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# taz.de -- Türkische Zwangsverwaltungspolitik: Zerstörte Altstadt
> Die Bewohner der kurdischen Hochburg Diyarbakır kämpfen nach der
> Zerstörung ihrer Altstadt Sur mit der staatlichen Enteignung. Einige
> leisten Widerstand.
Bild: Vor der Zerstörung: Kurdische Liedermacher „Dengbêj“ beim Tanzen
Ein Kühlschrank, ein Fernsehapparat und ein paar Decken befinden sich im
Zelt von Mehmet At. „Fotografier das!“, sagt er, „sie sollen sehen, wie w…
leben und Widerstand leisten.“ Der 60-Jährige wiederholt unablässig, sie
würden das Zelt nicht verlassen, bis sie ihr Recht bekommen: „Sie haben uns
bombardiert, unser Haus zerstört, sie haben uns bei lebendigem Leib
verbrannt. Mehr können sie uns nicht antun“.
Mehmet At lebt in Sur, der historischen Altstadt von Diyarbakır. Mit dem
Beginn der staatlichen Enteignung im März 2016 wurden sein Haus und sein
Geschäft abgerissen. Seither lebt er gemeinsam mit seiner Frau in einem
Zelt, das er dort aufstellte, wo einst sein Haus stand. Seine Kinder sind
bei Verwandten und Bekannten untergekommen.
## Zwangsumsiedlung von 6.000 Menschen
Schon sein ganzes Leben lebt Mehmet At in Sur und versorgt hier seine
18-köpfige Familie mit Schrotthandel. Der Staat habe ihm als Entschädigung
für sein Haus und Geschäft 38.000 türkische Lira angeboten, das sind
umgerechnet rund 7.700 Euro. Die Neubauwohnungen, die auf dem Grundstück
entstehen, auf dem zuvor sein Haus stand, kosten hingegen 500.000 Lira,
also 101.000 Euro. At verdient jedoch nur ungefähr zehn Lira am Tag –
umgerechnet zwei Euro. Für ihn ist klar, er will keine Wohnung. Ihm würde
es reichen, wenn die Regierung sein Grundstück zurückgeben würde. „Ich baue
mir mein Haus selbst“, sagt At. Denn der staatliche Mietzuschuss in Höhe
von knapp über 100 Euro reiche für die Unterbringung von 18 Personen nicht
aus.
Wie ist die historische Altstadt Sur mit ihren pittoresken Gassen und
Steinhäusern in diese Lage geraten? Alles begann mit den Gefechten zwischen
türkischen Sicherheitskräften und jungen kurdischen Milizen, die im Zuge
der Autonomieforderung 2015 in Sur Schützengräben ausgehoben hatten. Panzer
des türkischen Militärs zerstörten die schmalen Gassen und die Häuser. Ein
Teil der Anwohner zog freiwillig weg, ein Teil wurde geräumt, wieder andere
sind geblieben.
Ende 2015 wurde eine Ausgangssperre über den Bezirk verhängt, um die
Schützengräben zu schließen, die Barrikaden einzureißen und die
Sprengfallen zu räumen. Dabei wurden viele Quartiere vollständig zerstört.
Im Zuge der darauf folgenden Enteignung wurden sämtliche Viertel im Bezirk
Sur verstaatlicht. Die Bewohner der betroffenen Zonen erhielten ein
Schreiben mit der Aufforderung, ihre Häuser und Betriebe innerhalb von
sieben Tagen zu räumen. Laut einem Bericht des Dicle-Zentrums für
Sozialforschung wurden auf diese Weise mehr als 6.000 Familien umgesiedelt.
Einige erhielten Miethilfen, doch für größere Familien war diese
Unterstützung längst nicht ausreichend.
## Weitere Viertel sollen abgerissen werden
Aktuell werden gemeinschaftlich genutzte Einrichtungen wie Wäschereien,
Kinderkrippen, Schulen und Gesundheitszentren sowie die Häuser im ganzen
Viertel zerstört. Kurz: das städtische Leben und das historische Herz
Diyarbakırs. Zugleich errichtet die staatliche Wohnungsbaugesellschaft TOKI
hinter den Absperrungen bereits Neubauten. In manche Straßen darf man nicht
hineinlaufen, ebenso ist es verboten, die Neubauten und Orte, an denen es
Kämpfe gab, zu fotografieren. Die Bewohner warnen: „Wenn Sie sich
verlaufen, laufen Sie Gefahr, von Sicherheitskräften festgenommen zu
werden.“ Außerdem raten sie einem davon ab in Gesprächen zu erwähnen, dass
man Journalistin ist. Sur ist wie offene Wunde, die man versucht zu
verdecken.
Der „Erhaltungs- und Bebauungsplan Suriçi“ des Ministeriums für Umwelt und
Stadtentwicklung sieht vor, die engen Straßen in Sur zu verbreitern und
sechs miteinander verbundene Landstraßen zu bauen. Im Zuge der
Stadtentwicklung sollen auch die bisher nicht zerstörten Viertel abgerissen
werden. Es wird weitere benachteiligte Menschen wie Mehmet At geben.
Auch das Dengbêj-Haus im Bezirk Sur hat Schaden genommen. Als Dengbêj
werden kurdischen Liedermacher bezeichnet, die von Freud und Leid, von Tod
und Massakern in ihren Klam genannten Liedern singen. Die Dengbêj, die es
in dieser Form nur in der kurdischen Kultur gibt, nehmen auch in Sur eine
wichtige Stellung ein. Ihr Vereinsgebäude steht zwar noch, aber die 26
Dengbêj, die hier mit ihrem Gesang die kurdische Geschichte überlieferten,
mussten das Gebäude 2016 räumen, als die Stadt unter Zwangsverwaltung
gestellt wurde. Einer von ihnen ist Apê Naif. In einer Bäckerei im
zentralen Viertel Lalepaşa erzählt er seine Geschichte.
## Festnahme wegen kurdischer Lieder
2015, im Zuge der bewaffneten Auseinandersetzungen wurden seine beiden
Häuser so stark beschädigt, dass er mit seiner Familie zwei Wochen lang in
der Küche in einem der Häuser ausharren musste, bis sie von
Sicherheitskräften heraus gejagt wurden. „Sie haben uns böse beschimpft und
schwere Anschuldigungen erhoben.“, erzählt Apê Naif. Die Sicherheitskräfte
hätten ihn beschuldigt, dass er nur in der Stadt bleiben würde, um „ihnen�…
also den kurdischen Milizen zu helfen, indem er für sie koche. „Was hätte
ich denn davon gehabt, ihnen zu helfen?“, fragt sich der Familienvater.
Er habe sein Zuhause verlassen müssen, ohne ein einziges Stück Kleidung
oder sonstiges Hab und Gut mitnehmen zu können, berichtet Apê Naif, jetzt
wohne er zur Miete. Was sie zum Leben haben, reiche hinten und vorn nicht.
Wenn er einen Job bekomme, arbeite er auf Baustellen. „Ich besitze rein gar
nichts“, sagt er. Trotz der desolaten Lage singt er weiter als Dengbêj.
Auch deshalb sei er viele Male verhört worden. „‚Du singst politische
Lieder auf Kurdisch‘, sagen sie. Ein paar Mal haben sie mich deshalb
festgenommen. Aber ich bin Volkssänger, ich singe, was mein Volk hören
will.“ Apê Naif erinnert daran, wie Staatspräsident Erdoğan während der
Friedensverhandlungen tönte: „Ich löse die kurdische Frage.“ „Jetzt aber
tropft Blut aus dem Herzen des Volkes.“, sagt er.
Dann stimmt er ein [1][Klam-Lied] an und betont, es sei nicht politisch. In
einer Bäckerei, einem der wenigen nicht verbotenen Orte, lauschen wir Apê
Naif, der seine Lieder früher im Dengbêj-Haus sang. Und es sieht ganz
danach aus, dass fortan nicht die Gassen, Häuser, Kirchen und Moscheen die
zigtausendjährige Geschichte der Stadt erzählen werden, sondern nur noch
die Lieder der Dengbêj.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
29 Mar 2018
## LINKS
[1] https://vimeo.com/262376926
## AUTOREN
Çınar Özer
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