# taz.de -- Niedergang einer lokalen Ökonomie: Erst die Flammen, dann die Razz… | |
> In der Hamburger Billstraße hat sich ein reger Handel mit Elektrogeräten | |
> und Autos entwickelt. Dann brannte es eine Woche lang. Seitdem ist alles | |
> anders. | |
Bild: Am vergangenen Dienstag waren die gastronomischen Betriebe dran: Razzia i… | |
HAMBURG taz | Auf den ersten Blick wirkt das geschäftige Treiben in der | |
Billstraße in Hamburg auch Monate nach dem Großbrand unverändert. | |
Verkaufsflächen reihen sich aneinander, Ladenbesitzer sitzen auf Stühlen | |
davor und unterhalten sich mit Laufkundschaft und Bekannten, hier und da | |
eine Imbissbude zwischen den Lagerhallen. Die Anwohner*innen und | |
Beschäftigten scheinen müde, vor allem von Schaulustigen, die seit dem | |
Brand immer noch kommen. | |
Das Bezirksamt spricht von „basarähnlichen Strukturen“, das stadtpolitische | |
Ziel für die Billstraße in Hamburg ist die Umwandlung in ein „klassisches | |
Industriegebiet“. | |
Der [1][Brand am Ostersonntag] dieses Jahres begann mit kleinen Flammen in | |
lagernden Autos und Waschmaschinen und entwickelte sich zu einem der | |
schwersten Brände der vergangenen Jahre in Hamburg. Eine Woche dauerte es, | |
bis auch die letzten Glutnester gelöscht waren, Tausend Feuerwehrleute | |
waren involviert. | |
Nach dem Großbrand, bei dem [2][17.000 Quadratmeter Lagerfläche abgebrannt] | |
waren, hatte die Stadt hier Verstöße gegen die Brandschutzordnung und | |
illegale Wohnunterkünfte auf den Gewerbeflächen entdeckt. Seitdem fanden | |
vier Razzien statt, zuletzt am Dienstag dieser Woche: Die Polizei | |
durchsuchte zwölf Gaststätten und Imbisse und kontrollierte, ob es | |
Verstöße gegen Bau- und Lebensmittelrecht sowie Brandschutzauflagen gab | |
oder Schwarzarbeit. | |
Als Teil des Industriegebietes Billbrook/Rothenburgsort ist die Billstraße | |
von großem industriepolitischem Wert. Sie gehört zum größten | |
zusammenhängenden Industriegebiet Norddeutschlands außerhalb des | |
[3][Hamburger Hafens] und liegt angebunden an die S-Bahn-Haltestelle | |
Rothenburgsort. Umgeben von Kanälen und mehr als 1.000 Betrieben, hat sich | |
in dieser Straße in den vergangenen Jahrzehnten ein Verkaufsort für | |
gebrauchte Elektrogeräte entwickelt. Was mit dem An- und Verkauf | |
vereinzelter Geräte begann, entwickelte sich zu Kleinbetrieben und | |
Lagerhallen, die sich in den Straßen aneinanderreihen. Es werden | |
Haushaltsgeräte verkauft, Fahrräder oder Abendkleidung. | |
„Die Menschen in der Billstraße sind zum Arbeiten hier und das meistens | |
schon seit 40 Jahren“, erzählt Moradi Javad. Er ist der Besitzer einer der | |
drei abgebrannten Lagerhallen und musste im April zusehen, wie seine Arbeit | |
in Flammen aufging. Danach stand er vor dem Nichts, hat nun gegenüber der | |
Brandstelle ein kleineres Gewerbe aufgemacht. | |
Javad ist wütend, sieht die Verantwortung bei der Stadt. Er finde es | |
schade, dass alle Gewerbetreibenden in der Billstraße pauschal | |
vorverurteilt würden. „Die meisten haben mit den illegalen Wohnunterkünften | |
nichts zu tun, sie haben sich hier ein Leben aufgebaut, zahlen seit | |
Jahrzehnten Steuern. Was passiert mit diesen Menschen, mit uns?“ | |
Für viele der dort Beschäftigten ist die Billstraße ihr Lebensmittelpunkt. | |
35 Prozent der Einwohner*innen im Stadtteil Rothenburgsort besitzen | |
keine deutsche Staatsbürgerschaft. Der Besitzer einer Imbissbude in der | |
Billstraße nennt das Gebiet scherzhaft das „kleine Afghanistan“ Hamburgs. | |
Ein Narrativ, das von rechts-konservativen Parteien nur zu gern | |
aufgegriffen wird. | |
Auf Fragen der taz reagieren viele verhalten, namentliche Erwähnungen | |
werden von den meisten Passant*innen abgelehnt. Der überwiegende Teil | |
von ihnen ist sich aber einig: Geändert hat sich hier nicht viel. „Diese | |
Altautos wurden mehr entfernt, die standen hier überall auf den Straßen | |
herum“, erzählt eine Bewohnerin. Mehr Polizeipräsenz sei ihr aber nicht | |
aufgefallen. „Außer während der Razzien, da wurde hier die ganze Straße | |
gesperrt.“ | |
Lutz Hinrichs sei vor allem die Veränderung der Infrastruktur um die nahe | |
gelegene S-Bahn-Station aufgefallen. Er arbeitet bei der Sozialbehörde | |
gegenüber der Station und hat den Wandel der vergangenen Monate beobachtet: | |
„Da sind Cafés und ein Fitnessstudio entstanden, der Frisör wurde | |
renoviert.“ | |
Hirad Afraz sieht eine Veränderung vor allem durch die Anzahl der | |
Kund*innen. Er arbeitet seit Anfang des Jahres in dem Frisörsalon und | |
frisiert viele der Gewerbebesitzer*innen. „Seit dem Brand haben wir fast | |
keine Laufkundschaft mehr, nur noch die Stammkunden von hier.“ Er wisse | |
selbst wenig über behördliche Maßnahmen, seine Kund*innen erzählten | |
aber, dass die Polizeikontrollen in den Läden gestiegen seien. „Die | |
Polizei will hier Ordnung machen – vielleicht gar nicht so schlecht.“ Er | |
lacht. „Ich habe gehört, sie wollen hier alles plattmachen, dann soll | |
Hafengelände hier hin. Aber keine Ahnung.“ | |
## Angst vor der Zukunft | |
Keine Ahnung – so scheint es den meisten zu gehen, die in oder um die | |
Billstraße arbeiten. „Ich habe gehört, bald gibt es eine neue Billstraße in | |
Richtung Kiel“, erzählt ein Imbissbudenbesitzer, der seinen Namen lieber | |
nicht nennen möchte. „Viele haben durch den Brand ihre Arbeit verloren, | |
gehen weg, meine Kundschaft hat sich halbiert. Ich bin seit acht Jahren | |
hier und ich habe keine Ahnung, was mit meinem Imbissladen passieren wird.“ | |
Moradi Javad beobachet und dokumentiert seit dem Brand die politischen | |
Maßnahmen genau. Davor habe sich niemand für die Zustände in der Billstraße | |
interessiert, die Altautos würden erst seit April vermehrt entfernt werden. | |
„Das ist schon jahrelang ein Problem, aber wir wurden immer ignoriert.“ | |
Viele Beschäftigte seien durch den Brand traumatisiert worden, hätten Angst | |
vor der Zukunft. „Durch die Razzien wird die Straße ständig gesperrt und | |
die Kundschaft fällt aus.“ Es gehe immer um die Grundeigentümer oder die | |
Gewerbe, die gegen Auflagen verstoßen, sagt Javad. Aber die Zukunft der | |
Billstraße betreffe noch Hunderte andere Beschäftigte, „die sich von der | |
Politik vergessen fühlen“. | |
15 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Nele Aulbert | |
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