# taz.de -- Nostalgie und Bunte Tüten: Der kleine Kiosk unter Reet | |
> In den Achtzigern pachtete der Vater unserer Autorin einen Kiosk an der | |
> Ostseeküste. Er verbrachte an diesem Ort die beste Zeit seines Lebens. | |
Bild: Jörg, der Vater unserer Autorin, bei der Arbeit | |
Es gibt einiges zu sehen im Ostseebad Schönhagen, Gemeinde Brodersby: Die | |
Ferienanlage der Hamburger Sportjugend. Eine wunderschöne Steilküste. Einen | |
Badestrand und viele Ferienwohnungen. Den Supermarkt „Ihr Kaufmann an der | |
Ostsee“. Und einen kleinen Kiosk unter Reet. | |
Diesen Kiosk gibt es schon länger als mich (Beweis: Ich bin Jahrgang 1984, | |
der Kiosk Jahrgang 1967). Und diesen Kiosk hatte mein Papa von Anfang bis | |
Mitte der Achtziger gemeinsam mit einem Freund gepachtet. In der Zeit als | |
Co-Pächter des kleinen Kiosks unter Reet war er am glücklichsten in seinem | |
Leben, das vor elf Monaten endete. | |
Mein Onkel erinnert sich noch genau an die Bestellung eines Gastes: „Ein | |
Bier bitte, egal welches, Hauptsache es macht schwindelig.“ Und mir wird | |
schwindelig vor Glück, wann immer ich einen Kiosk, betrete und den Geruch | |
der Süßwaren einatme. Klar, viele verbinden mit diesem Duft Kindheit und | |
die Erinnerung an eine Zeit, als die größte Sorge lautete, ob für zehn | |
Pfennig noch zwei Gummi-Colaflaschen drin sind oder doch nur eine. Doch bei | |
mir löst er noch mehr aus. Schließlich habe ich schon in dem kleinen Kiosk | |
unter Reet rumgehangen, noch bevor sich mein erster Zahn ankündigte. Dieser | |
Geruch war einer meiner ersten prägenden Gerüche, er bedeutet Zuhause für | |
mich. | |
## Kioske sind Goldlack für die Gesellschaft | |
Ich wünschte, es gäbe ihn im Flakon. Meine Krankenkasse sollte die | |
Finanzierung übernehmen, sie würde sich viele Therapiestunden sparen. | |
Vorerst hab ich ihn mir selbst zusammengemixt, in einem Bonbonglas mit | |
Korkdeckel. Hier die Zutaten: Schaumzuckererdbeeren, Schaumgummimäuse und | |
salzige Heringe (von denen am meisten). Wenn ich daran rieche, ist ein paar | |
Sekunden lang alles gut. | |
Vor dem kleinen Kiosk unter Reet stehen sechs dunkelbraune Sitzbänke um | |
einen runden Hartholztisch. Hier scheint die Zeit stillzustehen. So auch | |
vor fünf Jahren, als mein Papa, der inzwischen in Bayern (genauer gesagt in | |
Mittelfranken, diese Unterscheidung ist ja immens wichtig!) lebte, mich und | |
meinen Mann in Hamburg besuchte, um uns endlich mal „seinen“ Kiosk zu | |
zeigen. Nach zwei Stunden erreichten wir mit einem Leihauto das gefühlte | |
Ende der Welt. Begrüßt wurden wir von vier um den Hartholztisch | |
versammelten Männer und Frauen um die 60, mit Rufen, die in etwa so | |
klangen: „Jörg, das gibt’s ja nich.“ „Jörg, Mensch, du hier, das is ja | |
was!“ Als wäre er nur kurz weg gewesen, als hätte es die letzten Jahrzehnte | |
nicht gegeben. | |
Vor zwei Monaten aber, bei meinem letzten Besuch des kleinen Kiosks unter | |
Reet, war der Tisch leer. Einer der Jörg-Rufer war kurz nach unserem | |
Wiedersehen gestorben. Die anderen drei? Ich weiß es nicht, vielleicht aber | |
war der Verstorbene der Kitt, der die Gruppe zusammenhielt. | |
Im Bücherregal neben meinem Schreibtisch lehnt ein Foto von jenem Tag im | |
Jahr 2018. Darauf lugt mein Papa, mit Zigarette im Mundwinkel, aus dem | |
Kioskfenster. Gekauft hat an dem Tag kaum jemand etwas. Die Geschäfte | |
laufen nicht mehr so. | |
Früher, da war der Kiosk ein sozialer Mittelpunkt, ein Ort der Begegnung, | |
immer was los, hier ein Schnack, da ein Plausch, ach, ein Käffchen noch, | |
ein Bier. Das schwarze Brett des Ortes. Wenn heutzutage jemand ein | |
Kaltgetränk, Chips, Kaffee, eine Bunte Tüte oder eines der wenigen | |
Alkoholika kaufen möchte, muss geklingelt werden. Die nebenan lebende | |
Schwiegertochter der Kioskbesitzerin betreibt den kleinen Kiosk unter Reet | |
nun von April bis Ende Oktober auf Klingelruf. Unter der Woche kommen die | |
Schulklassen und am Wochenende die Sportler*innen. Bunte Tüten sind immer | |
noch gefragt, schließlich besteht die Hauptkundschaft aus Schüler*innen. | |
Rentieren tue sich das kaum, aber so bleibe ein wenig Beständigkeit. Das | |
ist doch schön. Das ist doch tröstend. | |
Der kleine Kiosk unter Reet erinnert mich an Bullerbü. So [1][wie jeder | |
Kiosk] ein rotziges, leicht lädiertes kleines Bullerbü verkörpert. Kintsugi | |
nennt man die Reparaturmethode in Japan, bei der gesprungenes Keramik und | |
Porzellan mit Goldlack geklebt wird. Kioske sind das Kintsugi für Menschen. | |
Hier findet zueinander, wer sich sonst Nase rümpfend abwenden würde. [2][In | |
Kiosken] entstehen Freundschaften und Hilfsbündnisse. Kioske sind | |
Widersacher der Einsamkeit und dem Gefühl, zu kauzig für diese Welt zu | |
sein. Dort ist erst mal jeder willkommen, ob in zerfetzter Jogginghose oder | |
Boss-Anzug, hier kommt zusammen, was unvereinbar erscheint. Hier wird nicht | |
schräg angeguckt, wer Ende des Monats mit Pfand bezahlen oder anschreiben | |
muss. Man kennt sich, verlässt sich aufeinander. Was zählt, ist das | |
Menschsein, nicht die Dicke des Geldbeutels. | |
Ich gebe zu, das Bullerbü-Gefühl stellt sich nur ein, wenn ich dem Jetzt | |
die Erinnerungen meines Papas hinzufüge und das Leuchten in seinen Augen, | |
wenn er vom Kiosk erzählte. Vieles hat sich geändert in den 40 Jahren, seit | |
er dort so glücklich war. Kleines, aber auch Großes. Die Süßigkeiten müssen | |
in Butterbrottüten überreicht werden, denn die schönen Bunten Tüten | |
(rot-weiß, kennen wir ja alle) liefere der „Naschi“-Großhändler nicht me… | |
bedauert die Betreiberin. Eine unter hygienischen Gesichtspunkten | |
betrachtet positive Veränderung ist: Heutzutage werden die Süßigkeiten mit | |
einer Zange und nicht mit bloßen Händen (pfui, Papa!) aus ihren Behältern | |
gefischt. Auch hat mein Papa die Zigaretten noch stangenweise aus dem | |
Fenster raus verkauft. Heute steht links vom Kiosk ein Zigarettenautomat. | |
Es war mal wild, jetzt ist es still. Damit [3][Inseln des Alltags] wie der | |
kleine Kiosk unter Reet [4][erhalten bleiben], müssen wir uns dort auch | |
blicken lassen und investieren. Ob in einen Lolli, eine Flasche Wasser oder | |
eine Pulle Wein. | |
Es ist ohnehin sehr wichtig für eure Gesundheit, dass ihr heute noch | |
loszieht, zum Kiosk geht, euch eine bunte Tüte zusammenstellt und [5][bevor | |
ihr das Naschen beginnt], mit geschlossenen Augen daran riecht. Denn, das | |
ist das ultimative Rezept bei kleinen Sorgen. | |
31 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Sarah Lorenz | |
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