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# taz.de -- Ungerechtigkeit bei der Rente: Spiel mit gezinkten Karten
> Menschen mit niedrigen Löhnen sterben früher und kriegen darum noch mal
> weniger Rente als Gutverdienende. Zeit für eine sozial gerechte
> Neuberechnung.
Bild: In Deutschland hängt ein gutes Leben im Alter sehr stark vom ehemaligen …
Mit schöner Regelmäßigkeit wird von konservativer und marktliberaler Seite
an der gesetzlichen Altersrente herumgedoktert. Die FDP hat in den
Koalitionsvertrag ein bisschen Aktienrente hinein verhandelt. Die soll aber
zukünftig nicht etwa die Auszahlung erhöhen, sondern Beiträge einsparen
helfen. Was [1][Ulrike Herrmann in der taz] berechtigterweise so
kommentierte: „Manche Projekte sind so unsinnig, dass sie sofort depressiv
machen“. Und die CDU verlangt, künftig das Renteneintrittsalter an die
Lebenserwartung zu koppeln. Obwohl das Bezugsalter bereits mit der
Zielmarke 67 Jahre ordentlich angehoben wurde – was nicht einmal CDU-Wähler
für wünschenswert halten. Die sind nämlich überdurchschnittlich älter,
kennen oder ahnen die damit einhergehenden Malaisen und wollen eigentlich
nicht, dass die erste Rentenzahlung mit dem Kauf eines Rollators
zusammenfällt.
Angeblich sei das alles der Generationengerechtigkeit wegen geboten. Beuten
also die Alten die Jungen aus, verjubeln sie das hart erarbeitete Geld der
Start-up-Kreativen auf Mallorca? Statistisch ist das ganz und gar
unwahrscheinlich. Wenn es sich die Senioren auf Sylt oder Sansibar so
richtig gut gehen lassen, dann sind das in Deutschland von Vermögen- und
Erbschaftsteuer kaum belästigte Wohlhabende. Nicht aber der übliche
Rentner, die übliche Rentnerin. Gerade hat die Linke von der Regierung dazu
Auskunft verlangt. Ergebnis: In Deutschland bekommt aktuell mehr als jeder
Zweite mit 40 Jahren oder mehr Berufstätigkeit [2][weniger als 1.400 €
Altersrente] ausbezahlt.
Das ist ziemlich wenig, vor allem, wenn man die Situation in anderen
Ländern betrachtet. Dass man in Deutschland sehr knausrig ist mit der
Finanzierung des Lebensabends der arbeitenden Bevölkerung, zeigt sich im
Vergleich mit unseren direkten, ebenfalls (wenigstens teilweise)
deutschsprachigen Nachbarn, mit denen wir auch sonst viele soziale und
ökonomische Merkmale teilen. Die OECD veröffentlicht dazu regelmäßig
Berichte. Nimmt man alle öffentlichen Zahlungen zusammen, dann liegt
Deutschland bei der aussagekräftigen Bezugsgröße – Anteil der
Rentenzahlungen samt diesbezüglicher Steuererleichterungen am
Bruttosozialprodukt – um einiges hinter Österreich und der Schweiz.
Während [3][die Generationengerechtigkeit von allen Parteien in] dieser
oder jener Weise im Munde geführt wird – ausgenommen die existenziellen
Fragen, die die Letzte Generation thematisiert –, bleibt es bei einer
anderen Gerechtigkeitsdimension erstaunlich ruhig. Bloß nicht darüber
sprechen, bloß nicht dran rühren, heißt die parteiübergreifende Position.
Gemeint ist die sozial unterschiedliche Lebenserwartung. Eigentlich ist das
ein alter Hut in der internationalen Gesundheitssoziologie. Aber in
Deutschland bekam man lange keine guten Zahlen dazu. Und auch heute noch
gibt es keine richtige amtliche oder quasi-amtliche Statistik darüber, die
Forschung muss sich hier mit Hilfs-Datenquellen behelfen.
Zum Glück sind die ziemlich gut, vor allem das große Sozio-oekonomische
Panel. Dieses auswertend, kamen Forscher zu dem Ergebnis, dass der
Unterschied in der Lebenserwartung zwischen der Gruppe mit dem relativ
niedrigsten Einkommen und der mit dem höchsten bei Männern nicht weniger
als 8,6 Jahre, bei Frauen 4,4 Jahre beträgt. Das ist schon für sich ein
Skandal. Richtig spannend wird es, wenn man das auf die Rentensituation
anwendet. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung wertete dazu Daten
der Deutschen Rentenversicherung aus. Bezugsgruppe waren wegen der
beständigeren Erwerbsbiografien und der langen Betrachtungsfrist
westdeutsche Männer mit einer höheren Anzahl von Beitragsjahren.
Heraus kam erneut, dass der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen
denen mit den niedrigsten Löhnen und denen mit den höchsten viele Jahre
betrug und sogar mit der Zeit noch erheblich zunahm. Wir sind also heute in
der Lebenserwartung ungleicher als vor einigen Jahrzehnten. Dieser
Unterschied macht sich auch direkt bei der Rentabilität der
Renteneinzahlungen bemerkbar: Wer sehr gut verdient hat, bekommt dank der
statistisch längeren Auszahlungszeit viel mehr heraus als jemand mit
niedrigem Löhnen, der früher stirbt. Das in Deutschland so hochgehaltene
Äquivalenzprinzip zwischen Einzahlung und Auszahlung ähnelt einem gezinkten
Kartenspiel, wo die einen mehr Asse, die anderen mehr Luschen zugeteilt
bekommen.
Die Bedeutung der unterschiedlichen Lebenserwartung lässt sich an einem
fiktiven Beispiel zeigen. Gegeben seien der Einfachheit halber zwei gleich
große Gruppen. Die eine hat sich das Anrecht auf eine Monatsrente von 1.000
Euro erarbeitet und bezieht diese 14 Jahre. Die andere bekommt 2.000 Euro
im Monat und genießt sie 22 Jahre. Bleiben die Gesamtausgaben konstant,
werden nun aber nicht nur nach der Einzahlungshöhe, sondern auch nach der
statistischen Auszahlungslänge neu verteilt, dann müssten die ärmeren
Rentner monatlich eigentlich statt 1.000 nun 1.381 Euro erhalten, die
Bessergestellten dagegen erhielten statt 2.000 nur 1.758 Euro. Über die
gesamte jeweilige Bezugszeit bleibt aber die Äquivalenz von 2:1 weiter
gewahrt.
Nun kann man natürlich eine statistische Lebenserwartung nur schlecht in
eine individuelle Leistung übertragen. Jeder hat schon mal von 100-jährigen
Armen oder von früh verstorbenen Reichen gehört. Man könnte aber die
Gruppendifferenz bei der Bezugsdauer derart berücksichtigen, dass über
eine längere Zeit Rentenerhöhungen nicht mehr mit einem einheitlichen
Prozentsatz ausgezahlt werden – sondern zur Hälfte prozentual, zur anderen
in einem Festbetrag (pro Rentenpunkt). Das würde über die Zeit die
Bevorteilung der Besserverdienenden abschleifen, die Benachteiligung der
Schlechterentlohnten sanft, aber wirkungsvoll aufheben. Diese
Gerechtigkeitsdebatte sollten wir zuerst führen!
8 Oct 2023
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## AUTOREN
Gerd Grözinger
## TAGS
Schwerpunkt Armut
Rente
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Soziale Gerechtigkeit
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Gesundheit
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