# taz.de -- Ausstellung „Working With Waste“: Befreiender Ausfluss | |
> Die Künstlerin Lucy Beech beschäftigt sich mit Körperflüssigkeiten und | |
> Geschlechterzugehörigkeit. Das Oldenburger Edith-Russ-Haus zeigt ihre | |
> Filme. | |
Bild: Filmstill aus „Warm Decembers“: Die Farbigkeit versöhnt mit der Unap… | |
„Working with waste“ lautet der Titel der aktuellen Ausstellung im | |
Oldenburger Edith-Russ-Haus. Er legt nahe, dass hier eine kritische Sicht | |
auf die Ex-und-hopp-Mentalität der Konsumgesellschaft entwickelt und die | |
Fragen behandelt werden sollen, wie unser Müll sich re- oder upcyceln | |
lässt. | |
Aber wie schon in Teil eins ihrer Müll-Trilogie, der Ausstellung Oose im | |
Roterdammerr Kunstinstituut Mellyersten ist es weniger ein konkret | |
politischer oder ökologischer Ansatz, den die englische Künstlerin [1][Lucy | |
Beech] verfolgt. Sie konfrontiert das Thema stattdessen mit feministischen | |
Debatten um [2][Transition] und setzt auf einen Tabubruch. Körperliche Aus- | |
und Abscheidungen werden aus dem intim privaten Raum in die Öffentlichkeit | |
geholt. | |
Auf Videobildern blubbert Kacke in einer Kläranlage, Urin flutet die Sinne, | |
ein Teenager befriedigt sich in der Badewanne und Stoffwechselmüll wird | |
ganz allgemein hochgetunt zum Symbol für Kreativität. Denken sei für Beech | |
ein metabolischer, verdauender Prozess, heißt es im Ausstellungsflyer. | |
Beispielsweise habe der Ausfluss des Urins etwas Befreiendes und verbinde | |
sich in Lucy Beechs Film „Warm Decembers“ mit der Fähigkeit, „einen | |
unabhängigen Gedanken zu haben“, so die Künstlerin. | |
Das gesamte Obergeschoss des Medienkunsthauses ist für dieses zentrale Werk | |
der Schau reserviert. Dafür lässt Beech die vielfach pitschnassen Bild- und | |
Bedeutungsebenen mit- und ineinander fließen, unterlegt von musikalischem | |
Rauschen. Grenzen sollen so zerfließen, um über „die strikte binäre | |
Unterscheidung zwischen männlich/weiblich, wissenschaftlich/imaginativ, | |
innerlich/äußerlich und Mensch/Tier“ hinauszudenken. Was andeutungsweise | |
funktioniert. | |
„Warm Decembers“ ist grundiert mit poetisch raunenden Textfragmenten: Eve | |
Kosofsky Sedgwicks Versroman „The Warm December“ (1978-1987). Geradezu | |
viktorianische Erzähllust verschwimmt dort mit Lesarten von Lesbian-, Gay- | |
und Queer-Studies zu experimenteller Lyrik. | |
Sedgwick veröffentlichte auch Revisionen und aussortierte Restbestände des | |
Schreibprozesses zur Vollendung des Werks, sodass Beech es geradezu | |
sinnbildlich für selbstbestimmte Identitätsbildung präsentieren kann. Im | |
Film ist es die junge Protagonistin Beatrix, die nach Erfahrungen | |
[3][sexualisierter Gewalt] und dem Tod der Eltern damit kämpft, welche | |
Erinnerungen, Wünsche oder Identifikationen sie in ihre Selbstbehauptungen | |
integrieren kann oder muss und welche sie löschen sollte. | |
Unterstützt wird sie von Autorin Cassie Westwood. Die fragt sich nach ihrer | |
Geschlechtsangleichung in einem Film-Prolog, welche Versatzstücke sie von | |
ihrem vorherigen Ich behalten, was sie verändern, verbergen, aufgeben will | |
und was bei ihr bleibt, obwohl sie es nicht mag. | |
Offen sind die persönlichen, fluide die dramaturgischen Entwicklungen. Die | |
Sache mit der „brennenden, aufgestauten Pisse“ kommt als Bettnässerei vor … | |
„aus einer reinen Blase des Selbstmitleids heraus bahnte sich ein Rausch | |
von Flüssigkeit seinen Weg“ lautet der Text unter Bildern entflammter | |
Natur. Wobei Beatrix „aus der Gewalt des ausgedehnten Nass“ programmatisch | |
rettend eine „Kunst findet“ – und als Zeichnerin kreativ wird. | |
In diesem wie in jedem ihrer Filme versucht Beech, künstlerische und | |
wissenschaftliche Forschung zu vereinen. Was sich auch in ihrer Biografie | |
spiegelt: Absolvierte sie doch kürzlich ein Stipendium am | |
Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und ist derzeit | |
Gastprofessorin an der Babelsberger Filmuniversität. | |
Fiktive Dokumentarfilme sind das Medium, mit dem sie sich in Oldenburg für | |
eines von jährlich drei ausgeschriebenen Arbeitsstipendien des | |
Edith-Russ-Hauses beworben hatte. Dank der Stiftung Niedersachsen sind sie | |
mit jeweils 12.500 Euro dotiert und laufen über sechs Monate. Für die | |
Medienkunstergebnisse wird das Haus nun zu einem kleinen Multiplex-Kino mit | |
mehreren Filmprojektionsschachteln für vier weitere Videos von Beech und | |
befreundeten Videokünstlern. | |
## Portrait einer intersexuellen Kuh | |
Statt auf weichen Sesseln hocken Betrachtende auf harten, Holzbänken. Was | |
prima zum teils harten Stoff passt. In „When we were monsters“ von James | |
Richards und Steve Reinke flackern in rasender Schnittfolge Pickel, Wunden, | |
Ekzeme, Hautausschläge, vergammelte Zähne etc. über die Leinwand, was | |
schwerlich länger als wenige Minuten auszuhalten und im Müll-Thema zu | |
kontextualisieren ist. | |
Riar Rizaldi beschäftigt sich in „Fossilis“ mit Elektroschrott, indem er | |
zeigt, wie dieser auf asiatischen Flohmärkten seziert und verkauft wird. | |
Zudem sind digital entworfene Bilder einer postapokalyptischen Welt zu | |
sehen, in der Laptops, Autos, Joysticks dschungelig überwuchert werden. Die | |
Natur beendet die Digitalisierung des Lebens? | |
„Reproductive Exile“ ist wiederum klassische Beech-Dokufiktion. In diesem | |
Fall wird in Lehrfilmästhetik über Kinderwunsch, Mutter-Sein, | |
Fortpflanzungsverantwortung, Elternschaft sowie knallharte kapitalistische | |
Unternehmensstrategien der Reproduktionsindustrie informiert und räsoniert. | |
In „Flush“ porträtiert Beech eine intersexuelle Kuh, die keine Milch gibt, | |
unfruchtbar, also landwirtschaftlich nutzlos ist. Dafür aber kann sie ein | |
assoziationsreicher Ausgangspunkt sein, essayistisch über biologische | |
Geschlechterausdifferenzierung und -umwandlung sowie entsprechende | |
endokrinologische Forschungsergebnisse zu reflektieren. | |
Poetisch-wissenschaftliche Filmkunst, die sich höchst anregend vermittelt. | |
All den Körperausflüssen zum Trotz. | |
31 Aug 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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