# taz.de -- Konzert von The National in Berlin: Wie Magnetspäne in der Petrisc… | |
> Der Sänger der Indierock-Größe The National, Matt Berninger, lässt sich | |
> nicht aus der Ferne anbeten, sondern Menschen nah herankommen. | |
Bild: Matt Berninger von The National bei einem Konzert im September in London | |
Vor Menschenmengen habe ich Angst. Gitarrengeschrammel an | |
alkoholinduziertem Männergejaule kann ich nichts abgewinnen. Was also mache | |
ich in der ausverkauften Max-Schmeling-Halle in Berlin unter 12.000 | |
Zuschauer:innen bei einem Konzert der US-Band The National? Deren Musik | |
als Inbegriff des „Sad Dad Rocks“ gilt? Und warum verspüre ich dabei so | |
viel Freude, als wäre ich Fan der ersten Stunde? | |
Dabei nicke ich unsicher, wenn das Publikum beim ersten Akkord eines Songs | |
zu toben beginnt und F. neben mir sagt: „Scheint bekannt zu sein.“ Müsste | |
ich das nicht wissen? Schließlich bin ich hier, weil ich mich unsterblich | |
in das Ende April erschienene neue Album der mir bis dahin unbekannten Band | |
verliebt, es monatelang in Dauerschleife gehört hatte. | |
Das hätte der [1][Beginn einer wunderbaren neuen Fanschaft] sein können. | |
Ich hätte mich durch die acht älteren Studioalben der Band gearbeitet, um | |
beim Konzert jede Zeile mitzusingen. Aber nein, nur „First Two Pages of | |
Frankenstein“ und das im September hinterhergeschobene Album „Laugh Track“ | |
haben mich so gepackt. Alle anderen lassen mich kalt. | |
Das liegt daran, dass die Band in den letzten Jahren ihren gewohnten | |
stomping ground verlassen hat. Die neuen Stücke sind ruhiger und | |
melodiöser, die Gitarren schreien selten Schmerz heraus, das Schlagzeug | |
treibt die Songs nicht vor sich her, sondern begleitet sie. Und es klingt | |
mal nicht so, als müsse der Sänger Matt Berninger in den Arm genommen | |
werden. | |
Hier spendet er Trost mit seiner samtigen, tiefen Stimme, die in | |
Sprechgesang-Passagen an Leonard Cohen erinnert [2][(„All of your | |
lonesomeness kept in your wallet“)]. Die Songs fühlten sich „schwerer, | |
wahrhaftiger und trostreicher“ an, heißt es [3][in einem langen Artikel im | |
US-Magazin New Yorker]. | |
## Überwundene Depression | |
In ihm lässt sich nachlesen, was man über die Band wissen muss. Dass sie | |
neben Berninger aus zwei Brüderpaaren besteht, welche Rolle sie in Barack | |
Obamas Wahlkampf gespielt hat und dass Berningers Depression während der | |
Pandemie ihn fast ein Jahr so paralysierte, dass er weder singen noch neue | |
Texte zur Musik der eineiigen Zwillinge Aaron und [4][Bryce Dessner] | |
schreiben konnte. | |
Dass es ihm irgendwann doch gelang – was laut Berninger den Heilungsprozess | |
weiter beschleunigte –, ist den Songs anzuhören. Sie strahlen eine | |
erwachsene Gelassenheit aus und erinnern daran, dass Krisen – sind sie erst | |
einmal überstanden – nicht das Ende markieren, sondern den Übergang zu | |
etwas Neuem. | |
Live funktionieren ausgerechnet diese Songs, die mich hergeführt haben, | |
weniger gut als die alten. Sie sind zu persönlich für die riesige Halle und | |
laden mit Ausnahme des [5][Trennungssongs „Eucalyptus“] weniger zum | |
explosiven Tanz ein als zum sanften Wiegen des Oberkörpers. | |
Aber ich vermisse nichts an diesem zweieinhalbstündigen Konzertabend. Denn | |
der überwiegende Rest der Setlist hat es in sich, ich werfe Arme und Beine | |
von mir. In diesem Setting wird der Indie-Rock für traurige | |
Mittelschichtsväter für mich lebendig. Nur gelegentlich halte ich mir die | |
Ohren zu, wenn die Gitarren miteinander zu Lärm vermatschen. Es ist ein | |
großes Sichspüren, den Sänger eingeschlossen. Er gibt alles, wie einer, der | |
im dunklen Zimmer selbstvergessen mit großer Geste seinen Gefühlen freien | |
Lauf lässt. Nur steht er auf der Bühne und zieht alle Aufmerksamkeit auf | |
sich. | |
## Er gibt sich dem Publikum hin | |
Dabei lässt sich Berninger nicht aus der Ferne anbeten, sondern die | |
Menschen ganz nah herankommen. Sie dürfen ihn berühren, umarmen gar. Immer | |
wieder begibt er sich in die Menge, einen Techniker am Mikrofonkabel hinter | |
sich herziehend. Einmal durchquert er die Halle in ihrer Längsachse bis | |
nach hinten. Die Leute streben ihm zu „wie Magnetspäne in der Petrischale“, | |
sagt F. Berninger gibt sich dem Publikum hin und sie versichern einander: | |
Wir sind da. | |
Beim allerletzten Song wünsche ich mir, ich hätte mich für das restliche | |
Œuvre der Band mehr begeistern können, denn [6][den singt das Publikum | |
alleine], text- und melodiesicher, begleitet von akustischer Gitarre und | |
Bläsern. So schön: „Vanderlyle, crybaby cry“. | |
4 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] /A-ha-auf-Tour-in-Deutschland/!5639804 | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=l4LC9YqZMOk | |
[3] https://www.newyorker.com/magazine/2023/05/08/the-sad-dads-of-the-national | |
[4] /Indiepop-Konzeptalbum-Planetarium/!5420995 | |
[5] https://www.youtube.com/watch?v=bnwAMxD6Em0 | |
[6] https://www.youtube.com/watch?v=4NuC-S1M3nk | |
## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
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