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# taz.de -- Segler mit Fluchterfahrung: Flüchtling im Regattafieber
> Kyaw Soe ist Videojournalist aus Myanmar – nach dem Putsch 2021 musste er
> sich verstecken. Sein Steuermann erzählt, wie er zum Segeln gekommen ist.
Bild: Das Feld der H-Boote beim Start: Auftaktregatta bei der Deutschen Meister…
Berlin taz | „Segeln war früher für mich unvorstellbar. Ich kannte das nur
aus Filmen und als Sport der Elite und von hohen Militärs“, sagt Kyaw Soe.
Der 38-jährige Videojournalist, dem ein Praktikumsangebot der taz im
Dezember 2021 zur Flucht aus Myanmar verhalf, ist seit einem Jahr
Vorschoter auf meinem H-Boot.
Gerade haben wir zusammen mit Kai Müller, ebenfalls Journalist, die
Internationale Deutsche Meisterschaft der H-Boote auf dem Berliner
Müggelsee als 13. von 31 Booten beendet. Hätte ich nicht so viele Starts
versemmelt und wäre uns bei der letzten Wettfahrt der sehr unstete Wind
gnädiger gewesen, hätten wir auch besser sein können. Schließlich kamen wir
je einmal als Zweite und als Dritte ins Ziel.
„Erzähle ich Freunden aus Myanmar, dass ich gerade an einer Deutschen
Segelmeisterschaft teilgenommen habe, glaubt mir das niemand. Sie halten
mich dann für einen Angeber“, sagt Kyaw Soe. „Manchmal kann ich es ja
selbst nicht glauben. Ich denke dann, ich träume.“
Umgekehrt dürften auch die meisten Segler hierzulande das südostasiatische
Myanmar nicht auf ihrer Seekarte haben. Dabei ist das dortige
Mergui-Archipel in der Andamanensee Ziel von Luxus-Segel- und Tauchtouren.
Und mitten in Yangon (Rangun), der früheren Hauptstadt, liegt der mit der
Hamburger Außenalster vergleichbare Inya-Lake, Heimat des elitären Yangon
Sailing Club. Dessen Präsident Moe Myint steht auch dem nationalen Verband
vor und ist ein mächtiger Öl- und Gastycoon. Früher war er laut Wikipedia
der Pilot des Langzeitdiktators Ne Win.
## Sohn von Kautschuk-Bauern
Kyaw Soes Eltern sind Kautschuk-Bauern in einem Dorf im tiefen Süden des
Landes an der Grenze zu Thailand. Seine Berichte über den lokalen
Widerstand gegen eine Gaspipeline, die der französische Konzern Total dort
in Kooperation mit der damaligen Militärjunta nach Thailand baute, machte
ihn zum Korrespondenten des Senders Democratic Voice of Burma. Der wurde
von Norwegens Regierung finanziert und brachte Kyaw Soe im thailändischen
Bangkok das journalistische Handwerk bei. Sein Studium verdiente er sich
mit Kautschukhandel, zudem baute er einen regionalen Journalistenverband
auf und betrieb ein lokales Nachrichtenportal.
Doch am 1. Februar 2021 stürzte das Militär die gerade wiedergewählte
Regierung der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi. Seitdem herrscht
wieder eine brutale Diktatur, gegen die sich die Bevölkerung auch bewaffnet
wehrt. Laut der angesehenen lokalen Menschenrechtsorganisation [1][AAPPB]
haben Juntakräfte bisher rund 4.100 Menschen getötet und 24.800 verhaftet.
Kritische Medien wurden verboten, Journalisten müssen untertauchen, fliehen
oder den Beruf wechseln. Da in Myanmar Personalausweise die
Berufsbezeichnung enthalten, sind Reporter leicht zu identifizieren.
Über Monate versteckte sich Kyaw Soe bei einer Familie. Er blieb sogar
unentdeckt, als das Militär das Haus durchsuchte, doch darauf drängte ihn
die Familie zur Flucht. Er kontaktierte mich in Berlin und findigen
Kolleginnen gelang es, ihm ein Visum für ein Praktikum zu besorgen.
Als wir Wochen später bei einer Radtour um den Wannsee am Winterlager
meines Bootes vorbeikamen, bemerkte ich sein Erstaunen. Er wollte mir als
Dank unbedingt helfen, das Boot für die Saison fit zu machen. Dafür nahm
ich ihn später mal zum Segeln mit unter der Bedingung, dass er als
Nichtschwimmer immer eine Schwimmweste trägt.
Als typischer Videojournalist machte er aus seiner ersten Segelerfahrung
gleich einen Film. Die Vereinigung der H-Boot-Segler hatte mir als ihrem
Regionalobmann eine 360-Grad-Kamera geschickt. Die sollte ich an Mitglieder
verleihen, damit diese unsere Social-Media-Kanäle mit Videos bespielen. Da
aber letztlich niemand die Kamera leihen wollte, bat ich Kyaw Soe, sie
auszuprobieren. So kam er öfter an Bord – als [2][Kameramann].
## Zentimeter statt Inches
Im letzten Herbst fehlte mir bei einer Regatta ein Vorschoter und ich bat
ihn, einzuspringen. Als ich ihn während der Wettfahrt aufforderte, eine
Leine um einen Zentimeter zu fieren, schaute er mich hilflos an. Denn
Zentimeter sagen ihm nichts, weil im von den Briten kolonisierten Myanmar
in Inches gemessen wird. Die sind mir aber nicht vertraut.
Da ich auch nicht die Namen aller Leinen, Bootsteile und Segelausdrücke auf
Englisch kenne, entwickelten wir unsere eigene Sprache: „Open the thin
yellow one two thumbs please“ meint etwa das Auffieren der dünnen gelben
Leine rechts oder links auf dem Kajütdach um etwa drei Zentimeter, mit der
sich das Segel im unteren Bereich flacher oder bauchiger einstellen lässt.
Zum Glück hat bei mir an Bord ohnehin jede Leine schon eine andere Farbe.
Inzwischen ist Kyaw Soe damit nicht nur vertraut, sondern versteht auch,
warum er etwas verstellen soll, wenn Kurs oder Windstärke sich ändern.
Dank der wöchentlichen Donnerstagsregatten der Vereine von Stößensee und
Scharfer Lanke an der Berliner Unterhavel ist er heute fast schon ein alter
Hase. Ihn wundert längst nicht mehr, warum Segler so oft nach oben schauen,
wie er es einmal in einem [3][taz-Artikel] beschrieben hat. Wie wir hat er
verinnerlicht, dass oben auf der Mastspitze der Verklicker die Windrichtung
anzeigt. Auch die Böen kann er auf dem Wasser vorher erkennen. Als wir
jetzt bei der Meisterschaft einen Strafkreis drehen mussten, kannte er auch
das schon.
Der andere Vorschoter Kai ist voll des Lobes: „Kyaw Soes Auffassungsgabe
ist phänomenal, vor allem was die Abstimmung innerhalb des Teams betrifft.
Er versteht schnell, wo er sitzen, welche Leine er ziehen muss, welche
Einstellungen richtig sind. Dabei bewegt er sich mit der Geschmeidigkeit
einer Katze übers Deck.“ Es bereite ihm keine Mühe, Abläufe immer auf
dieselbe eingespielte Art durchzuführen.
## Nie ohne Kamera
Längst hat Kyaw Soe das Regattafieber gepackt. Die Teilnahme an der
Meisterschaft war da nur noch die logische Konsequenz. Dabei hatte ich ihn
eigentlich anheuern wollen, um darüber ein Video zu drehen. Doch dann
fragte ich ihn lieber als Mitsegler an. Trotzdem griff er vor und nach
einigen Rennen routiniert zur Kamera und machte daraus mal eben [4][einen
kleinen Film], der die hochsommerliche Atmosphäre und Leichtwindstimmung
gut einfing.
Bei der Meisterschaft war die Konkurrenz groß, der Wind nicht einfach. Kai
erinnert sich: „Als es am ersten Tag nicht so gut lief für uns, fragte Kyaw
Soe mich abends, was er selbst tun könne, damit wir als Team besser würden.
Mir fiel nicht viel ein, was ihn betraf. Denn Fehler hatte er nicht
gemacht. Doch sagte ich ihm, dass er bei Vorwindkursen der Einzige ist, der
nach hinten in Richtung des Windes blicke. Dafür braucht es ein erfahrenes
Auge. Schon am nächsten Tag gab uns Kyaw Soe Infos über das Verhalten der
Verfolger und Änderungen des Windes – unaufdringlich und präzise.“
Darüber hinaus fühlt sich Kai durch seinen Ko-Vorschoter kulturell
bereichert: „Meine eigene Aufmerksamkeit ihm gegenüber wird dadurch erhöht,
dass nicht nur das Segeln, sondern die ganze deutsche Kultur
erklärungsbedürftig ist. Kyaw Soe Dinge zu zeigen, die er noch nicht kennt,
sei es 'süßes Bier’ (Radler) oder süßen Senf, macht mich selbst wacher und
sensibler für meine Gewohnheiten. Das betrachte ich als ein Geschenk.“
Ein Schock für uns war, als wir am Eröffnungstag der Meisterschaft
erfuhren, dass in Myanmar der Pressefotograf Sai Zaw Thaike zu [5][20
Jahren Haft und harter Arbeit wegen „Falschinformation“ und „Aufwiegelung…
verurteilt wurde. Es ist die bisher [6][höchste Gefängnisstrafe für einen
Journalisten seit dem Putsch]. Er hatte über die tödlichen Folgen des
Zyklons Mocha im Mai berichtet, was die Junta unterbinden wollte. Jetzt
hatte er im Prozess nicht einmal einen Anwalt.
„Ich hoffe, er wurde nicht gefoltert,“ sagt Kyaw Soe. „Der Fall vergröß…
meine Angst, nach Myanmar zurückzukehren.“ Für die meisten Menschen sei die
Vorstellung der Rückkehr in die Heimat doch eigentlich berauschend, für
Flüchtlinge aus Myanmar aber mit großen Ängsten verbunden. Nachdem die
Bewerbung um ein Aufbaustudium zweimal an Formalien scheiterte, darf er
inzwischen für drei Jahre in Deutschland als freier Journalist arbeiten.
Doch davon sind schon acht Monate vergangen.
## Ohne Familie in Deutschland
„Ich ahne, dass es in seinem Leben auch eine dunkle, traurige Seite gibt,
über die wir nicht reden. Seine Familie zurückgelassen zu haben und über
Nacht in ein fremdes Land geflohen zu sein, muss belastend sein. Man spürt
es an Kyaw Soes Ernsthaftigkeit. Je besser ich ihn kennenlerne, desto
größer mein Wunsch, er möge hier glücklich und stolz auf sich sein,“ sagt
Kai.
„Mich beruhigt das Segeln sehr,“ sagt Kyaw Soe, der in Myanmar zwei Kinder
hat. „Es gibt mir Kraft und ist eine gute Ablenkung. Mich hat sehr
beeindruckt, dass wir uns als Team nicht haben entmutigen lassen, als wir
anfänglich nicht so gut abgeschnitten haben.“ Sein Verhalten und sein Blick
hätten sich schon verändert, wenn er Boote sehe, sagt er. Er achte jetzt an
Häfen auf Masten und was für Segelboote er dort sehe. Auch beachte er die
Wind- und Wetterbedingungen. „Ich muss jetzt noch mehr lernen über Theorie
und Technik des Segelns und was mir die Wolken sagen.“ Das wird er
sicherlich schaffen.
25 Sep 2023
## LINKS
[1] https://aappb.org/?p=26280
[2] https://www.youtube.com/watch?v=ewtszz7aNog
[3] /Alternativen-zur-Fussball-WM/!5896458
[4] https://www.youtube.com/watch?v=xexTzTLVbgg&t=11s
[5] https://cpj.org/2023/09/myanmar-now-photojournalist-sai-zaw-thaike-sentence…
[6] /Pressefreiheit-in-Myanmar/!5958793
## AUTOREN
Sven Hansen
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