# taz.de -- Die Wahrheit: Challenge the Herausforderung | |
> Wahrheit investigativ: Die ständige Selbstwirksamkeitskultur treibt immer | |
> krudere Blüten. Auf den Spuren von Jason B. | |
Bild: Jason B. auf sehr geheimem Weg zur sehr geheimen Challenge | |
Es gibt sie in fast allen Bereichen der Gesellschaft. Jede Hausse an der | |
Börse gilt ihnen als Beweis ihrer Investmentgenialität, jede Baisse als der | |
richtige Moment einzusteigen. Trennt sich die Freundin oder der Chef von | |
ihnen, hielten solche Leute sie eh nur zurück, bleiben sie, beweist das | |
ausschließlich ihre höchst eigenen übermenschlichen Qualitäten. Selbst | |
Tragödien begreifen sie als Wachstumschance. Die FDP mit ihrem Mantra | |
Empathie gleich Schwäche, man selbst der geilste einsame Wolf des | |
millionenstarken Rudels und die anderen einzig Schafe – das ist ihre | |
Partei. | |
Diese meist noch recht jungen Männer herrschen über Reiche, die zum | |
Beispiel aus mittelmäßig laufenden Online-Marketing-Ich-AGs oder so ähnlich | |
bestehen. Sie sind so etwas wie Selbsthilfe- und Businesscoaches auf | |
Steroiden. Überall lauert die Herausforderung, die Challenge. Basis dieser | |
Challenger-Ideologie ist die ständige Selbstwirksamkeitskultur, die man in | |
jedem Fitnessstudio, jeder BWL-Vorlesung, auf X-Twitter und auf sonst wo | |
findet. | |
Ihre extremsten Vertreter sind Teil der voll krassen Subkultur der | |
„Challenger“. Sie wollen sich nicht nur durch Sport oder vermeintliche | |
Bildung, nein, auch durch komplett schädigende und absurde Challenges fit | |
machen für das Leben als „Mann“. Die Wahrheit hat sie besucht. | |
Ein geheimer Ort bei Hamburg. Umringt von alten Autoreifen werden wir hier | |
auf konspirative Einladung eines jungschen Typen namens Jason B. Teil | |
eines Rituals. Jason will sich hier und heute absichtlich temporär | |
erblinden lassen. Sein szenetypisch „Bro“ genannter Freund Cosmo K. hat | |
schon vor zwei Wochen diese Challenge absolviert. Jetzt verstehen wir, | |
warum er auf dem Weg zum Ritual ständig gegen Autos und Passanten gelaufen | |
war. | |
## Was es wirklich heißt, ein Mann zu sein … | |
Jason ist sichtlich nervös, Cosmo beruhigt ihn: „Alles halb so schlimm, du | |
wirst schon sehen.“ Der Prüfungsleiter, eine Mischung aus Businesscoach und | |
Schamane, wird Jason gleich eine selbst gebraute Chemikalie in die feuchten | |
Augen sprühen, die ihn für 14 Tage praktisch erblinden lässt. Erst ohne | |
Augenlicht könne Jason erkennen, was es wirklich heißt, ein Mann zu sein, | |
sagt uns später „im Vertrauen“ der sich selber als „Schamane“ bezeichn… | |
Auf unsere Frage, ob es für diese Erkenntnis wirklich solch eine Tortur | |
brauche, antwortet er lakonisch: „Ich weiß nur eins: Ich war blind, und | |
jetzt kann ich sehen! Geiler Spruch oder? Hab ich mir selbst ausgedacht – | |
als ich blind war!“ | |
Einige Wochen später sehen wir Jason auf der Reeperbahn wieder. Auch er | |
sieht uns wieder, die Folgen der Chemikalienbehandlung sind mittlerweile | |
abgeklungen. Jason schlingt am Straßenrand ein rohes Stück Fleisch | |
herunter. Nein, das sei „keine Challenge“, nicht wirklich, „ich mache | |
einfach Paläo-Diät“. Auf die Frage, was ihm die Challenge gebracht habe, | |
antwortet er überzeugt: „Ich kann jetzt ganz klar sehen, was vor mir liegt. | |
Und zwar noch mehr Challenges, weil diese hier mir nicht wirklich was | |
gebracht hat.“ | |
Der 29-Jährige, der irgendwas mit „Digital“ macht, lädt uns ein, ihn auf | |
seinem „weiteren Weg“ zu begleiten. Der führt ihn heute zu einem | |
Schönheitschirurgen. Die nächste Challenge kostet also nicht nur | |
Überwindung, sondern vor allem viel Geld. Denn laut Challenger-Bibel „The | |
Art of Sein werde“ – eine Anspielung auf das neben Machiavellis „Der Für… | |
beliebte Buch „The Art of War“, muss sich Jason nun künstliche Bauch- und | |
Bizepsmuskulatur einsetzen lassen. Denn Stärke beginnt natürlich und auch | |
laut Handbuch im Kopf. „Außerdem mache ich ungern Sport, von daher spielt | |
mir das in die Karten“, meint Jason schulterzuckend. | |
Dass die Challenge für ihn finanziell kein Problem darstellt, liegt daran, | |
dass er bereits einige Jahre Teil einer Dauer-Challenge war, bei der er | |
kostbare Lebenszeit gegen schnöden Mammon tauschen musste. „So konnte ich | |
erkennen, dass es im Leben nicht nur um Geld geht.“ Ein „Learning“, für … | |
er der Agentur für Arbeit bis heute dankbar sei. | |
Kaum ist die letzte OP-Naht beim Schönheitschirurgen gezogen, startet Jason | |
auch schon in die sogenannte Ja-Sager-Challenge, bei der man zu allem Ja | |
sagt, um im Anschluss zu erkennen, dass man selbst entscheiden kann, was | |
man will. Jason meistert die Prüfung mit lediglich einem blauen Auge. Einem | |
Türsteher hatte er auf die Frage „Haben wir ein Problem?“ mit „Ja“ | |
geantwortet. | |
Später erfahren wir, dass es die Ja-Sager-Challenge nur gibt, weil einem | |
der Challenger-Anführer „Der Ja-Sager“ mit Jim Carrey so gut gefallen | |
hatte. Diese Tatsache trauen wir uns aber dann doch nicht mit Jason zu | |
teilen. | |
In den kommenden Wochen und Monaten begleiten wir Jason immer wieder bei | |
Challenges. Ungesichert etwa klettert er nacheinander auf eine Birke, eine | |
Eiche und eine Tanne. Er erkennt so, dass Geld nicht auf Bäumen wächst. | |
Nachmittags um drei fängt er auch schon mal einen Wurm. Dabei begreift er | |
schließlich in Hamburg-Rahlstedt, dass es beim Wurmfangen nicht auf die | |
Uhrzeit, sondern die Technik ankommt. Jason läuft eine Woche rückwärts, um | |
schätzen zu lernen, was vor ihm liegt. Drei Tage verbringt er außerdem in | |
vollkommener Isolation, isst nur Ohrenschmalz. Bei dieser | |
GuantanaBro-Challenge erkennt Jason, wie süß die Freiheit schmeckt. | |
Nach einem halben Jahr reißt der Kontakt zu ihm plötzlich ab. Zuletzt | |
schreibt Jason uns, dass er sich bereits fast als vollwertiger „Mann“ sehe. | |
Zu diesem hätten ihn die Challenges, aber auch ein Knastaufenthalt gemacht | |
– einige Challenges sind schlicht nicht legal. So unerwartet aber, wie er | |
abgetaucht ist, meldet Jason sich dann eines schönen Tages doch wieder. | |
Sein Lehrmeister habe ihn überzeugt, an einer „letzten Challenge“ | |
teilzunehmen. Danach sei seine „Mannwerdung“ abgeschlossen. Bei diesem | |
finalen Ritual wolle er uns „gerne“ dabeihaben. Wir nehmen das Angebot nach | |
Hamburg-Blankenese an. | |
## Sich als Mann nicht ausbeuten lassen | |
Im Park einer hochherrschaftlichen Villa sehen wir nicht nur Jason sondern | |
auch den Schamanen wieder. Heute fände hier nur die „Initiation“ statt, die | |
eigentliche Herausforderung sei potenziell endlos. „Es geht darum zu | |
erkennen“, so der plattfüßige Schamane, „dass man sich als Mann nicht | |
ausbeuten lässt und nicht auf Scharlatane reinfällt.“ | |
Generell sei man frei zu tun, was man wolle. „Deshalb wird Jason jetzt so | |
lange unbezahlt für mich arbeiten, bis er merkt, dass ich ihn verarsche. | |
Und erst wenn er mir auf die Fresse gehauen hat und gegangen ist und nicht | |
mehr zu den Challenger-Treffen kommt, dann erst wird Jason es geschafft | |
haben.“ | |
Wir wohnen noch einige Minuten dieser fulminanten Initiation bei. Jason | |
kärchert hochkonzentriert die Einfahrt des Schamanen. Dann gehen wir. Die | |
Challenge, diesen noch jungen Mann weiter bei der Selbstfindung zu | |
begleiten, diese letzte Challenge können wir nicht meistern. | |
25 Sep 2023 | |
## AUTOREN | |
Ernst Jordan | |
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