| # taz.de -- Neuer „Tatort“ aus Stuttgart: Ungelebtes Leben | |
| > Zwei großartige Mimen in einer dichten Geschichte: „Vergebung“ ist ein | |
| > „Tatort“ wie man ihn lang nicht gesehen hat – und zeugt von | |
| > Schwäbischheit. | |
| Bild: Ein Ereignis: Jürgen Hartmann als Daniel Vogt im Tatort „ Vergebung“ | |
| Der gediegenste Polizeinebendarsteller im deutschen Fernsehen, Uwe Preuss, | |
| [1][hat in der taz mal vom „Drahtseilakt“ gesprochen], den die tragende | |
| Rolle selbst in einem TV-Krimi bedeute. Wenn man so einen 90-Minüter | |
| versemmle, dann müsse man lange warten, bis Gras über die Sache gewachsen | |
| sei und man wieder zum Zug käme, „sonst sagen die Leute: Ach, der ist das, | |
| den guck ich mir gar nicht erst an.“ | |
| Jürgen Hartmann spielt seit 15 Jahren den Rechtsmediziner Dr. Daniel Vogt | |
| im Stuttgarter Tatort und war damit auf der sicheren Seite. Nun, in der | |
| Folge „Vergebung“, steht seine Figur im Mittelpunkt, [2][zurückgehend auf | |
| eine Plotidee von Hartmann selbst]; und man darf sagen: Das Risiko hat sich | |
| gelohnt. Jürgen Hartmann ist in diesem Tatort ein Ereignis, insbesondere im | |
| Wechselspiel mit Dr. Vogts tragischer Jugendliebe Sandra Döbele (Ulrike C. | |
| Tscharre). | |
| Die beiden ziehen ein schmerzhaftes Spiel des über Jahrzehnte | |
| Unausgesprochenen und Ungelebten auf, das sich tief in die Mimik gebrannt | |
| hat; und das Ganze ist dabei von so | |
| zurückhaltend-extrem-bornierter-gieriger Schwäbischheit wie vielleicht | |
| sonst nur ein Auftritt von Winfried Kretschmann bei einer Pressekonferenz, | |
| wenn er sich mal wieder über seine Grünen aufregt. Regionalität kommt eben | |
| nicht von Hubschrauberflügen über blühende Landschaften, Regionalität kommt | |
| von innen, aus den Menschen. | |
| Die Geschichte ist, dass Dr. Vogt eine Leiche auf den Tisch gestemmt | |
| bekommt, die er kennt. Ein Jugendfreund ist aus dem Wasser gezogen worden, | |
| ertrunken ja, aber es gibt Zweifel bei der Fremdeinwirkung, der Mann war | |
| sterbenskrank, nahm das [3][Teufelszeug Fentanyl] und hat Alkohol im Blut. | |
| ## Metaphysischer Strudel | |
| Seine Frau Sandra kommt zur Identifizierung vorbei und lädt Daniel ein, | |
| doch mal zum Kaffee bei ihr im Dorf vorbeizuschauen, wo alle aufgewachsen | |
| sind, nach 30 Jahren Nichtkontakt. Dass zwischen den beiden mehr läuft, | |
| dass nicht schon hier die Kommissare Lannert und Bootz die Reißleine ziehen | |
| und Vogt von dem Fall entbinden, dass sich die Story also sozusagen dumm | |
| stellt, um den Spannungsbogen in die Länge zu ziehen, ist einerseits | |
| handwerklich schlecht und bleibt kein einzelner Ausrutscher. | |
| Später nämlich wird Vogt zum Urort des Geschehens, einem verwunschenen | |
| Badesteg zurückkehren, auf dessen Bedeutung gleichzeitig und unabhängig von | |
| ihm auch die Kommissare gestoßen sind. Vogt versteckt sich, wird von Bootz | |
| aber auf dem Handy angerufen und schafft es, von diesem nicht gehört zu | |
| werden, obwohl die Entfernung nur ein paar Meter beträgt – auch das | |
| definitiv unglaubwürdig, wie dann manche Gespräche zur | |
| Zwischenergebniszusammenfassung in Lannerts Porsche dramaturgisch schwach | |
| sind und nach Redakteurseinmischung klingen („Der normale Zuschauer kommt | |
| sonst nicht mit.“). | |
| Macht aber alles nichts. Denn „Vergebung“, dieses melodramatische | |
| TV-Märchen, entwickelt einen metaphysischen Strudel, der pseudorealistische | |
| Bedürfnisse und Sehgewohnheiten schnell und porentief wegsaugt. Das hat das | |
| Drehbuchteam Katharina Adler und Rudi Gaul, der auch Regie führt, | |
| verstanden. Herausgekommen ist ein Film, der in seiner Thematik vollkommen | |
| zeitgenössisch ist, der aber ganz auf die existenziellen Schlüsselbegriffe | |
| Scham und Begierde baut und dafür Menschen und Tableaus findet, die einen | |
| lange Zeit nicht mehr loslassen. | |
| 19 Nov 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ambros Waibel | |
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