| # taz.de -- Die rechte Welle brechen: Einfallstor zur Tyrannei | |
| > Das allgemeine Unsicherheitsgefühl ist ein gefundenes Fressen für | |
| > Populisten und Demagogen. Der Staat ist gefordert, Schutz zu bieten. | |
| Bild: Unsicherheit befällt die Menschen in allen sozialen Schichten: Gewitter … | |
| Jüngst begegnete ich einem Freund und Mitstreiter, der vor wenigen Jahren | |
| Spitzenfunktionen in einer kämpferischen Linksregierung in Südeuropa | |
| bekleidete. Wir plauderten über die Misslichkeiten in diesen und jenen | |
| Nationen, und dann sagte er einen Satz, der mir sehr zu denken gab. „Wir | |
| müssen versuchen, die rechte Welle wenigstens zu bremsen. Stoppen können | |
| wir sie nicht, aber bremsen wäre gut.“ | |
| Es gab mir deshalb sehr zu denken, da er – und ich – es vor einigen Jahren | |
| als eine Schwäche der europäischen Linken charakterisiert hätten, dass man | |
| dauernd nur „das Schlimmste verhindern“ wolle. Von der Art: „Wählt uns, | |
| damit es langsamer schlechter wird …“. Wir hätten also genau dieses Mindset | |
| dafür verantwortlich gemacht, dass die extremistischen Rechten leichtes | |
| Spiel haben. | |
| Ich stellte aber fest, dass ich seine deprimierende Botschaft nicht | |
| intuitiv ablehnte, sondern dass sie mich ins Grübeln brachte. Was, wenn er | |
| recht hat? Wenn wir in einem dystopischen Moment leben, in dem schon | |
| einiges gewonnen ist, wenn wir die Machtübernahmen autoritärer Rechter | |
| verhindern, Pluralismus und Demokratie intakt halten, bis irgendwann wieder | |
| hellere Zeiten kommen? Dutzende Gründe existieren, die den Aufschwung der | |
| ethnonationalistischen, rechtsextremen Kräfte erklären. | |
| Es gibt in allen unseren Gesellschaften einen [1][kleinen, autoritären, | |
| faschistischen Kern]; rund um diesen wächst eine Anhängerschaft, die nicht | |
| in allen Fragen vollständig ideologisiert ist. Bei manchen ist es | |
| Frustration, bei vielen auch eine zunehmend verhärtete Form von Wut und | |
| Zorn. Treiber ist unter anderem das Grundgefühl, nicht mehr vertreten zu | |
| sein, keine Fürsprecher zu haben. | |
| ## Leichtes Spiel für Populisten | |
| Ein Empfinden der Abgehängtheit und des schutzlos Ausgesetztseins, das es | |
| Populisten und Demagogen leicht macht, zu sagen: „Ich bin eure Stimme.“ Die | |
| zielgerichtete Wutbewirtschaftung verhetzender Medien und neuer Wahn- und | |
| Pseudomedien, die de facto professionelle Angsterzeugungsmaschinen sind, | |
| darf auch nicht unterschätzt werden. | |
| Eigentliche Pathologie unserer Zeit ist aber die radikale, verallgemeinerte | |
| Unsicherheit. Und, was damit verbunden, aber auch nicht völlig identisch | |
| ist: das Gefühl radikaler Unsicherheit. „Unsicherheit und Angst“, schreibt | |
| Martin Wolf, Chefkommentator der britischen Financial Times, seien | |
| „Einfallstore zur Tyrannei“. | |
| In Demokratien werden die Bürger und Bürgerinnen ein Mindestmaß an | |
| [2][ökonomischer Sicherheit] fordern, und wenn die politischen und | |
| ökonomischen Funktionseliten diese nicht garantieren können, dann gerät | |
| die Demokratie selbst in Gefahr, so Wolf. Kommen zum unmittelbaren | |
| Empfinden noch düstere Zukunftserwartungen hinzu, dann sind wir ziemlich | |
| genau in unseren Kalamitäten. | |
| Der legendäre französische Historiker Lucien Febvre schrieb einst einen | |
| Aufsatz, an dem mich vor allem der Titel so begeisterte, dass er mir seit | |
| Jahrzehnten nicht mehr aus dem Kopf geht. „Zur Geschichte eines Gefühls: | |
| Das Bedürfnis nach Sicherheit.“ Letztlich geht es in dem Text um die | |
| Geschichte des Versicherungswesens. Dieser Titel hat aber auch viele | |
| Obertöne: Gefühle, die eine Geschichte haben. Der soziokulturelle Wandel | |
| und der Neoliberalismus haben viele Sicherheiten zerstört. | |
| ## Arbeit, Wohnung, Beziehung auf Zeit | |
| Auf einen sicheren Arbeitsplatz kann sich niemand mehr verlassen, und von | |
| der Lebensabschnittspartnerschaft über die Universitätsstelle bis zum | |
| Mietvertrag ist heute alles befristet. Und dann die großen Krisen: von der | |
| Finanzkrise über Einkommensstagnation bis zu dem großen Krisenstakkato | |
| dieser Jahre unseres Missvergnügens: Corona, Klimakatastrophe, Krieg, | |
| Inflation. | |
| Das Unsicherheitsgefühl frisst sich überall hinein. Immer mehr Menschen | |
| haben die Sorge: Kann ich in vier Monaten noch meine Rechnungen bezahlen? | |
| „[3][Why Does Everyone Feel So Insecure All the Time?]“ – „Warum fühlen | |
| sich alle permanent so unsicher?“, fragte die New York Times vor zwei | |
| Wochen in einem großen Essay der Autorin, Filmemacherin und Aktivistin | |
| Astra Taylor. | |
| Das Schamgefühl, wenn das Inkassobüro klingelt oder gar der | |
| Gerichtsvollzieher vor der Tür steht; der Adrenalinschub, wenn die nächste | |
| Miete fällig ist; die Angst, wenn man an die Rente denkt, die sowieso nicht | |
| reichen wird. Taylor lenkt die Aufmerksamheit auf „fabrizierte | |
| Unsicherheit“. Unsicherheit wurde vorsätzlich verstärkt, um Menschen agiler | |
| zu machen, damit innerbetriebliche Solidaritäten untergraben wird, damit | |
| sie im Job spuren. | |
| Die Wettbewerbskultur, die wir etabliert haben, hält die Menschen ja nicht | |
| nur mit der Karotte, also den positiven Anreizen, auf Trab, sondern mit dem | |
| Stock der negativen Botschaft: Funktioniere oder du kommst unter die Räder. | |
| Im Unterschied zu Missständen wie „Armut“ oder „Ungleichheit“, so Tayl… | |
| sehr wichtige Beobachtung, „befällt Unsicherheit Menschen auf nahezu jeder | |
| Sprosse der sozialen Leiter“. | |
| ## Keine Verbesserung in Sichtweite | |
| Unten wissen sie nicht mehr, wie man am Ende des Monats Essen auf den Tisch | |
| bringt, in den unteren Mittelschichten [4][stöhnt man bei der monatlichen | |
| Miete], und in den oberen Mittelschichten schlafen die Menschen mit Sorgen | |
| ein, weil die Kredite für das Eigenheim kaum mehr zu stemmen sind. | |
| Chronische Gefühle von Unsicherheit machen krank, führen zu Depressionen, | |
| erhöhen das Herzinfarktrisiko. | |
| Weil die Unsicherheit die verschiedensten sozialen Milieus bis in die | |
| gehobene Mittelschicht befällt, kämpfen alle auch um ihre kleinen Vorteile. | |
| Martin Wolf spricht von der „Economics of ‚Status Anxiety‘“, also der | |
| Ökonomie der Statusunsicherheit. Diese Abstiegsangst haben all jene, deren | |
| Status „niedrig genug ist, um Sorge zu begründen, die aber zugleich immer | |
| noch eine ausreichend gute Position zu verteidigen haben“. | |
| Vier Prozent [5][Reallohnverlust] im Durchschnitt (!) brachte das Jahr | |
| 2022. Man muss kein Pessimist sein, um zu befürchten, dass es 2023 noch | |
| schlimmer kommt. Wer die rechte Welle brechen will, muss glaubwürdig das | |
| Bedürfnis nach Sicherheit der Menschen stillen. Gefragt ist ein Staat, der | |
| schützt. | |
| 27 Sep 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Schwerpunkt-AfD/!t5495296 | |
| [2] /Wirtschaftskrise-in-Deutschland/!5950441 | |
| [3] https://www.nytimes.com/2023/08/18/opinion/inequality-insecurity-economic-w… | |
| [4] /Hohe-Wohnkosten-in-Deutschland/!5791711 | |
| [5] /Realloehne-sinken-drastisch/!5874898 | |
| ## AUTOREN | |
| Robert Misik | |
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