# taz.de -- Lieferkettengesetz und die Türkei: Wen macht die Tomate krumm? | |
> Gegen den größten Agrarkonzern der Türkei kämpfen 40 Arbeiterinnen. Das | |
> Unternehmen beliefert auch Lidl mit Tomaten. | |
Bild: „Wir wurden hier wie Hunde behandelt“: Protestierende Arbeiterinnen v… | |
BERLIN/ISTANBUL taz | Die Frau schaut mit großen Augen in die Kamera. Es | |
ist offensichtlich, dass sie es nicht gewohnt ist, sich an die | |
Öffentlichkeit zu wenden. Zunächst stellt sie sich vor: „Mein Name ist | |
Tüley Gören.“ Sie ist um die 50 Jahre alt und sie trägt das Kopftuch einer | |
Frau vom Dorf. „Ich habe sechs Jahre in den Gewächshäusern von [1][Agrobay] | |
gearbeitet. Es sind sehr schwere Bedingungen für uns dort“, sagt sie. | |
Sie zählt auf, was diese schweren Bedingungen ausmacht. „Lange | |
Arbeitszeiten, keine Schutzkleidung im Pestizidnebel im Gewächshaus, | |
mangelnde Unfallvorsorge, Überstunden und verschleppte Bezahlung.“ In | |
diesem Jahr sei der Druck durch die Vorarbeiter besonders schlimm gewesen, | |
und das bei Temperaturen von bis zu 50 Grad im Gewächshaus. „Deshalb habe | |
ich beschlossen, der Gewerkschaft beizutreten. Daraufhin hat mich die | |
Geschäftsleitung fristlos gekündigt.“ | |
Sie wendet sich dann direkt an den Zuschauer und sagt: „Bitte unterstützen | |
Sie uns in unserem Kampf für faire Arbeitsbedingungen, kaufen Sie keine | |
Produkte von Agrobay im Supermarkt.“ | |
[2][Das Video hat die Landarbeitergewerkschaft Tarim Sen aufgenommen und | |
gepostet]. Tüley Gören ist eine von 40 Frauen, die von dem Agrargroßbetrieb | |
Agrobay Ende August fristlos und ohne jede Abfindung gekündigt wurden. | |
Angeblich, weil sie gegen die Interessen der Firma verstoßen hätten, | |
tatsächlich aber, weil sie in diesem Sommer der Gewerkschaft beigetreten | |
seien, sagt Umut Kocagöz, der Generalsekretär von Tarım-Sen. Das sei in der | |
Türkei nicht ungewöhnlich, meint Karagöz. Viele Firmen wollten mit allen | |
Mitteln verhindern, dass linke Gewerkschaften in ihren Betrieben ein Bein | |
auf die Erde bekommen. | |
## Tomaten holländischer Art | |
Seit fast 50 Tagen demonstrieren die entlassenen Frauen vor den Toren von | |
Agrobay und fordern ihre Wiedereinstellung. Regelmäßig ruft die | |
Firmenleitung die Gendarmerie, weil die Frauen angeblich die Zufahrtswege | |
zum Firmengelände blockierten. Immer wieder kam es dabei zu Übergriffen der | |
Polizei, die mit Tränengas auf die Frauen losging. Arbeiterinnen, die sich | |
mit den demonstrierenden Kolleginnen vor den Werkstoren solidarisierten, | |
wurden ebenfalls gefeuert. | |
Eine von ihnen ist Naime Tekkahraman. „Ich bin 61 Jahre alt und habe 18 | |
Jahre bei Agrobay gearbeitet“, erzählte sie dem türkischen Dienst der BBC. | |
„Dann haben sie mich rausgeworfen, weil ich die Kolleginnen, die schon | |
zuvor fristlos gekündigt worden waren, unterstützen wollte. Dabei mussten | |
wir etwas tun“, sagte sie. „Die schlechte Behandlung hier ist immer | |
schlimmer geworden. An einigen Tagen schrien uns die Ingenieure derart an, | |
dass wir nur noch weinten.“ | |
Agrobay widerspricht den Vorwürfen. „Diese Entlassungen haben nichts mit | |
schlechten Arbeitsbedingungen und dem Eintritt in die Gewerkschaft zu tun“, | |
sagt Arzu Şentürk Salik, Geschäftsführerin von Agrobay. „Hier wollen manc… | |
zu Helden werden und andere schnelles Geld durch Abfindungen machen“, sagt | |
sie. Die Fronten sind verhärtet, eine Wiedereinstellung der Frauen | |
undenkbar. | |
Agrobay ist das größte türkische Unternehmen, das Tomaten, Paprika und | |
anderes Gemüse in einem geschlossenen Kreislauf in Gewächshäusern anbaut, | |
nach eigenen Angaben sogar das größte Unternehmen dieser Art in Europa. Die | |
Gewächshäuser liegen rund 100 km nördlich der Ägäis-Metropole Izmir, an der | |
Straße, die nach Bergama führt, dem antiken Pergamon. Auf mehreren hundert | |
Hektar hat Agrobay hier vor 25 Jahren begonnen, nach holländischem Vorbild | |
Tomaten anzubauen. Das Unternehmen rühmt sich der höchsten technischen | |
Standards, behauptet, keinerlei Hormone einzusetzen, und heizt im Winter | |
mit Geothermie besonders umweltfreundlich. Rund 90 Prozent der Produktion | |
geht in den Export, vorwiegend nach Europa und Russland. Einer der größten | |
Abnehmer der Agrobay-Tomaten ist Lidl. | |
Weil sie im Land auf wenig politische Unterstützung hoffen können, möchte | |
die Gewerkschaft Tarım-Sen sich [3][das neue deutsche Lieferkettengesetz] | |
zunutze machen. Gewerkschaftsfunktionär Kocagöz sagt, die Deutschen sollten | |
sich um die miesen Bedingungen kümmern, unter denen ihre Tomaten produziert | |
werden. Deshalb hat Tarım-Sen eine Delegation zum deutschen Generalkonsulat | |
nach Istanbul geschickt, um dort vor dem Tor zu demonstrieren und dem | |
Generalkonsul einen offenen Brief zu überreichen. Darin werden die | |
unmenschlichen Arbeitsbedingungen bei Agrobay geschildert und die deutsche | |
Regierung aufgefordert, für die Einhaltung des Lieferkettengesetzes zu | |
sorgen. Leider hatte das Generalkonsulat am Tag des Besuchs von Tarım-Sen | |
einen Betriebsausflug, sodass niemand den Brief entgegennehmen konnte. | |
[4][Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, wie es in voller Länge heißt, | |
ist seit dem 1. Januar 2023 in Kraft.] Es verpflichtet Unternehmen ab 3.000 | |
Mitarbeitenden, ihre Lieferketten auf Risiken zu Menschenrechtsverletzungen | |
zu überprüfen. Dazu gehören Maßnahmen zur Prävention und die Einrichtung | |
von Beschwerdestellen. Im Fall von Menschenrechtsverletzungen müssen die | |
Unternehmen „angemessene Abhilfemaßnahmen“ ergreifen. | |
## Lidls Verantwortung | |
Jetzt muss Lidl also handeln. Gegenüber der taz erklärt der Discounter, | |
Ermittlungen zum Fall Agrobay eingeleitet zu haben. | |
Das Gesetz sieht vor, dass die Firmen gemeinsam einen Plan erarbeiten „zur | |
Beendigung oder Minimierung der Verletzung“. Darin wird etwa festgelegt, | |
wie Schutzkleidung für die Arbeitnehmer*innen bereitgestellt wird. | |
Theoretisch könnte sich Lidl auch für die Wiedereinstellung der Frauen | |
einsetzen, vermutlich würde es aber zu einem weiteren Verfahren kommen, das | |
die Rechtmäßigkeit der Entlassungen klärt. Die Beendigung des | |
Geschäftsverhältnisses sieht das Gesetz nur als letztes Mittel vor, wenn | |
kein gemeinsamer Plan zustande kommt oder die Verletzungen „sehr | |
schwerwiegend“ sind. | |
Das Gesetz gibt den Unternehmen Spielraum, zu ermitteln, was „angemessene“ | |
Abhilfe bedeutet. In einer Handreichung des Bundesamts für Wirtschaft und | |
Ausfuhrkontrolle (Bafa) wird aber deutlich, dass Unternehmen die | |
Verantwortung nicht nur auf die Zulieferer abwälzen dürfen. Wird etwa der | |
örtliche Mindestlohn unterschritten, müssen Unternehmen ermitteln, ob ihr | |
Abnehmerpreis ausreicht, damit Zulieferer den Mindestlohn zahlen können. | |
Auch ohne das Lieferkettengesetz hätte Lidl tätig werden können. Der | |
Discounter gibt an, dass die gegen Agrobay erhobenen Vorwürfe gegen die | |
internen Unternehmensgrundsätze und den Verhaltenskodex verstießen. Mit dem | |
neuen Gesetz ist der Hebel aber länger: Es hilft den Gewerkschaften, Druck | |
auf Lidl zu machen. Und es hilft auch Lidl, Agrobay unter Druck zu setzen. | |
Die Supermarktkette kann sich nun auf die deutsche Rechtslage berufen, nach | |
der sie belangt werden könnte, wenn sie den Sorgfaltspflichten nicht | |
nachkommen würde. | |
Macht Lidl jetzt nicht tatsächlich großen Druck auf Agrobay, steht den | |
entlassenen Frauen ein zermürbender Kampf vor dem Arbeitsgericht bevor. Aus | |
ähnlichen Konflikten weiß man, dass selbst, wenn die Arbeiterinnen vor | |
Gericht recht bekommen sollten, eine Wiedereinstellung sehr | |
unwahrscheinlich ist. Im besten Fall können sie nach jahrelangen | |
Auseinandersetzungen mit Lohnnachzahlung und einer Abfindung rechnen. | |
## Ära der AKP | |
Agrobay ist für die Gewerkschaft ein schwieriger Gegner. Der Konzern ist | |
Teil der Bayburt Holding, die vom Bau großer Infrastrukturprojekte wie | |
Flughäfen, Autobahnen und Tunnel bis zu Versicherungen und Tankstellen | |
überall dort engagiert ist, wo über staatliche Projektvergaben etwas zu | |
holen ist. Das Unternehmen ist typisch für die Player der Erdoğan-Zeit. Vor | |
50 Jahren gründete der aus dem ostanatolischen Bayburt nach Ankara | |
eingewanderte Hasan Şentürk eine kleine Baufirma. Damit kam er einigermaßen | |
über die Runden, aber zu einer der Großen wurde die Bayburt Holding erst, | |
als 2002 die Ära der AKP anbrach. | |
Gegen die angebliche kemalistische Elite förderte die AKP gezielt | |
anatolische Unternehmer, die ihnen nahestanden. Hasan Şentürk, der 2012 | |
starb, war einer von ihnen. Plötzlich erhielt er staatliche Großaufträge, | |
von denen seine Firma vorher nur träumen konnte. Şentürk, nach dem das | |
Gewächshausareal von Agrobay benannt ist, bedankte sich mit der Gründung | |
einer Stiftung, die ganz im Sinne der AKP Moscheen errichtet und Korankurse | |
finanziert. | |
8 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.fr.de/wirtschaft/der-kampf-der-tuerkischen-arbeiterinnen-lidl-a… | |
[2] https://www.instagram.com/tarimsendikasi/ | |
[3] /EU-Lieferkettengesetz/!5934620 | |
[4] /Neues-Lieferkettengesetz/!5875290 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
Leila van Rinsum | |
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