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# taz.de -- Die Wahrheit: Der Rächer der Gedrosselten
> Wahrheit auf der Straße: Unterwegs mit Deutschlands fiesestem Blitzer im
> Geschwindigkeitskontrollparadies auf der B27 bei Reutlingen.
Bild: Blitzen geht auch nett: Da möchten alle unbedingt kontrolliert werden
Er strahlt die stille Bedrohlichkeit eines Daleks aus der
Science-Fiction-Serie „Doctor Who“ aus. An ihn heranzukommen, ist höchst
kompliziert, trotz seines unscheinbaren Äußeren, trotz seiner
zylindrischen, etwa drei Meter hohen Form und den zwei rote Augen
übereinander.
Letztlich blieb uns nur übrig, mit 200 Sachen und einem Pappschild, auf dem
die Frage „Interview?“ plus unsere Telefonnummer stand, über die B27 bei
Reutlingen zu brettern. Tage später kam die Erlösung per SMS:
„Brückenpfeiler 17, 2. Dezember, 15 Uhr. Die einzige Kamera bin ich.“
Jackpot! Er hatte angebissen, er, der „Blitzer“.
Er, den man in deutschen Amtsstuben nur ehrfürchtig „Messstation zur
Geschwindigkeitsüberwachung“ nennt, der sich selbst aber als „Deutschlands
fiesester Blitzer“ bezeichnet. Er, der uns schon beim ersten
Messgeräteschütteln unter der Autobahnbrücke deutlich macht, dass er sich
diesen Titel redlich verdient hat: „Bis zu 1.400 Verkehrssünder pro Tag, in
fünf Jahren 330.492! Macht Millionen Euro Bußgeldeinnahmen für den
Landkreis“, rattert er runter. „Und das macht mir keiner nach!“
Wir sind hier, zwischen Gestrüpp und Rollsplitt, umringt von achtlos aus
dem Fenster geworfenen McDonald’s-Tüten, um herauszufinden, wie die
Radarfalle hinter Deutschlands fiesestem Blitzer wirklich tickt. Seine
Sicht: Er kämpft für Gerechtigkeit. Schließlich hat, wer sich an die
geltende Geschwindigkeitsbegrenzung hält, nichts von ihm zu befürchten. Er
bestraft nur „Tempo-Tunichtgute, StVO-Hallodris und
Bundesstraßen-Haderlumpen – ich bin der Rächer der Gedrosselten“.
## Dienst nach Vorschrift
Versonnen blicken wir lange über die nicht nur an diesem diesigen
Dezembernachmittag trostlose Betonschlange vor uns. Selbstverständlich
macht er nur Dienst nach Vorschrift, verhilft geltendem Recht auf die
rechte Bahn. Aber nur der Gerechtigkeitssinn würde eine solch hochgerüstete
Maschine doch nicht dauerhaft an diesem tristen Ort halten, oder?
Auf die Frage, ob er Genuss bei seiner Arbeit empfinde, reagiert er
gereizt. „Nun mal 100 km/h mit den jungen Pferden, innerorts 50 km/h!“ Er
erzwinge gern Entschleunigung, gesteht er, während er seine Radarstrahlen
über den von seinen Einnahmen finanzierten, aber längst kalt und grau
gewordenen Blühstreifen gegenüber schweifen lässt. Entschleunigung täte
doch allen gut, fügt er mechanisch lachend an, wird aber schnell wieder
ernst. Am Ende ginge es auch beim Blitzen nur ums Geld. Nicht für ihn,
nein, „nur für mehr Blitzer, für sichereres Autofahren“.
Erstaunt horchen wir auf. Ein Blitzer, der pro Auto ist? „Aber
selbstverständlich. Sehen Sie den Tesla, der dort gerade angerast kommt?
Wie soll man den nicht lieben?“ Schlägt in diesem grimmigen Gewirr aus
Drähten etwa doch ein Herz?
Gerade als wir glauben, ihn verstanden zu haben, scannt Deutschlands
fiesester Blitzer nach unten und kratzt mit seinem Betonfuß ein paar
Kippenstummel aus dem Kies. Eine Sache gebe es da allerdings, die mache ihn
manchmal traurig. Er stockt kurz, wischt sich unauffällig einen Öltropfen
aus der Linse. Niemand werde gern „überteuerte Einwegkamera“ genannt oder
damit bedroht, demnächst Sterne zu sehen. Wenn sich seine Gedanken nachts
im Stromkreis um solche Hassbriefe drehten, ja, dann könne er manchmal
nicht einschlafen.
## Fotos von Fans
Plötzlich aber strahlt er unter seinem noch tränenfeuchten Lidar, seinem
dreidimensionalen Laserscanner. „Aber ich kriege auch viel Fanpost!“ Kinder
zeichneten Bilder von ihm mit Radarfrau und Radarkindern in einem Haus
unter einer Brücke. Einmal habe er sogar die Hochzeitsfotos zweier
Blitzerfans machen dürfen. Selbst der Igel, der sich just in diesem Moment
seelenruhig an ihm schubbert, scheint dankbar für das zu sein, was er,
Deutschlands fiesester Blitzer, hier jeden Tag für die Gesellschaft, für
uns alle leistet.
„Alles in allem“ habe er seinen „Traumjob“ gefunden, erklärt er sanft
lächelnd, während für uns das „fies“ in seinem Titel langsam an Bedeutung
verliert. Das gebe er auch jedem mit gut lesbarem Kennzeichen schwarz auf
weiß. Für immer möchte er den Job trotzdem nicht machen. Deutschlands
fiesester Blitzer träumt von einem zweiten Leben „als Action Cam in einer
Wildwasserbahn. Jeden Tag lachende Kinder fotografieren: Das wäre schön!“
Nachdenklich betrachten wir den Rächer der Gedrosselten. In seinen Träumen
ist selbst dieses Maschinenwesen manchmal einfach nur ein Mensch. Mit Herz
und Seele. Sein Angebot zu einem Erinnerungsfoto lehnen wir dennoch dankend
ab – und brettern von dannen auf der B27 bei Reutlingen.
5 Dec 2023
## AUTOREN
Ernst Jordan
## TAGS
Blitzer
Straßenverkehr
Geschwindigkeitsüberschreitung
Kolumne Die Wahrheit
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Reichsbürger
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Schwerpunkt Klimawandel
Die Wahrheit
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