Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Jüdisches Leben in Berlin: Eine Wahl, die nicht sein dürfte
> Um die Wahl des Parlaments der Jüdischen Gemeinde zu Berlin tobt ein
> erbitterter Streit. Trotzdem soll sie am Sonntag stattfinden.
Bild: Die jüdische Gemeinde wählt am Sonntag in Berlin ein neues Gemeindeparl…
taz Berlin | „Wer diese Wahlordnung sieht, der ist einfach nur entsetzt.
Das ist so offensichtlich undemokratisch, dass das die Menschen nur noch
kopfschüttelnd dastehen lässt“, sagt Sigalit Meidler-Waks mit Blick auf die
noch bis Sonntag laufende Wahl zur Repräsentantenversammlung der
[1][Jüdischen Gemeinde zu Berlin].
Meidler-Waks gehört zum Oppositionsbündnis „Tikkun Berlin“, das sich aus
Protest von der Wahl zum Gemeindeparlament zurückgezogen hat. Mehrere
Mitglieder des Bündnisses waren zuvor von der Kandidatur ausgeschlossen
worden. Das Bündnis wendet sich an die Gemeindemitglieder und ruft dazu
auf, sich für „freie, demokratische und geheime Wahlen“ einzusetzen.
Die Sache ist kompliziert. Und sie wird nicht einfacher durch den Umstand,
dass die Wahl im Juli vom Gericht des Zentralrats der Juden in Deutschland
für unzulässig erklärt worden ist. Der Vorsitzende der Jüdische Gemeinde zu
Berlin, Gideon Joffe, spricht in dieser Hinsicht von einem „massiven
Eingriff in die Satzungsautonomie“ und will die Wahl unbedingt durchziehen.
## Unzulässige Änderungen
Der Stein des Anstoßes: Ende Mai hatte der derzeitige Vorstand unter Joffes
Leitung eine neue Wahlordnung mit einschneidenden Änderungen erlassen. Das
unabhängige Gericht beim Zentralrat, dem ausschließlich zum Richteramt
befähigte Personen nach der Deutschen Richterordnung angehören, betrachtet
diese Änderungen aber als unzulässig. Die Rechte von möglichen
Kandidatinnen und Kandidaten würden empfindlich verletzt. Die Wahlordnung
sei „willkürlich“ und verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz, erklärte …
Gericht nach einer Beschwerde von Gemeindemitgliedern. Und untersagte
daraufhin am 21. Juli die Wahl.
Die Wahlordnung schließt Gemeindemitglieder von der Kandidatur aus, wenn
sie über 70 Jahre alt sind, sofern sie nicht dem amtierenden Vorstand
angehören. Auch Amts- und Mandatsträger ausgewählter jüdischer
Organisationen, etwa des Zentralrats oder des Sportvereins TuS Makkabi,
dürfen nicht kandidieren. Gideon Joffe sagt dazu, es könne eben nicht jeder
kandidieren. „Wir haben überlegt, wer sollte definitiv mitmachen können und
wo sollte man vielleicht ein bisschen aufpassen. Es darf nur derjenige
mitmachen, der sich eindeutig zur Gemeinde bekennt.“
All das missachtet nach Ansicht des Gerichts Grundprinzipien einer fairen
Wahl. Nathan Gelbart, Anwalt der Beschwerdeführer, sieht darin eine
gezielte Manipulation durch die derzeitige Gemeindeleitung. „Meiner
Einschätzung nach geht es darum, das Potential an möglichen Konkurrenten zu
dezimieren, soweit es nur geht.“
Nun rumort es schon seit Jahren in der Berliner Gemeinde. Von einem „Klima
der Angst“ sprechen die Kritiker Joffes. Unter seiner Leitung sei die
Gemeinde um mehr als 3.000 Mitglieder auf heute nur noch gut 8.200
geschrumpft, sagt Sigalit Meidler-Waks. Sie gehört der Gemeinde seit
Jahrzehnten an, leitete viele Jahre die Jüdische Volkshochschule. Die
Gemeinde stecke seit Jahren in der Krise. Viele hätten sich aus
Enttäuschung und Frustration abgewandt.
## Pause von zwei Legislaturperioden
Zu den ausgeschlossenen Kandidaten von „Tikkun Berlin“ („Tikkun“ bedeut…
so viel wie „Reparatur“) zählt unter anderem Boris Rosenthal. Er war
Vertrauenslehrer am Jüdischen Gymnasium Moses Mendelssohn, geschätzt unter
Schülern und Kollegen. Ihn traf ein weiterer Passus der neuen Wahlordnung,
die festlegt, dass ehemalige Mitarbeiter der Jüdischen Gemeinde erst nach
Ablauf von zwei Legislaturperioden, also nach zwölf Jahren, kandidieren
dürfen.
Rosenthal kam als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland. Er sagt:
„Ich kam in dieses demokratische Land, habe die Freiheit genossen. In den
letzten zehn Jahren habe ich das in der Jüdischen Gemeinde vermisst.“
Auch Lala Süsskind engagiert sich für „Tikkun Berlin“. Sie leitete die
Gemeinde von 2008 bis 2012. Mit ihren 77 Jahren durfte sie nicht erneut
antreten. Als sie zuvor die für eine Kandidatur notwendigen 65
Unterschriften sammelte, hätten Freunde aus Angst vor der Reaktion Joffes
nicht unterschrieben. „Dieser hohe Herr und seine Konsorten setzen sich hin
und prüfen jegliche Unterschriften, die die Kandidaten gesammelt haben“,
sagt Süsskind. Einige hätten ihr gegenüber die Sorge geäußert, im
Gemeindealltag benachteiligt zu werden.
An diesen Vorwürfen sei nichts dran, entgegnet Joffe empört: „Es gibt keine
Repressalien zu befürchten. Das ist absoluter Quatsch.“
## Zu wenig Beteiligung
Die Gemeindeleitung tue zu wenig für ihre Mitglieder, sagt der 22-jährige
Student Raphael Poljakow, der mit dem Bündnis „Le kulam“ („Für alle“)…
Wahl antritt. Poljakow wünscht sich mehr Beteiligung vor allem junger
Menschen. In seinem jüdischen Freundeskreis, schätzt er, sei nur noch gut
jeder Vierte in der Gemeinde: „Mich macht das wütend, dass man als
Gemeindemitglied weder was zu sagen hat, noch dass die Gemeindeführung sich
für einen interessiert.“ Die neue Wahlordnung, die das passive Wahlrecht
massiv einschränke, habe das Ziel, „jegliche Kritik am Vorstand im Keim zu
ersticken“.
Anders als das Bündnis „Tikkun Berlin“ haben die sechs Kandidaten von „Le
kulam“ nicht zurückgezogen. Trotz der Bedenken. „Wenn wir jetzt
zurücktreten“, sagt Emanuel Adiniaev, der Gideon Joffe lange Zeit
nahestand, „spielen wir der einzigen verbliebenen Partei in die Hände. Die
braucht dann gar nicht mehr auszählen, sondern deren Kandidaten können
direkt in die Ämter ernannt werden.“
Die Wahl – auch dies hatte das Gericht beim Zentralrat beanstandet – findet
ausschließlich als Briefwahl statt. Als besonders heikel betrachtet „Le
kulam“ die Pflicht zum Beilegen einer Ausweiskopie im eingereichten
Wahlbrief. Adiniaev hält das nicht nur aus datenschutzrechtlichen Gründen
für bedenklich. Es schrecke manche auch ab, zu wählen. Das Bündnis „Le
kulam“ ruft offen zum Boykott der Wahl auf und kündigte an, das Ergebnis in
jedem Fall anfechten zu wollen.
Gideon Joffe hält freilich unbeirrt an der Wahl fest. Er sieht sich in
einem Machtkampf um die Gemeindeautonomie. „Wir denken, es ist unsere
Verpflichtung, kleineren Gemeinden, die sich nicht so gut wehren können,
ein Vorbild zu sein.“ Das Gericht hält er für nicht zuständig und verweist
auf den eigenen Schiedsausschuss: „Keine einzige Institution auf der Welt
kann in die Jüdische Gemeinde zu Berlin hineinregieren.“ Das Gericht sieht
das anders. Es hat klargestellt, dass der Schiedsausschuss der Berliner
Gemeinde zur Klärung der in diesem Fall aufgeworfenen satzungsrechtlichen
Fragen nicht berufen sei.
## Keine Stellungnahme im Senat
Auffallend bedeckt hält sich bislang die Senatskulturverwaltung. Man
verfolge den Konflikt in der Jüdischen Gemeinde „aufmerksam“, könne jedoch
keine Stellungnahme abgeben, heißt es auf Anfrage aus dem Haus von
Kultursenator Joe Chialo (CDU).
Dabei hat das Bündnis „Tikkun Berlin“ eine klare Forderung an die Politik.
Sigalit Meidler-Waks sagt: „Wir erwarten vom Senat, dass er sich
positioniert. Denn es gibt nun mal das Urteil. Der Großteil des Budgets
wird aus Steuergeldern bezogen und ich finde, der Senat hat hier auch eine
Fürsorgepflicht. Die Gemeinde ist schließlich kein rechtsfreier Raum.“
Sollte die Gemeinde bei ihrer Linie bleiben und die Wahl am Sonntag wie
angekündigt durchführen, drohen nicht nur Bußgelder, sondern im äußersten
Fall ein Ausschluss aus den Gremien des Zentralrats für zwei Jahre.
31 Aug 2023
## LINKS
[1] /Juedische-Gefluechtete-in-Berlin/!5840856
## AUTOREN
Carsten Dippel
## TAGS
Jüdische Gemeinde
Judentum
Zentralrat der Juden
Jüdische Gemeinde
Jüdische Gemeinde
wochentaz
Jüdisches Leben
Nancy Faeser
## ARTIKEL ZUM THEMA
Streit in Jüdischer Gemeinde Berlin: Religionsgemeinschaften dürfen diskrimin…
Im Streit um eine diskriminierende Wahlordnung in der Jüdischen Gemeinde
hat das Landgericht eine Klage abgewiesen. Grundrechte seien nicht
anwendbar.
Skandal in Jüdischer Gemeinde zu Berlin: Risse in der Gemeinschaft
Walter Homolka und Gideon Joffe, zentrale Figuren des Rabbinerkollegs und
der Jüdischen Gemeinde, sind skandalumwittert. Sie kleben an der Macht.
Lili Sommerfeld über den Nahost-Konflikt: „Lass mir nicht den Mund verbieten…
Lili Sommerfeld ist Sängerin, Chorleiterin, queerpolitisch unterwegs. Und
aktiv beim Verein „Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“.
Judenfeindlichkeit in Berlin: Antisemitische Gewalt bleibt hoch
Die Zahl der judenfeindlichen Vorfälle ist 2022 gesunken. Nicht aber die
Zahl der Gewalttaten.
Staatsleistungen an jüdische Gemeinschaft: 22 Millionen Euro jährlich
Die Regierung erhöht die jährliche Zahlung an den Zentralrat der Juden auf
22 Millionen Euro. Die Arbeit jüdischer Gemeinden soll gestärkt werden.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.