| # taz.de -- Evakuierungen von der Front: Abschied für immer | |
| > Noch immer leben Menschen in der Ostukraine unter russischer Besetzung | |
| > oder direkt an der Frontlinie. Denn Evakuierung bedeutet auch | |
| > Heimatverlust. | |
| Bild: Löschversuche in Lyman im Donbass nach russischen Angriffen am 8. Juli | |
| Vor Kurzem haben wir in der Ukraine den 500. Tag seit Beginn des russischen | |
| Großangriffs „begangen“. Auch ich habe mich auf diesen Moment vorbereitet: | |
| Kurz vorher wurde meine Großmutter aus dem Frontgebiet evakuiert und das | |
| war für mich eine große Freude. Denn im Februar 2022 hatte sie sich noch | |
| geweigert, ihr Haus in Lyman im Gebiet Donezk zu verlassen. Sie blieb dort | |
| während der russischen Besetzung und lernte all die damit verbundenen | |
| „Freuden“ kennen. [1][Ein Jahr lang hatte sie nicht einmal Strom.] | |
| Das muss man sich einmal vorstellen: In der Stadt gab es nichts mehr, keine | |
| Apotheke, keine Geschäfte, weder Postamt noch Krankenhaus. Renten wurden | |
| nicht ausgezahlt, Panzer fuhren auf den Hof, am Himmel flogen die | |
| Kampfflugzeuge und die ganze Nacht über wurde das Haus von Explosionen | |
| erschüttert. So lebte meine Großmutter. | |
| In solch einer Situation ist man sogar über eingeschränktes Hörvermögen | |
| froh. Nur, dass es nicht vor Granatsplittern und Druckwellen schützt. Und | |
| auch mit der Befreiung des Gebietes sind nicht alle Probleme gelöst, weil | |
| die Front immer noch nur 10 bis 15 Kilometer entfernt ist. Und die Russen | |
| immer noch darauf hoffen, eines Tages zurückzukommen. | |
| Oft habe ich mich gefragt: Hat es sich gelohnt, dass Oma nicht gleich | |
| weggefahren ist? Aber diese Gedanken habe ich immer schnell wieder | |
| verworfen, denn es würde so klingen, als sei meine Oma selbst schuld an | |
| ihren Leiden. Dabei ist der Grund für unser Unglück bekannt: Russlands | |
| Angriffskrieg gegen unser Land. | |
| [2][„Warum gehen sie von dort, also dem Frontgebiet, nicht weg?“] – wenn | |
| diese Frage kommt, ist die Geschichte meiner Großmutter für mich immer ein | |
| Argument. Diejenigen, die in Frontnähe und in den besetzten Gebieten leben, | |
| sind in der Ukraine häufig mit Vorwürfen konfrontiert. „Wenn sie dort | |
| weggegangen wären, hätte es die ukrainische Armee jetzt leichter, die | |
| Städte zu verteidigen“, heißt es dann etwa. Oder: “Wenn sie nicht gegangen | |
| sind, dann warten sie wohl nur darauf, die Besetzer mit Blumen zu | |
| empfangen.“ | |
| Dabei ist allen mehr oder weniger klar, wie hart ein Leben außerhalb der | |
| eigenen vier Wände ist, vor allem für über Achtzigjährige. Ohne Geld und | |
| Unterstützung durch Angehörige ist es in diesem Alter schwer, alles | |
| Bisherige aufzugeben. | |
| Meine Großmutter ist 84, und das Haus zu verlassen, in dem sie den Großteil | |
| ihres Lebens verbracht hat – [3][das ist ein Abschied für immer.] Das ist | |
| ein Gefühl, gegen das man nicht einfach so ankommt. Auch meine Mama, die | |
| ein Vierteljahrhundert jünger ist als meine Oma, will unbedingt nach Hause, | |
| obwohl wir gar kein Zuhause mehr haben. Und selbst ich träume manchmal | |
| davon, dass wir irgendwann unser Familiennest wieder aufbauen können. Nun: | |
| Am 8. Juli wurde Lyman mit Raketen beschossen – [4][neun Menschen starben]. | |
| Vor rund 500 Tagen war all das noch unvorstellbar. Heute ist es eine | |
| weitere Tragödie in unserem Leben. | |
| Aus dem Russischen von [5][Gaby Coldewey]. | |
| Finanziert wird das Projekt von der [6][taz Panter Stiftung]. | |
| Ein Sammelband mit den Tagebüchern ist im [7][Verlag edition.fotoTAPETA] | |
| erschienen. | |
| 2 Aug 2023 | |
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| [7] https://www.edition-fototapeta.eu/ | |
| ## AUTOREN | |
| Roman Huba | |
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