# taz.de -- Jugendclub in Berlin-Wedding: Ihr Platz | |
> Wie ist es um die Integrationsinfrastruktur in Deutschland bestellt? Zu | |
> Besuch im Jugendclub Lynar in Berlin, wo auch der Nahostkonflikt Thema | |
> ist. | |
Bild: Felix und Youseff im Hof des Jugendzentrum „Die Lynar“ im Wedding | |
An Halloween geht es oft hoch her im Wedding, da mag Youssef lieber nicht | |
draußen unterwegs sein, wenn es kracht. Heute, am Tag vor Halloween, steht | |
er auf dem Hof der Jugendfreizeiteinrichtung Die Lynar im postmigrantisch | |
geprägten Berliner Stadtteil Wedding. Sie liegt leicht versteckt hinter | |
einem Mehrfamilienhaus in der Lynarstraße, ein zweistöckiger Backsteinbau, | |
in dem ein Tanz-, ein Fitness- und ein „Chillraum“ Platz finden, außerdem | |
ein eigenes Café mit Billardtisch. | |
Auf dem Hof stehen Podeste aus Holz. An diesem vergleichsweise lauen | |
Herbstabend tanzen hier ein paar Jungs Dabke, einen Gruppentanz, der vor | |
allem im östlichen Mittelmeerraum sehr beliebt ist. Sie halten sich an den | |
Armen, stampfen zum Rhythmus der Musik mit den Füßen und bewegen sich dabei | |
seitwärts. „Ich komme lieber hierher, als immer nur zu Hause zu bleiben und | |
vor meiner Playstation rumzuhängen“, sagt Youssef, der wie die anderen | |
jungen Erwachsenen in diesem Text nicht möchte, dass sein Nachname in der | |
Zeitung steht. | |
Youssef ist 23 Jahre alt und arbeitet in einer Metallwerkstatt. Er sei | |
quasi jeden Tag in der Lynar, erzählt er, „24/7“. „Na ja, übertreib mal | |
nicht, mehrmals die Woche“, sagt Rafael Krause, der Leiter der Einrichtung, | |
die offen für Menschen zwischen 10 und 27 ist. Laut Krause kommen viele der | |
Kinder und Jugendlichen hierher, weil es zu Hause eng sei, oft teilten sie | |
sich mit Geschwistern ein Zimmer und wollten mit ihren Freund*innen in | |
Ruhe abhängen – dafür bietet die Lynar Platz. | |
## Orte, die wichtig sind | |
Auch Felix kommt regelmäßig in den Jugendclub, und das seit neun oder zehn | |
Jahren, sagt er. Mittlerweile ist der 19-Jährige etwas seltener hier, weil | |
er eine Ausbildung zum Erzieher angefangen hat und parallel noch im | |
Hertha-Fanshop arbeitet. | |
Orte wie die Lynar sind wichtig, findet Felix, um Jugendliche von der | |
Straße zu holen: „Weil es draußen – es ist nicht gefährlich, aber es ist | |
schon kritisch, würde ich sagen. Ich hab selbst in einer Kita gearbeitet | |
und da habe ich gesehen, dass [1][auf dem Spielplatz Spritzen lagen und | |
so].“ Dass er jetzt Erzieher werden will, habe zumindest auch mit der Lynar | |
zu tun, denn hier konnte er sich ausprobieren und auch selbst Verantwortung | |
in Projekten übernehmen. | |
Felix hilft zum Beispiel im hauseigenen Café, das in einem großen Raum im | |
Erdgeschoss liegt. Gerade sitzt hier Kerem hinter der Bar, der seit Oktober | |
in der Lynar arbeitet und parallel eine Ausbildung zum Erzieher macht. Die | |
meiste Zeit ist Kerem aber unterwegs, spricht mal hier mit jemandem, mal | |
da. Es ist trubelig im Café, überall wird gequatscht und gelacht, der | |
Billardtisch ist dauerbesetzt und immer wieder kommen Personen dazu oder | |
gehen wieder. | |
An einem runden Tisch neben der Tür spielt Felix zusammen mit vier anderen | |
Poker. „Ist das möglich, sagen wir jetzt mal: sechs, sieben, Bube, Dame, | |
König – das würde gehen als Straße, ja?“, fragt Felix. Die Stimmen gehen | |
durcheinander, aber die Antwort ist eindeutig: Nein. „Weißt du, was das für | |
eine Straße ist?“, zieht ein Betreuer Felix auf, „das ist eine | |
Einbahnstraße.“ Felix winkt ab: „Ja, ist ja gut“. | |
An diesem Montagabend sind kaum Mädchen da. Auf diese Beobachtung | |
angesprochen entgegnet Felix: „Die haben einen extra Tag.“ Tatsächlich ist | |
seit einem Jahr Donnerstag der exklusive Mädchen*tag. Seitdem kämen auch | |
insgesamt mehr Mädchen, sagt Lynar-Leiter Krause. Ob sie es nicht schade | |
finden, dass so wenig Mädchen da sind? Felix verneint. | |
## Was in der Schule nicht besprochen wird | |
An einem anderen Tisch sitzen Salah, Ahmad und Mustafa. Die drei | |
15-Jährigen haben Familie in Palästina. Die aktuelle Situation in Gaza | |
bedrückt sie sehr, aber auch wie in Deutschland damit umgegangen wird. In | |
der Schule gebe es keinen Raum, über dieses Thema zu sprechen, sagen sie. | |
Mustafa erzählt, dass eine Lehrerin Salah seine Handyhülle weggenommen | |
habe, weil auf ihrer Rückseite ein Bild eines palästinensischen Reisepasses | |
war. „Sie hat gesagt, das sei antisemitisch.“ | |
Dann erzählen die Jungs von einem Fragebogen, der an Berliner Schulen | |
ausgegeben werde. Einer der Jungs zeigt einen Screenshot von einer Story, | |
in der so ein Fragebogen zu sehen sei. „Ist es für mich okay, auf eine | |
Demonstration zu gehen, auf welcher der Terroranschlag gefeiert und als | |
gerecht dargestellt wird?“, lautet eine der Fragen. „Wenn du dann deine | |
Meinung sagst, zum Beispiel: du bist pro Palästina, steht am nächsten Tag | |
das Jugendamt vor deiner Haustür“, sagt Salah. | |
Ein Foto dieses Fragebogens postete auch der Linken-Politiker Ferat Koçak | |
auf X (ehemals Twitter). Eltern hätten ihm erzählt, dass der Fragebogen an | |
einer Berliner Grundschule an Schüler*innen ausgeteilt worden sei. | |
Nachdem Medien berichtet hatten, dass es sich um Falschinformationen | |
handelt, löschte er seinen Post wieder. Die Berliner Senatsverwaltung für | |
Bildung, Jugend und Familie sprach in einer Stellungnahme von einer | |
Falschmeldung. Bei den Jungs ist trotzdem der Eindruck entstanden, sie | |
dürften ihre Meinung nicht frei äußern. | |
## Was ist Heimat? | |
Auch Youssef erzählt, dass es ihn sehr belastet, was in Palästina passiert. | |
„Da es ja meine Heimat ist, da ich da herkomme, finde ich es sehr schlimm, | |
wie die Leute mit uns umgehen, und vor allem mit den Kindern.“ Youssef | |
selbst wurde in Deutschland geboren, seine Eltern stammen aus Palästina. | |
Dass Menschen jetzt auf die Straße gehen und „für die Heimat“ | |
demonstrieren, sei ihr Recht. Er selbst war noch bei keiner Demo: „Weil, | |
das ist gar nicht mein Ding, rauszugehen.“ Aber auch, „weil es ja schlimm | |
nach hinten losgehen könnte. Vielleicht werde ich ja festgenommen und muss | |
mit zum Revier, weil ich meine Heimat unterstütze. Deswegen bleibe ich | |
lieber zu Hause“. | |
Eine gewisse Resignation verbinde viele der Jugendlichen, die in die Lynar | |
kommen, sagt Rafael Krause. Viele von ihnen hätten einen türkischen oder | |
arabischen Migrationshintergrund, einige hätten bereits Rassismus erlebt | |
und negative Erfahrungen mit der Polizei gemacht. „Ich denke, dass sich | |
viele – auch wenn sie es nicht so ausdrücken würden – von der weißen, | |
deutschen Mehrheitsgesellschaft abgehängt fühlen.“ | |
Grundsätzlich sei im Bezirk klar, wie wichtig das Projekt sei, da es das | |
einzige Angebot im Kiez für ältere Jugendliche und junge Erwachsene sei. | |
Anders [2][als andere soziale Projekte in Berlin] muss die Lynar aktuell | |
nicht um ihre Finanzierung bangen. Infolge der Ausschreitungen vergangenes | |
Silvester in Berlin hat sie sogar neue Gelder zugesichert bekommen und | |
öffnet jetzt einen Tag mehr in der Woche. Samstags können Jugendliche ab 13 | |
Jahren vorbeikommen und gemeinsam kochen. Da die Zuwendungen für Sachmittel | |
jedoch seit Jahren gleich geblieben seien und die Preise aufgrund der | |
Inflation teils enorm gestiegen, komme das am Ende doch auf eine Kürzung | |
raus, sagt Rafael Krause. | |
## Faktische Kürzungen in der Jugendarbeit | |
Mit diesen faktischen Kürzungen hat Jugendarbeit derzeit generell zu | |
kämpfen. Ein weiteres, lange thematisiertes Problem ist, dass Projekte | |
meist nur für ein Jahr bewilligt werden und viel Zeit, Energie und Kosten | |
in die wiederholten neuen Anträge fließt. Gerade in Berlin beklagen Träger | |
zudem eine jahrzehntelange Unterfinanzierung, zuletzt hatten sie sich bei | |
einem [3][selbst organisierten Gipfel für Kinder- und Jugendhilfe] | |
vernetzt. | |
Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner von der CDU [4][hatte | |
zugesichert, dass er der Projektfinanzierung ein Ende] machen wolle. Und | |
tatsächlich soll auch mehr Geld fließen: Nach Silvester hatte der Senat | |
zusätzliche 70 Millionen für die Prävention von Jugendgewalt angekündigt, | |
wovon auch die Jugendarbeit profitieren würde. Doch noch ist fraglich, ob | |
es sich dabei wirklich um zusätzliche Mittel handelt, oder ob die Rechnung | |
durch Umschichtungen aufgeht. | |
Am Pokertisch werden die Chips wieder in den Koffer geräumt. Felix hat am | |
Ende gewonnen. Jetzt wollen er und die anderen sich Musik anhören, die | |
einige von ihnen aufgenommen haben. Vom Café geht ein kleiner Raum ab, das | |
Tonstudio. Kerem setzt sich an einen Schreibtisch und spielt einen Track, | |
auf dem Youssef rappt. „Er freestylt“, erklärt Kerem. „Das macht er | |
wirklich gut“, sagt einer der anderen Betreuer anerkennend. Nach dem Song | |
klatscht Youssef mit allen ab und verabschiedet sich. | |
4 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Debatte-um-den-Leopoldplatz/!5953465 | |
[2] /Kein-Geld-fuer-Soziales/!5962674 | |
[3] /Kinder--und-Jugendhilfe-in-Berlin/!5962411 | |
[4] /Silvestervorbereitungen/!5965300 | |
## AUTOREN | |
Helena Werhahn | |
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