# taz.de -- Erkenntnisse beim Bergwandern: Wider den inneren Stillstand | |
> Unser Autor liebt es zu wandern. Dabei erreicht er viel mehr als nur den | |
> nächsten Berggipfel. | |
Bild: Man braucht nur den eigenen Körper, um ans Ziel zu kommen | |
Schnellen Schrittes überhole ich ein älteres Ehepaar in Funktionskleidung, | |
grüße sie nur im Vorbeigehen. Der Rucksack auf meinem Rücken, | |
raumschiffgroß, will zum Ziel getragen werden, und das ist noch weit. | |
So geht das jedes Mal, wenn ich in den Bergen bin. Und manchmal komme ich | |
mir dabei schon komisch vor. Als würde ich meine besten Jahre – ich bin 28 | |
– im Wald verplempern. Dazu noch mit so viel Gepäck. Als wäre das echte | |
Leben nicht schon anstrengend genug. Sollte ich in meinem Alter nicht die | |
Tage in verrauchten WG-Küchen sitzen, von der Revolution schwadronieren und | |
die Nächte in Clubs durchtanzen? Gut, das mache ich auch gerne mal. Aber am | |
liebsten bin ich draußen, spüre den Wind auf der Haut, höre das Rauschen | |
der Bäume und das Zwitschern der Vögel. | |
Beim Wandern entfliehe ich [1][dem inneren Stillstand]. Meine Glieder sind | |
schwer, aber stark. Mein Körper ist müde und mein Geist auch, aber beide | |
sind in Bewegung. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, heißt es. Nirgendwo | |
gilt das mehr als am Berg. Essen, Trinken und Schlafplatz trage ich auf dem | |
Rücken, die Kilometer in den Beinen, das Ziel habe ich vor den Augen. | |
Natürlich hat das [2][Wandern] auch seine Schattenseiten. Die kalten Nächte | |
gehören dazu sowie die elende Sucherei, wenn die Zahnbürste sich in der | |
Kopf- statt in der Seitentasche vom Rucksack versteckt. Oder andere | |
Wanderer – es sind fast nie -innen – die sich neben mir ins Gras setzen und | |
ungefragt losplappern. Und ich muss ihnen zuhören, das gebietet die | |
Höflichkeit. Beim Wandern ist man nett zueinander. Punkt. Wenn es in der | |
Stadt schon nicht klappt mit dem sozialen Miteinander, dann wenigstens auf | |
dem Berg. | |
Gleichzeitig habe ich durch diese zufälligen Begegnungen auch schon viel | |
Tolles erlebt. Einmal durfte ich mit einem italienischen Gleitschirmpiloten | |
durch die Alpen fliegen, ein andermal eine Drohne steuern und dabei ein | |
sächsisches Schloss filmen. Hätte ich den Gleitschirmpiloten in irgendeinem | |
Nachtclub kennengelernt, hätte er mich am nächsten Tag wohl kaum mit in die | |
Luft genommen – und ich schon längst vergessen, dass es ihn überhaupt gibt. | |
Nach einem Tag zwischen Bett-Küche-Büro-Küche-Bett ist alles so wie immer. | |
Nach einem Tag zwischen Berg und Tal traue ich mir plötzlich mehr zu als | |
vorher. Dort merke ich, dass ich nur meinen Körper brauche, um mein Ziel zu | |
erreichen. Nur ich selbst zu sein, reicht mit einem Mal aus. Wenn mich das | |
Wandern eines gelehrt hat, dann das: Ich kann mein Leben selbst gestalten. | |
12 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Enno Schöningh | |
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