die Geschichte der Welt anhand des Meers oder der Seidenstraße zu | |
erzählen, gab es schon. Mein Buch kombiniert die Spanne der Weltgeschichte | |
mit der Intimität der Biografie. Alle Menschen auf allen Kontinenten, in | |
allen Zeiten, aller Herkünfte und aller Religionen haben Eltern. Natürlich | |
ist Familie ein Konstrukt, eine gesellschaftliche Erfindung. Aber ob es nun | |
zwei Väter gibt oder nur einen Samenspender, von zwei Menschen stammt man | |
immer ab. Jeder ist also Teil einer Familie. | |
Womit Sie nicht nur die Kleinfamilie meinen. | |
Nein. Familie kann repräsentiert [3][werden durch Clans, Stämme, Staaten], | |
Reiche, Religionen, Ideen und Ideologien. Familien repräsentieren immer | |
das, was gesellschaftlich grade so los ist: Geschlechterverhältnisse, | |
Ökonomie und Arbeit. Sie können auch ein Finanzunternehmen repräsentieren | |
wie in Deutschland [4][die Industriefamilie der Krupps.] Bis heute sind | |
viele deutsche Firmen in Familienhänden, was auch eine politische Bedeutung | |
hat. Familie nutze ich als Werkzeug, um die großen Entwicklungen zu | |
erzählen, seien sie technologisch, kulturell, medizinisch oder was | |
Migration betrifft. | |
Was war die schlimmste Familie, der Sie begegnet sind? | |
Umso schlimmer sie sind, umso mehr Spaß macht es, über sie zu schreiben: | |
Königsfamilien, die Napoleons, Händler wie die Medici oder moderne | |
Diktatoren, wie die Erbschaftsdiktatur der Assads. Die Kims in Nordkorea | |
aber stechen heraus: Sie besitzen Nuklearwaffen. Keine Familie war je so | |
mächtig. | |
In welcher Familie würden Sie gern leben wollen? | |
Am Hofe des Kalifen Harun al Raschid im 9. Jahrhundert in Bagdad. | |
Warum? | |
Lesen Sie das Kapitel. Aber seien Sie darauf vorbereitet, schockiert zu | |
werden. Von der kosmopolitischen Kultur, der sexuellen Libertinage, der | |
Literatur, dem enormen Wissen über Kunst, Mathematik, Philosophie, den | |
schönen Tanzmädchen, dem schwulen Sex und vielem mehr, was alles zeigt, | |
warum Bagdad damals das Zentrum der Welt war. | |
Warum haben Sie mit der sumerischen Prinzessin En-hedu-anna, die im 23. | |
Jahrhundert vor Christus lebte, das Buch begonnen? | |
Das ist doch offenkundig: Sie war die erste weibliche Dichterin, von der | |
wir wissen, weil sie die erste weibliche Autorin ist, die publiziert wurde. | |
Sie war außerdem die erste Metoo-Aktivistin, da sie beschrieb, wie sie | |
Opfer sexueller Gewalt wurde. Sie war die erste Prinzessin, von der wir | |
überhaupt wissen. Als ich von ihr las, war mir schnell klar, dass in dieser | |
Figur alles zusammenkam, was ich mit diesem Buch vorhatte. Ich wollte | |
globaler, diverser und geschlechtergerechter sein als die | |
Weltgeschichtshistoriker, die wir als Kinder gelesen haben. | |
Das Problem ist, dass ich nach dem ersten Kapitel über En-hedu-anna gern | |
mehr über sie gelesen hätte statt gleich etwas zur Mutter von Cheops, dem | |
Erbauer des größten Bauwerks aller Zeiten. | |
Ich auch. Aber alles, was wir über En-hedu-anna wissen, steht in meinem | |
Buch. Für eine eigene Biografie über sie reichen unsere Informationen | |
leider nicht. | |
In TV-Serien heißt es zu Beginn immer: „Was bisher geschah“. Wäre auch ein | |
guter Titel für Ihr Buch: Dort wird in der Zusammenfassung jeweils erzählt, | |
was wichtig ist für die kommende Episode. Wie haben Sie ausgewählt, was | |
wichtig ist? | |
Es war ein Drahtseilakt. Und ich bin froh, dass ich so was nie wieder tun | |
muss. Manchmal wachte ich schweißgebadet auf, weil ich im Traum dachte, | |
dass ich vergessen hatte, Jesus zu erwähnen. Natürlich gibt es Dinge und | |
Personen, an denen kommt keine Weltgeschichte vorbei: die Dampfmaschine | |
oder Kleopatra. Europäische Geschichte kann man nicht ohne die Familie der | |
Habsburger schrieben. Da ich Spezialist für russische Geschichte bin, | |
mussten auch die Romanows rein. Aber beispielsweise habe ich Kambodscha als | |
Land ausgewählt, bei dem ich tiefer in die Geschichte eingestiegen bin, | |
weil ich da war und nicht weil Thailand nicht interessanter gewesen wäre. | |
Was Afrika betrifft, musste ich mich für Königreiche entscheiden. | |
Und was Deutschland betrifft gegen Hitler. | |
Ganz ohne Bismarck und Hitler geht es nicht. Ich entschied mich aber dafür, | |
die Hindenburg-Familie zentraler zu beleuchten. Paul Ludwig Hans Anton von | |
Beneckendorff und von Hindenburg, Generalfeldmarschall im Ersten Weltkrieg | |
und Reichspräsident bis 1934, war verantwortlich für die Fehler, die zur | |
NS-Diktatur führten. Er hat Hitler als Reichskanzler eingesetzt, ist aber | |
in der Geschichtsschreibung eine vergleichsweise vernachlässigte Figur. | |
Aber ein Familienmensch? | |
Ja, ein typisch deutscher Junker, dessen Sohn, als er selbst alt wurde, für | |
ihn die Verhandlungen führte und die Geschäfte leitete. | |
Ist Geschichtsschreiber ein desillusionierender Job, weil alles schon da | |
war und nichts besser wird? | |
Nein. Menschliche Geschichte verläuft nicht linear. Jede Ära nimmt Dinge | |
der Vergangenheit auf, verarbeitet sie und fügt neue hinzu. Der Fortschritt | |
der Geschichte ist also nicht zwingend ein Fortschritt für die Menschheit. | |
Die Sklaverei abzuschaffen war sicher ein Fortschritt. Sie nennen die | |
Sklaven in Ihrem Buch eine Anti-Familien-Institution. Warum? | |
Sklave sein heißt ja von seiner Familie entfernt zu werden. Die Familien | |
der Sklaven wurden entzweit, ihre Namen geändert, ihre Religion, sie wurden | |
in andere Länder verschleppt. Man gab ihnen ein komplett neues Leben, sie | |
wurden Teil einer neuen Familie und gründeten neue Familien mit Leuten aus | |
allen möglichen Ländern Afrikas. Auch die Geschichte der Sklaven zeigt das | |
ganze Drama des menschlichen Lebens. | |
Wie in einem Drama haben Sie Ihr Buch nicht in Kapitel, sondern in „Akte“ | |
unterteilt. Blöderweise hat aber jedes Drama auch ein Ende. | |
Die Welt wird eines Tages an ihr Ende kommen – so viel ist klar. Wir können | |
nur hoffen, dass noch viele Akte auf uns warten. | |
Ihr Buch ist also unvollendet? | |
Sicher. Ich wollte keinesfalls Gefahr laufen, ins Journalistische | |
abzudriften. Journalismus muss ja immer urteilen und diese Urteile stellen | |
sich oft genug als komplett falsch heraus. Deswegen hab ich das Buch auch | |
beendet mit dem Tag, an dem der Ukrainekrieg begann. | |
21 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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