| # taz.de -- Künstliche Intelligenz und Iris-Scan: Das Auge als Ausweis | |
| > OpenAI-Chef Sam Altman will die Augen aller Menschen scannen – und sie | |
| > vor KI schützen. Doch die Speicherung biometrischer Daten schadet eher. | |
| Bild: Soll den digitalen Weltausweis voranbringen: Irisscanner Orb | |
| Sam Altman hat eine Mission: Der [1][OpenAI-Chef] will die Menschheit vor | |
| der künstlichen Intelligenz retten, deren Entwicklung er selbst | |
| vorangetrieben hat. | |
| Er fürchtet sich vor dem Tag, an dem eine Superintelligenz übernimmt und | |
| Menschen und Maschinen nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Mit | |
| seinem Start-up Worldcoin, dessen gleichnamige [2][Kryptowährung] kürzlich | |
| lanciert wurde, will er daher ein biometrisches Identifikationssystem | |
| (World ID) etablieren, das als eine Art Ausweisdokument fungieren soll. | |
| Für das Projekt, das mit den üblichen Beschwörungen der kalifornischen | |
| Ideologie („giving ownership to everyone“) daherkommt, wurden [3][1.500 | |
| Iriserkennungssysteme] in Form verchromter Kugeln in über 35 Städten auf | |
| der ganzen Welt aufgestellt. | |
| Die „[4][Orbs“ genannten Kugeln], die ästhetisch an die Todessterne aus | |
| „Star Wars“ erinnern, sind mit einem optischen System aus Kameras und | |
| Sensoren ausgestattet, welche die einzigartigen biometrischen Merkmale der | |
| Iris erfassen und als Code in einer Datenbank speichern. | |
| Nutzer, die ihre Augen scannen, erhalten als Belohnung 25 Tokens [5][in | |
| Worldcoin], das entspricht rund 50 Dollar. Biometrie gegen Krypto. Oder wie | |
| Sam Altman sagt: „Kapitalismus für alle.“ | |
| Das Motto klingt verheißungsvoll. In Kenia und Indien standen die Menschen | |
| Schlange, um das digitale „Willkommensgeld“ für die schöne neue Welt zu | |
| erhalten. 2,2 Millionen Menschen haben mittlerweile in die Kugel geschaut | |
| und ihre Augenpaare ablichten lassen. Geht es nach Altman, ist das erst der | |
| Anfang. Der Techvisionär will die Retina von acht Milliarden Menschen auf | |
| der Welt scannen, um über die digitale ID ein bedingungsloses | |
| Grundeinkommen zu bezahlen. | |
| ## Massiver Widerstand | |
| Ein Projekt, das so dystopisch und größenwahnsinnig klingt, dass sich die | |
| Datensammelwut der NSA dagegen fast schon als bescheiden ausnimmt. Kein | |
| Wunder, dass sich gegen Worldcoin massiver Widerstand regt. Die | |
| Finanzaufsicht Bafin hat bereits Ermittlungen eingeleitet, in Kenia, wo das | |
| Projekt wegen Sicherheits- und Datenschutzbedenken Anfang [6][August | |
| gestoppt] worden war, hat die Polizei bei einer Razzia Gerätschaften | |
| konfisziert. | |
| Zwar betont Worldcoin, dass die Irisscans (gespeichert werden nicht die | |
| Bilddateien selbst, sondern ihre kryptografischen Hashwerte) auf einem | |
| dezentralen Protokoll hinterlegt werden. Doch IT-Experten haben Zweifel an | |
| der Sicherheitsarchitektur. Der Ethereum-Erfinder Vitalik Buterin wies | |
| darauf hin, dass Hacker 3-D-Attrappen von „Fakemenschen“ drucken und sich | |
| so digitale Identitäten erschleichen könnten. Zudem wisse man nicht, wie | |
| die Hardware der Orbs konstruiert sei und ob diese möglicherweise | |
| Hintertüren offen ließe. | |
| Schon jetzt blüht der Schwarzmarkt für biometrische Daten. Laut einem | |
| Bericht der Kryptoplattform BlockBeats sollen chinesische Nutzer Irisscans | |
| von Menschen in Kambodscha und Kenia gekauft haben, um sich in der App zu | |
| registrieren, die in China blockiert ist. Kostenpunkt: 30 Dollar für ein | |
| Augenpaar. | |
| Vorbild für Worldcoin ist das indische Identifikationssystem Aadhaar, über | |
| das Bürger per Fingerabdruck oder Irisscan staatliche Transferleistungen | |
| beziehen können. In Indien hat die biometrische Registratur auch ihren | |
| Ursprung. Im 19. Jahrhundert führte die britische Kolonialverwaltung dort | |
| Hand- und Fingerabdrücke zur Identitätsfeststellung von | |
| Pensionsberechtigten ein. | |
| So sollte verhindert werden, dass Renten an eine Person doppelt ausbezahlt | |
| werden. Die Iriserkennung wurde erst sehr viel später, in den 1990er | |
| Jahren, entwickelt und kam erstmals großflächig im Irakkrieg zum Einsatz, | |
| wo US-Marines die von Saddam Hussein aufgebaute Datenbank um Fingerabdrücke | |
| und Irisscans anreicherten, um den Zugang zu Städten zu regulieren und | |
| Terroristen aufzuspüren. Auch in Afghanistan hat das US-Militär Geräte zur | |
| biometrischen Erfassung genutzt. | |
| ## (Neo)koloniale Praktiken | |
| Viele Militärtechnologien, die auf den Schlachtfeldern des Globalen Südens | |
| erprobt werden, kehren in neuem, schickem Gewand in den Westen zurück – sei | |
| es die Eyetrackingtechnologie in Fahrzeugen oder der Fingerabdruckscanner | |
| im iPhone. Wenn Worldcoin mithilfe von Vertragsarbeitern, die für jedes | |
| Augenpaar eine Provision erhalten, biometrische Daten sammelt, setzt sich | |
| die (neo)koloniale Praktik fort. | |
| Das Krypto-Start-up ist quasi die Ostindien-Kompanie des | |
| Informationskapitalismus, die Datenkörper versklavt. Wenngleich Worldcoin | |
| nicht der einzige Akteur ist. | |
| So müssen sich auch in UN-Flüchtlingscamps in Jordanien alle Menschen ab | |
| fünf Jahren per Irisscan registrieren und legitimieren, um elektronische | |
| Gutscheine zu erhalten oder in Supermärkten zu bezahlen. Der UNHCR | |
| kooperiert dazu mit der britischen Firma IrisGuard, deren Augenscanner | |
| auch zur Identifikation von Rentenempfängern im Irak verwendet wird. Die | |
| Praxis ist ethisch umstritten. Medientheoretikerin Ariana Dongus | |
| kritisiert, dass die Flüchtlingscamps „Versuchslabore für biometrische | |
| Datenerfassung“ seien. | |
| Die Menschen haben oft keine andere Wahl, als ihre Daten preiszugeben, weil | |
| sie sonst auf lebensnotwendige Hilfen verzichten müssten. Wer blind und | |
| nicht „maschinenlesbar“ ist, schaut in die Röhre. In Indien zum Beispiel | |
| mussten Leprakranke, die ihre Finger und ihr Augenlicht verloren hatten, | |
| auf Essensrationen verzichten, weil sie sich nicht mit ihrem Körper | |
| „ausweisen“ konnten. | |
| Der radikale Materialismus biometrischer Überwachungsregime grenzt Menschen | |
| aus und diskriminiert. Für politisch Verfolgte können biometrische | |
| Datenbanken sogar zur Lebensgefahr werden. Nachdem die USA 2021 überstürzt | |
| aus Afghanistan abgezogen und die hinterlassenen Biometriegeräte den | |
| Taliban in die Hände gefallen waren, besteht die Sorge, dass die | |
| Fundamentalisten die Datensätze nutzen könnten, um US- und Nato-Helfer wie | |
| etwa Ortskräfte zu identifizieren und zu eliminieren. | |
| ## Quasi zum Abschuss freigegeben | |
| Wie ungeschützt die Daten sind, demonstrierten im vergangenen Jahr Hacker | |
| des [7][Chaos Computer Clubs]: Sie beschafften sich Gebrauchtgeräte aus dem | |
| Afghanistankrieg in Onlineauktionshäusern und unterzogen sie einer | |
| forensischen Analyse. | |
| Das erschreckende Ergebnis: Die Datenträger waren unverschlüsselt. Auf den | |
| Geräten befand sich eine umfassende biometrische Datenbank mit Namen, | |
| Fingerabdrücken, Irisscans und Fotos von 2.632 Personen, unter anderem auch | |
| Namen von zwei US-Soldaten samt GPS-Daten vergangener Einsatzorte. Wer auf | |
| solchen Listen steht, ist quasi zum Abschuss freigegeben. Datenschutz ist | |
| also kein „Nice-to-have“, sondern eine Überlebensgarantie. | |
| Was Sam Altman mit den Daten vorhat, ob er sie als Sicherheit für seine | |
| Kryptowährung oder als Rohlinge für die nächste Avatargeneration braucht, | |
| bleibt sein Geheimnis. | |
| Der Technologieutopist hat ein Monstrum geschaffen, das sich kaum noch | |
| kontrollieren lässt – und die Identität von Millionen Menschen bedroht. Es | |
| würde nicht verwundern, wenn die verchromten Worldcoin-Kugeln irgendwann | |
| auch bei Ebay als Sammlerobjekt zum Verkauf stünden – inklusive lokal | |
| gespeicherter Daten. Werden die sensiblen Daten gehackt oder geleakt, ist | |
| ihre Kontrolle für immer unmöglich. | |
| Man kann sich ein neues Passwort oder Konto zulegen, aber keinen neuen | |
| Finger oder Augapfel. | |
| 10 Aug 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /OpenAI-in-der-Kritk/!5922783 | |
| [2] /Kollaps-der-Kryptowaehrungen/!5901327 | |
| [3] https://www.theguardian.com/technology/2023/jul/28/crypto-firm-wants-to-sca… | |
| [4] https://restofworld.org/2023/worldcoin-orb-around-the-world/ | |
| [5] https://gizmodo.com/worldcoin-black-market-iris-data-identity-orb-1850454037 | |
| [6] https://www.spiegel.de/netzwelt/web/worldcoin-kenia-stoppt-die-kryptowaehru… | |
| [7] /Chaos-Computer-Club/!5904529 | |
| ## AUTOREN | |
| Adrian Lobe | |
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