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# taz.de -- Kinderverschleppung nach Russland: Zittern, wenn geschossen wird
> Knapp 20.000 ukrainische Kinder sollen bislang nach Russland gebracht
> worden sein. Zwei Schwestern und eine Mutter über eine monatelange
> Odyssee.
Bild: Ankunft in der westukrainischen Region Wolhynien
Charkiw/Berlin taz | In Wowtschansk gibt es eine Familie, die bereit ist,
darüber zu sprechen, dass ihre Kinder lange Zeit unter dem Vorwand eines
Erholungsaufenthaltes in Russland waren. Die 46-jährige Irina Nikolajewa
hat telefonisch eingewilligt, die Geschichte ihrer Kinder, der
zwölfjährigen Anastasija und der elfjährigen Ksenija zu erzählen, die
sieben Monate lang in Russland waren. Ein Treffen lehnt sie ab.
„Damals war das Gebiet hier besetzt. In der Stadt gab es einen Aushang für
einen dreiwöchigen Ferienaufenthalt in Gelendschik. Kostenlos. Der war von
unserem Amt für Bildung“, erinnert sich Irina. Sie meldete die Mädchen an.
Am 28. August fuhren vier Busse mit insgesamt 99 Kindern aus Wowtschansk
los. Irina versichert, dass die Kinder stets telefonisch erreichbar gewesen
seien. Als aber wegen der Kämpfe das Netz in Wowtschansk ausfiel, habe man
den Kindern ein Video von der Bombardierung gezeigt. „Als ich wieder mit
meinen Mädchen telefonieren konnte, weinten sie furchtbar und schrien
‚Mami, Gott sei Dank bist du noch am Leben!‘ Das war schrecklich“, erinne…
sich Irina. Gleichzeitig versichert sie, dass die Kinder ein gutes
Verhältnis zu den Betreuern gehabt hätten. Verpflegung und Unterbringung
seien sehr gut gewesen.
In den sieben Monaten ihres Russlandaufenthaltes waren Anastasia und Ksenia
24 Tage in Gelendschik, etwa drei Wochen in Anapa, anschließend bis zum 24.
März 2023 in Jeisk (alle Städte liegen in der südrussischen Region
Krasnodar; Anm. d. Red.), danach in Woronesch. Ihre Mutter Irina fuhr dann
mit einigen anderen ukrainischen Frauen durch Polen und Belarus, um ihre
Töchter aus Russland zu holen. Erst am 3. April kam sie mit den Mädchen
zurück in die Ukraine.
Irina erzählt auch von dem Angebot, in Russland zu bleiben und dass sie
während ihres ganzen Russlandaufenthaltes vom Geheimdienst begleitet wurde.
„Das Treffen mit unseren Kindern war beängstigend. Erst ließ man uns etwas
Zeit. Dann schlug man uns im Grunde vor, dass wir in Russland bleiben
sollten, mit Flüchtlingsstatus. Ich habe das abgelehnt“, erzählt Irina
Irina wurden bei der Abholung ihrer Kinder keine Bedingungen gestellt. Sie
waren eine Gruppe von 14 Frauen mit ihren Kinder, einige auch aus dem
Gebiet Cherson. Diese Kinder waren in einem Lager auf der Krim gewesen. Sie
erzählten, dass sie dort die russische Nationalhymne hatten singen müssen.
Irina erzählt zwar, dass in Russland keine anderen ukrainischen Kinder sie
um Hilfe zur Rückkehr gebeten hätten. Sie gibt aber zu, dass sie das
Sanatorium in Woronesch, in dem die Kinder untergebracht waren, nicht hatte
betreten dürfen.
Gefragt, ob dort auch ukrainische Kinder gewesen seien, die nicht wussten,
wo sich ihre Eltern befanden, wendet sich Irina an ihre Tochter Anastasija.
Die antwortet knapp: „Ja, ein Junge und seine Schwester. Die wurden dann
irgendwo anders hingebracht.“
„Die Kinder haben weder körperliche noch seelische Folgen zurückbehalten“,
glaubt Irina. „Nur, als sie bei ihrer Rückkehr die Zerstörungen gesehen
haben, waren sie schockiert. Bei einem Rundgang durch Wowtschansk haben sie
gesagt: ‚Mama, aber das hat doch nicht Russland gemacht, oder?‘ Jetzt sind
sie schockiert, dass Russland so etwas getan hat. Sie zittern auch immer
noch, wenn sie Schüsse hören. ‚Mama, das macht nicht Russland, oder? Dort
war doch alles ruhig. Warum greift Russland uns an?‘ Ich weiß nicht, was
ich sagen soll.“
Juri Larin, ukrainischer Journalist
Aus dem Russischen: Gaby Coldewey
## Die UN warnen vor steigender Gewalt gegen Kinder im Krieg
Mehr als 27.000 Gewalttaten zählten die Vereinten Nationen (UNO) weltweit
laut einem am Mittwoch vor dem UN-Sicherheitsrat in New York vorgestellten
Bericht. “So hoch wie nie zuvor“, sagte der stellvertretende Direktor des
UN-Kinderhilfswerks Unicef, Omar Abdi. Dokumentiert wurden Entführungen,
Tötungen oder die Rekrutierung von Mädchen und Jungen. Auch in der Ukraine
wurde ein starker Anstieg schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen gegen
Kinder registriert.
Tausende ukrainischer Kinder sind nach Angaben ukrainischer Behörden seit
Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine in die Russische
Föderation verbracht worden – die meisten aus Kinderheimen, Internaten und
Krankenhäusern. Der Kontakt zu ihren Familien wird häufig eingeschränkt
oder ganz abgebrochen. Oft bekommen die Kinder russische Pässe und werden
unter Vormundschaft russischer Familien gestellt oder zur Adoption
freigegeben. Dadurch wird eine Rückkehr zu den leiblichen Eltern bzw. in
die Ukraine erschwert.
Maßgeblich an der Verschleppung der Kinder beteiligt ist [1][die russische
Kinderschutzbeauftragte Maria Lwowa-Belowa]. Der Internationale
Strafgerichtshof in Den Haag hat im vergangenen März gegen sie und
Präsidenten Wladimir Putin Haftbefehl wegen rechtswidriger Deportationen
ukrainischer Kinder und mutmaßlicher Kriegsverbrechen erlassen. Beide
müssen nun in 123 Ländern mit einer Verhaftung rechnen. Der Artikel 49 der
Genfer Konvention zum Schutz der Zivilbevölkerung während eines Krieges
verbietet jegliche Deportationen der einheimischen Bevölkerung aus
besetzten Gebieten.
Moskau sieht den Sachverhalt naturgemäß anders und rechtfertigt sein
Vorgehen. Es handele sich bei der Verbringung der Kinder in die Russische
Föderation um eine Evakuierung aus bombardierten Gebieten gemäß der Genfer
Konvention. Die Kinder kämen nicht aus besetzten Gebieten, sondern aus von
Moskau als unabhängig anerkannten – wie die selbsternannten
„Volksrepubliken Donezk und Luhansk“. Russland bemühe sich darum, die
Kinder ihren Familien zurückzugeben.
Die Verschleppung wird nicht geheim gehalten. Das russische Fernsehen zeigt
Bilder, auf denen ukrainische Kinder in Russland eintreffen. Die 38-jährige
Lwowa-Belowa hat selber im Februar einen 15-Jährigen aus Mariupol adoptiert
– sie hat bereits fünf leibliche und vier Adoptivkinder. Außerdem haben sie
und ihr Mann die Vormundschaft für acht weitere Kinder.
Die ukrainische NGO [2][„Save Ukraine“] hilft ukrainischen Eltern, den
Kontakt zu ihren Kindern herzustellen. Mit Hilfe russischer Freiwilliger
organisieren sie auch Reisen nach Russland, um ihre Kinder dort persönlich
abzuholen. Mühsam, teuer und nicht ganz ungefährlich. [3][Nach ukrainischen
Angaben] wurden bis Ende Juni knapp 19.500 Kinder deportiert. Die
Dunkelziffer dürfte jedoch weit höher liegen. Nur 373 Kinder konnten
bislang in die Ukraine zurückgebracht werden.
## „Hier wird nur Russisch geredet“
„Mama, weine nicht, ich bin zu Haus! Alles okay, wir sind wieder zusammen!“
So erinnert sich Tatjana Medwedewa aus dem Dorf Zybine-Wowtschansk im
Gebiet Charkiw an die ersten Worte ihrer 15-jährigen Tochter Diana nach
ihrer Rückkehr aus Russland. Am 19. August 2022 war das Mädchen mit über
150 anderen Kindern aus ihrem ukrainischen Heimatdorf in ein Ferienlager in
Gelendschik in der russischen Region Krasnodar gefahren. Während der
Besatzung waren es allein im Gebiet Charkiw 561 Kinder. Nach 17 Tagen
erfuhr das Mädchen, dass sie nicht nach Hause zurückkehren würde. Da hatte
die ukrainische Gegenoffensive um Charkiw gerade begonnen.
Gleich nach der Ankunft habe man ihnen die Handys abgenommen, erzählt
Diana. Sie bekamen sie dann einmal täglich für etwa 30 Minuten zurück. „Die
Kinder weinten, ‚lasst unsere Eltern uns anrufen‘. Ich habe meins nicht
abgegeben – das haben die Betreuer aber nicht gemerkt“, erzählt Diana. Das
Mädchen erinnert sich auch an Gewalt von Seiten der russischen Betreuer. Zu
einigen Kindern hätten sie auch gesagt: „Kein Wort über die Ukraine. Nur
Russisch sprechen“, erinnert sich die Schülerin. Sie berichtet auch von
russischen Journalisten, die versucht hätten, Fotos vom angeblich schönen
Ferienaufenthalt der ukrainischen Kinder zu machen.
Dianas Vater, Nikolaj Schuljakow, reiste dann selber nach Russland, um
seine Tochter zurückzuholen. Das erste Treffen mit seiner Tochter sei sehr
emotional gewesen, erzählt Schuljakow: „Als ich zu ihr fuhr, rief sie alle
zwanzig Minuten bei mir an und frage ‚Papa, wo bist du?‘ Als ich dann
ankam, weinte sie und konnte nicht mehr aufhören“, erzählt Nikolaj. Viele
der Kinder in dem Lager hätten nicht gewusst, wo ihre Eltern waren.
Die Rückfahrt war problematisch, weil die Russen wegen der ukrainischen
Gegenoffensive alle Grenzübergänge im Norden des Gebietes Charkiw
geschlossen hätten. Fast zwei Wochen verbrachten Diana und ihre Vater
deshalb noch in den grenznahen russischen Städten Belgorod und Schebekino.
Dann gab es Gerüchte, man könne wieder in die Ukraine einreisen, erzählt
Nikolai Schuljakow. Drei Stunden stand er mit seiner Tochter an der Grenze.
Ein Geheimdienstmitarbeiter habe ihre Telefone überprüft und sie befragt.
Sie mussten eine Genehmigung zur Rückkehr in die Ukraine beantragen. Man
habe ihm angeboten, in Russland zu bleiben. Als der Vater sich darauf nicht
einließ, erzählten die russischen Soldaten, dass entlang der Straße
verminte Felder seien und überall geschossen werde. „Trotzdem ließen sie
uns durch“, erzählt Nikolaj. Sie seien dann noch 12 Kilometer bis zum
ersten ukrainischen Checkpoint gelaufen…
Juri Larin, ukrainischer Journalist
Aus dem Russischen: Gaby Coldewey
6 Jul 2023
## LINKS
[1] /Kriegsverbrechen-in-der-Ukraine/!5921386
[2] https://saveukraineua.org/
[3] https://childrenofwar.gov.ua/en/
## AUTOREN
Gaby Coldewey
Juri Larin
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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