# taz.de -- Die kulinarische Handschrift Diyarbakırs: Der Ochsenschwanz schmor… | |
> Substanzloses Weißbrot? Nicht im südosttürkischen Diyarbakır. Ein kleiner | |
> Rundgang mit ofenfrischem Fladenbrot, rotem Basilikum und gegrillter | |
> Leber. | |
Bild: Mehrmals am Tag wird das Brot frisch gebacken in Diyarbakır | |
DIYARBAKıR taz | Bäckereien sind in Diyarbakır weit mehr als nur | |
Glutenschleudern. „Hier gibt es in nahezu jeder zweiten Straße einen | |
Holzofenbäcker, der wohl in jeder europäischen Großstadt als ‚Artisanal | |
Bakery‘ firmieren würde“, erzählt Serdil Demir, der in der Stadt im | |
Südosten der Türkei ein kleines Restaurant betreibt. Menschen aus der | |
Nachbarschaft können selbst vorbereitete Gerichte vor Ort backen lassen und | |
zum Abendessen ofenfrisches Fladenbrot mitnehmen. | |
Auch in den meisten Lokalen der Stadt wird das Brot mehrfach stündlich zu | |
Fuß oder mit dem Fahrrad angeliefert. Es hat nichts mit den geschmacks- und | |
[1][substanzlosen Weißbrotlaiben] zu tun, die vielerorts in der Türkei der | |
Standard sind. „Schon die Form erzählt eine Geschichte, anhand der man | |
ablesen kann, aus welcher Gegend das Brot kommt“, sagt Serdil Demir, „ist | |
es eher knusprig? Hat man einen fluffigen Mittelstreifen oder | |
fingernagelgroße Einkerbungen? All das trägt die Handschrift der jeweiligen | |
Bäckermeister.“ | |
1,8 Millionen Menschen leben in Diyarbakır, das als die kulturelle | |
Hauptstadt des kurdischen Bevölkerungsteils der Türkei gilt. 1.500 | |
Kilometer von Istanbul entfernt, kennen viele die Stadt allerdings nur aus | |
den Schlagzeilen, wenn beispielsweise über die Absetzung von | |
Bürgermeister:innen der [2][prokurdischen HDP] berichtet wird. Große | |
Touristenströme, sei es aus der Türkei oder aus dem Ausland, treibt es | |
nicht in die basaltschwarze Altstadt, in der man an jeder Ecke historische | |
Kirchen, Moscheen und Karawansereien findet. | |
Um Diyarbakırs historischen Kern zieht sich eine der längsten antiken | |
Befestigungsanlagen der Welt. Im innenliegenden, nach der Mauer – auf | |
türkisch „Sur“ – benannten Stadtteil [3][kam es 2016 zu bewaffneten | |
Kämpfen] zwischen Milizen der kurdischen Arbeiterpartei PKK und der | |
türkischen Armee, in deren Folge ein großer Teil des über die Jahrhunderte | |
gewachsenen Gassengewirrs von der Regierung dem Erdboden gleichgemacht | |
wurde. Zehntausende Einwohner:innen mussten ihren Heimatbezirk | |
verlassen. Mittlerweile stehen dort Reihenhäuser aus der Betonretorte, und | |
Franchise-Cafés bieten Heißgetränke mit dem Charme eines Einkaufszentrums | |
an. | |
## Assyrischer Hauswein in Basaltarkaden | |
Zum Glück trifft dies nur für einen Teil von Sur zu – in anderen Ecken kann | |
man sich weiterhin verlaufen und dann plötzlich vor einem alten Herrenhaus | |
mit begrüntem Innenhof wiederfinden, das zugleich ein Café ist. Orte wie | |
das Iskender Paşa Konak oder das von einem Kollektiv geführte Sülüklü Han | |
gleichen in den heißen Sommermonaten Oasen in der Wüste. | |
Dank ihrer Basaltarkaden kann man in den Höfen angenehm temperiert sitzen | |
und hausgemachte Limonade aus Reyhan, einer lokalen roten Basilikumart, | |
oder ein Glas assyrischen Hauswein trinken. In der ehemals | |
multikonfessionellen Region hat die Weinbautradition die Jahrhunderte | |
überlebt und wird von den wenigen noch verbliebenen Nachkommen der | |
christlich-aramäischen Minderheit fortgeführt. In den alten Karawansereien | |
bekommt man ein Glas Rotwein aus heimischen Rebsorten wie Boğazkere oder | |
Öküzgözü für einen moderaten Preis. | |
Auch Serdil Demirs vor drei Jahren eröffnetes Lokal Ameditan befindet sich | |
in Sur, unweit des ehemaligen Kampfgebiets und ausgestattet mit einer | |
kulinarischen Mission: Dem viel gereisten Koch geht es darum, lokale | |
Produkte mit internationalen Zubereitungsarten zu verbinden. „All unsere | |
Lebensmittel beziehen wir von Läden innerhalb der Stadtmauer, das Gemüse | |
wird in den Hevsel-Gärten angebaut, die auf dem Plateau vor Diyarbakır | |
liegen“, sagt er. | |
Ein Dauerbrenner auf seiner Speisekarte sind Tacos, die er aus einer | |
Mischung aus Weizenmehl und Tomaten- und Paprikapaste herstellt. Als | |
Füllung gibt es süß-scharfes Hähnchen oder stundenlang geschmorten | |
Ochsenschwanz, kurdisch: Boçik. „Der findet sich kaum noch auf | |
Speisekarten“, erklärt Demir. Für einen Pastagang verwendet Demir | |
heimischen Örgü-Käse, lässt ihn jedoch nicht reifen, sodass er an | |
klassischen Mozzarella erinnert, dazu gibt es ein Pesto aus Diyarbakırs | |
rotem Basilikum. | |
## Jedes Lahmacun ist einzigartig | |
Mit kleinen Gerichten aus wenigen, dafür ausgesuchten Zutaten sticht das | |
Ameditan aus der Masse hervor. Ob sich das rentiert? Aktuell setzt Demir | |
auf Mundpropaganda und die wachsende Neugier der Leute. Demnächst möchte er | |
auch kulinarische Touren durch die Stadt anbieten – und dabei natürlich | |
auch die Bäckereien nicht zu kurz kommen lassen. | |
Neben Brot haben sich zahlreiche Holzöfen in Diyarbakır auf Lahmacun | |
spezialisiert – einen dünnen Hefefladen, der mit einem | |
Hackfleisch-Zwiebel-Gemisch bestrichen wird. Fragt man Serdil Demir nach | |
seinem Lieblingslahmacun, winkt er ab – allein in Sur gäbe es mehr als zehn | |
Orte, die ihm auf Anhieb einfielen. „Diyarbakırs Lahmacun-Öfen sind wie die | |
eigenen Kinder, ich könnte da unmöglich ein bestimmtes Lokal hervorheben“, | |
sagt er lachend. | |
Heute ist ihm nach dem Lahmacun, das unweit der alten Hauptmoschee inmitten | |
des Basars gebacken wird. Neben Schneidereien, Juwelieren und | |
Gardinengeschäften fällt der kleine Laden erst auf den zweiten Blick ins | |
Auge. Seine Besonderheit: Hier ist das Lahmacun fast papierdünn und dadurch | |
sehr leicht und knusprig. Heiß aus dem Ofen, mit frischer Petersilie belegt | |
und mit Zitronensaft beträufelt, ist es selbst im Sommer ein erfrischender | |
Mittagssnack. | |
Auch über die alten Stadtmauern hinaus gibt es in Diyarbakır Kulinarisches | |
zu entdecken. Im nach den traditionellen Ton- oder Kupfertöpfen benannten | |
Lokal Çömlek im Stadtteil Ofis ist der Name Programm: Ab dem frühen Morgen | |
stehen drei große Kessel auf dem Herd, der mit Holzkohlen beheizt wird. Ein | |
Klassiker auf der Speisekarte ist Güveç, ein Schmorgericht aus Tomate, | |
Paprika, Aubergine und Lamm, das hier über Stunden fast zur Paste | |
konzentriert wird. | |
## Rauchschwaden über den Gassen | |
Zur Mittagszeit kann man hier häufig lokalen Musikern zuhören: mal wird auf | |
dem Saiteninstrument Saz gespielt, mal fangen Stammgäste einfach an, über | |
Instrumentalversionen traditioneller Lieder zu singen. | |
Spätabends bilden sich über den Straßen in Ofis Rauchschwaden. Wenn es | |
dunkel wird, isst man in Diyarbakır besonders gern gegrillte Leber. Die | |
kommt vom Lamm, wird stets frisch in Gewürzen gewendet und am Spieß knapp | |
über die Kohlen gehängt. Dazu gibt es kleine Beigaben im Überfluss: In | |
Sumach marinierte Zwiebeln, große Blätter der heimischen Rucola-Variante, | |
verkohlte brennendscharfe Paprikaschoten und nicht zuletzt Ezme, ein | |
erfrischend-tomatiger Dip mit Isot-Chili. | |
Laut Demir kann man mit gegrillter Leber in Diyarbakır nicht viel falsch | |
machen. Er entscheidet sich an diesem Abend aber für Milz und Kalbsbries: | |
„‚From nose to tail‘, wie es gerade in vielen europäischen Restaurants | |
Renaissance feiert, gehört in Diyarbakır seit jeher zur Esskultur“, sagt er | |
augenzwinkernd. | |
8 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Dénes Jäger | |
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