# taz.de -- Die letzte „poetical correctness“: Über das schöne Schreiben | |
> Wenn die Zustände oft so hässlich sein müssen, soll wenigstens in der | |
> Sprache Schönheit liegen. Diese Kolumne war ein Raum dafür, fürs Fragen | |
> und Denken. | |
Bild: Seenotrettung ist eine Form der Aufmerksamkeit für die Welt | |
Mein liebstes Notizbuch ist salbeigrün. Es wird von einer einzigen | |
Tackernadel zusammengehalten und die Seiten sind mit Fotos bedruckt, sodass | |
man durch eine Collage aus Steinen, Bächen, Wolken und welken Sonnenblumen | |
blättert. Der Weißraum drumherum ist einladend nebensächlich. Deshalb war | |
er für mich ein guter Platz für angerissene Gedanken und Sätze, die sich | |
selbst nicht erklären wollen, aber die ich unbedingt außerhalb von mir | |
festhalten musste. Genau in die Mitte des Notizbuchs, wo die Tackernadel in | |
das Foto eines wild bewachsenen Schutthügels greift, habe ich poetical | |
correctness geschrieben, irgendwann 2019. | |
[1][Die Kolumne, die daraus entstand], war eine Befreiung für mich. Kein | |
vorgegebenes Thema, kein enger Rahmen. poetical correctness, das sind nur | |
zwei Wörter, und doch haben sie mir plötzlich für alles Raum gegeben. | |
Dafür, Fragen zu folgen, Gedanken wachsen zu lassen, eine Lupe über das | |
Beiläufige zu halten. Ich konnte nach einer anderen Art von Herkunft | |
suchen, nach der Herkunft meines Denkens, losgelöst von Geburtsort, Pass, | |
Körper. Ich konnte realistisch sein und dann wieder eine Träumerin. | |
Trotzdem habe ich mich oft schwergetan. Schreiben, besonders | |
gegenwartspolitisch, ist selten Magie. Meistens ist es Handwerk und ein | |
Job, der auch mal müde macht. Weil man sich zu wiederholen beginnt, von | |
sich selbst gelangweilt ist, weil nicht jede Ambivalenz auf 90 Zeilen | |
passt. Weil es schwer ist, anderes zu tun, als auf Hass zu reagieren. | |
[2][Wenn die Zustände oft so hässlich sein müssen,] dachte ich irgendwann, | |
dann will ich wenigstens Schönheit in die Sätze legen, mit denen ich sie | |
beschreibe. Nicht als Weichzeichner, Ablenkung oder Ignoranz vor dem | |
Gewicht der Zustände, sondern als Aufmerksamkeit gegenüber der Welt, | |
besonders dort, wo sie zu oft fehlt: an den angeblichen Rändern, unter den | |
Teppichen, zwischen den Zeilen. | |
## Moral ist keine Bedrohung | |
Es stimmt, dass das auch ein moralisches Anliegen ist. Es bleibt mir ein | |
Rätsel, warum sich so viele allein durch das Wort Moral bedroht fühlen. Ich | |
denke oft daran[3][, wie Mely Kiyak in „Frausein“] dem Zusammenhang | |
zwischen Ethik und Schönheit nachspürt. Wie sie von den alten Griechen | |
erzählt, die einen Begriff für die Verbindung von Schönheit und Gutheit | |
erfanden: kalokagathia. Wie sie schreibt, „die Gabe, Schönheit zu erkennen | |
[…], ist nicht die Folge eines gelungenen Lebens, sondern ihre | |
Voraussetzung“. | |
Orte für schönes Schreiben sind für mich Geschenke. Auch dieser hier. Aber | |
zum Glück braucht Aufmerksamkeit für die Welt keine Kolumne. Sie findet | |
statt, ganz praktisch und konkret. Sie ist private Seenotrettung und | |
Widerstand gegen die Normalisierung der AfD. Sie ist gute Recherche, die | |
Enttarnung von Worthülsen, der Kampf gegen Gewöhnung. Sie ist | |
Hilfeleistung, Zugewandtheit, Pflege. Und für mich ist sie immer auch | |
Poesie. | |
Bleiben Sie also aufmerksam. Und danke, es war wirklich schön hier. | |
30 Aug 2023 | |
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## AUTOREN | |
Lin Hierse | |
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