# taz.de -- Stalin privat: "Er liebte das Spiel mit Mysterien" | |
> War Stalin letztlich nicht viel mehr als ein Bankräuber? Der britische | |
> Autor Simon Sebag Montefiore hat Stalins Privatleben erforscht und dabei | |
> eine lebenslange "Haltung der Konspiration" entdeckt. | |
Bild: Portrait des Diktator als junger Mann | |
taz: Herr Montefiore, Sie schildern zu Beginn Ihres Buches die | |
immerwährenden Prügel, die Stalins Eltern ihrem Sohn verabreichten. Welche | |
Bedeutung für die Persönlichkeit Stalins messen Sie dem bei? | |
Simon Sebag Montefiore: Häusliche Gewalt als erklärenden psychologischen | |
Faktor einzuführen scheint etwas billig. Wie viele Menschen wurden als Kind | |
geprügelt oder hatten einen Vater als Alkoholiker, ohne später zu Tyrannen | |
und Mördern zu werden? Solche Erklärungen sind ähnlich gestrickt wie die | |
These, wir hätten es bei Stalin (oder bei Hitler) schlicht mit Verrückten | |
zu tun. Beide waren sehr effektive Politiker, die das Leben von Millionen | |
Menschen zerstört haben. Sie sind verantwortlich. Man kann sie nicht durch | |
den Hinweis auf Wahnsinn entlasten. | |
Welche Bedeutung haben die Gewalterfahrungen, die der junge Stalin als | |
Bandit in Georgien machte? | |
Die "Kultur der Gewalt" ist ein wichtiger Erklärungsfaktor. Die Gegend, in | |
der Stalin aufwuchs, war durchtränkt von körperlicher Gewalttätigkeit, von | |
der Allgegenwart unterschiedlicher Formen von Terror. Ich würde allerdings | |
nicht speziell von einer georgischen, sondern von einer kaukasischen Kultur | |
der Gewalttätigkeit sprechen. Nicht nur deklassierte Gangster bedienten | |
sich gewaltsamer Mittel wie der Erpressung, des Raubes, der Banküberfälle | |
und der Entführung, sondern ebenso Angehörige der Oberschicht: der Typus | |
des Aristokraten als Outlaw. Man übertreibt in diesem Zusammenhang oft die | |
Rolle von Juden in den Reihen der Bolschewiki. Die Zahl und Bedeutung | |
kaukasischer Revolutionäre war hingegen sehr groß - das wäre ein wirklich | |
interessanter Untersuchungsgegenstand. | |
Warum hat Lenin, ein Mensch mit intellektuellem Hintergrund und | |
bürgerlicher Sozialisation, sich so willig auf Stalin eingelassen und das | |
bei Banküberfällen "sozialisierte" Geld akzeptiert? | |
Nun, zum einen gibt es auch die russische Erfahrung der Gewalttätigkeit, | |
den Nihilismus, Anarchismus, den "revolutionären Katechismus", der sich der | |
revolutionären Gewalt verschrieben hatte. Aber wichtig ist vor allem, dass | |
Lenin gewinnen wollte. Sein Konzept der Avantgardepartei, das er seit | |
Beginn des 20. Jahrhunderts verfolgte, stand und fiel mit der Arbeit von | |
Berufsrevolutionären. Das war der wichtige Unterschied zu den Menschewiki. | |
Die Avantgardepartei verlangte nicht nur Disziplin und | |
Aufopferungsbereitschaft, sondern auch Geld, viel Geld. Für die Beschaffung | |
bot der Kaukasus eine ausgebildete Infrastruktur. | |
Gibt es eine direkte Verbindung zwischen Stalin, dem jugendlichen Banditen | |
und Schutzgelderpresser, und dem Stalin des Massenterrors? | |
Sicher. Stalin liebte auch später die Arbeitsmethoden seiner Jugend, | |
geheime Operationen, Überfälle, die Liquidierung von Spionen und | |
Abtrünnigen. Aber er war stets und zuerst Politiker. Der Terror war für ihn | |
Mittel, nie verwandte er Gangstermethoden außerhalb politischer | |
Zielsetzungen. Daran hat sich nie etwas geändert. Als Beispiel zum | |
Verhältnis von Politik und Kriminalität aus der jüngeren Vergangenheit | |
könnte man die IRA heranziehen, die sich sowohl krimineller Mittel bediente | |
als auch - in Ulster - Kontakte zu Gangstern unterhielt, ohne jedoch jemals | |
das "Primat der Politik" aus den Augen zu verlieren. Es gab in der | |
bolschewistischen Partei und ihrem Sympathisantenkreis Leute, die nur und | |
ausschließlich auf Terrorismus spezialisiert waren. Stalin konnte beides - | |
Artikel schreiben und Terror ausüben. Sicher war, was er schrieb, viel | |
unbedeutender als Lenins intellektuelle Produktion. Aber Lenin wäre nie | |
imstande gewesen, beispielsweise ein Attentat zu organisieren. Stalin, der | |
Allrounder, war und blieb Berufsrevolutionär, auch als nach der Niederlage | |
der Revolution von 1905 sich viele Bolschewiki zurückzogen und einen | |
"normalen" Beruf auszuüben begannen. | |
Sehen Sie bei ihrer Arbeit über den jungen Stalin nicht die Gefahr, vom | |
Ergebnis her, also mit der Kenntnis des späteren Stalin zu schreiben und so | |
die Taten des jungen Stalin nur als Indiz für die Taten des späteren Stalin | |
zu nehmen? | |
Ich schreibe nicht "von rückwärts her", aber die Erfahrung Stalins mit dem | |
zaristischen Russland ist einfach nachweisbar prägend für sein späteres | |
Verhalten. In seiner Jugend hatte er beispielsweise zahlreiche Erfahrungen | |
mit der Infiltration der kaukasischen Bolschewiki durch die zaristische | |
Geheimpolizei Ochrana, wie er auch in der Ochrana sympathisierende | |
Informanten unterhielt. Schließlich war der Chef der bolschewistischen | |
Fraktion in der zaristischen Reichsduma, Malinowski, ein Agent der Ochrana | |
gewesen. Der gesamte Erfahrungskomplex mit der Geheimpolizei blieb für das | |
Denken des späteren Stalin konstitutiv, wie sich in seinen Anweisungen für | |
die "Moskauer Prozesse" zeigt. Die angeklagten, alten Bolschewiki wurden | |
allesamt als ausländische Spione verurteilt. | |
Wie dachte Stalin später über seine revolutionäre Jugend? | |
Er redete und schrieb sehr wenig darüber, unterdrückte auch historische | |
Arbeiten hierzu. Außerdem liebte er das Spiel mit Mysterien. So ließ er im | |
Unklaren, wer wirklich sein leiblicher Vater war - es gab drei Kandidaten. | |
Eigentlich wollte Stalin nicht nur der Schöpfer seiner eigenen | |
Ursprungslegende, sondern der Schöpfer seiner selbst sein. | |
Sie kritisieren in ihrer Arbeit Leo Trotzki als Stalin-Biografen und werfen | |
ihm vor, Stalin als mediokre Existenz porträtiert zu haben, als geistlosen, | |
machtgierigen Bürokraten. Worauf stützen Sie diese Kritik? | |
Tatsächlich hat sich Trotzkis Charakterisierung Stalins als äußerst | |
wirkmächtig erwiesen. Trotzki selbst war ein brillanter Analytiker, was | |
sich vor allem in seinen journalistischen Arbeiten erwies. Aber die alten | |
Bolschewiki - mit Ausnahme Lenins selbst und Nikolai Bucharins -, standen | |
sie wirklich intellektuell so turmhoch über Stalin? Zu Stalin wurde, seit | |
er zum Alleinherrscher aufgestiegen war, auch von seriösen Historikern sehr | |
viel Unsinn verzapft. Zum Beispiel die Geschichte von seiner Tätigkeit als | |
Agent der Ochrana. Auch Trotzki hat diese Geschichte niemals geglaubt. Ihm | |
kam es darauf an, Stalin bei der Oktoberrevolution und im Bürgerkrieg jedes | |
Verdienst abzusprechen. Aber auch das entsprach nicht der Wahrheit. Trotzki | |
und Stalin waren die beiden, auf die sich Lenin im Oktober stützen konnte. | |
In ihren Vorlieben für radikale Lösungen waren sie sich sehr ähnlich. | |
In ihrem Buch erfährt man sehr wenig über das, was der junge Stalin gedacht | |
und geschrieben hat. Da ihre Geschichte bis 1917 geht, wäre es angemessen | |
gewesen, wenigstens Stalins Haltung zur nationalen Frage, zu seinem | |
Spezialgebiet, zu behandeln. Wie rechtfertigen Sie diese Auslassung? | |
Ich entschuldige mich nicht dafür. Stalins Haltung zur nationalen Frage | |
handele ich in einer Fußnote ab. Der Grund hierfür ist, dass in der | |
Alltagspraxis Stalins, wie bei den meisten Bolschewiki, theoretische Fragen | |
einen erstaunlich geringen Raum einnahmen. Organisationsfragen, Fragen der | |
Tagespolitik der Bolschewiki standen absolut im Vordergrund. Über Stalin, | |
den Theoretiker, wurde schon sehr viel veröffentlicht, ich hätte dem wenig | |
hinzuzufügen gehabt. Ich habe für "Der junge Stalin" sehr detaillierte und | |
umfangreiche Quellenstudien betrieben, möchte aber, dass mein Buch nicht | |
nur von Spezialisten gelesen wird. Ein gelehrtes, aber langweiliges Buch | |
kann schließlich jeder schreiben. Was ich hier sage, ist vulgär, aber ich | |
schäme mich nicht dafür. | |
Was ist das Neue, das Sie bei Ihrer Forschung herausbekommen haben? | |
Letztlich geht es um die Konspiration als Haltung und als Praxis, etwas, | |
was nicht nur Stalin, sondern die Bolschewiki prägte. Eine Mentalität, die | |
sie auch nicht ablegten, als aus der Sowjetunion ein Imperium geworden war. | |
Also das Denken in Verschwörungen, geheimen Absichten, Komplotten. | |
Gab es je eine historische Alternative? | |
Ich glaube, wenn es nicht den Bürgerkrieg nach dem Oktober mit seiner | |
extremen Grausamkeit auf allen Seiten gegeben hätte, wenn nicht die Gewalt | |
als Herrschaftsform so stark mit den Bolschewiki verwachsen gewesen wäre, | |
wäre ein anderer Weg möglich gewesen. Beispielsweise durch Einbeziehung | |
anderer linker Kräfte. Dass diese Alternative nicht möglich war, lag auch | |
an der Intervention der westlichen Mächte im Bürgerkrieg aufseiten der | |
Weißgardisten. Nach dem Sieg im Bürgerkrieg war die alleinige Herrschaft | |
der Bolschewiki besiegelt. Sie waren und blieben im Bunker. Dafür bietet | |
das Leben des jungen Stalin einen Erklärungshintergrund. | |
INTERVIEW: CHRISTIAN SEMLER UND STEFAN REINECKE | |
3 Dec 2007 | |
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Weltgeschichte | |
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