| # taz.de -- Dagesh-Kunstpreis 2023: Risse im Raum-Zeit-Kontinuum | |
| > Das Jüdischen Museum zeigt eine Ausstellung von Maya Schweizer. Die | |
| > Videokünstlerin hinterfragt darin die Notwendigkeit von Geschichte und | |
| > Vergessen. | |
| Bild: Technisch oder natürlich? Ein Videostill aus Maya Schweizers „Sans His… | |
| Später, auf der Straße, sieht man die Dinge zum ersten Mal. Auf den Bus | |
| wartend, erscheinen Details am Wohnhaus Lindenstraße 15–17, die der Blick | |
| jahrelang ignorierte: Historische Architekturfragmente sind teils in die | |
| Backsteinfassade des postmodernen Baus eingelassen, teils treten sie daraus | |
| hervor oder sind dem Haus wie angeheftet. Handelt es sich um Überreste oder | |
| um Teile einer Musterfassade für die zukünftige Gestaltung des Gebäudes? | |
| Und dann ist da noch das Werbeschild an dem bereits geschlossenen Imbiss im | |
| Haus: „Vor Bestellung abholen“. Ein Riss im Raum-Zeit-Kontinuum? | |
| Dafür, dass man auf derlei Gedanken kommt, sorgt eine Ausstellung im Haus | |
| nebenan, dem Jüdischen Museum, die sich mit Vorstellungen des Zeitlichen | |
| beschäftigt. Und wenn künstlerische Arbeiten auf diese Weise nachwirken, | |
| über die eigene Wahrnehmung zeitlicher Abläufe nachdenken lassen, hat die | |
| Kunst bereits einiges gewonnen. | |
| Die aus Frankreich stammende, in Berlin lebende Künstlerin Maya Schweizer | |
| zeigt im Libeskind-Bau unter dem Titel „Sans histoire“ („Ohne Geschichte�… | |
| vier Videoarbeiten. Anlass ist die Verleihung des diesjährigen | |
| „Dagesh-Kunstpreises“ durch das Museum und den Verein | |
| „DialoguePerspectives“ an Schweizer. Es ist ein Preis, der „[1][jüdische | |
| Gegenwartspositionen] neu und vielfältig sichtbar“ machen will und mit dem | |
| Werke ausgezeichnet werden, „die sich mit Herausforderungen der Gegenwart | |
| sowie Fragen des Zusammenlebens künstlerisch auseinandersetzen“. | |
| Von Dystopien zu Utopien | |
| Das ausgeschriebene Thema, unter dem sich Künstler*innen im vergangenen | |
| Jahr für den Preis bewerben konnten, lautete „Was jetzt? Von Dystopien zu | |
| Utopien“. Schweizer war bedacht genug, die in der Preisfrage mitschwingende | |
| didaktische Zielvorgabe zu umgehen, und produzierte ein halbstündiges, der | |
| Ausstellung ihren Titel gebendes Video, in dem die Frage, ob Dystopisches | |
| oder Utopisches im Jetzt überwiegt, offen bleibt und von der Künstlerin | |
| vereinnahmt wird. | |
| Schweizers Bestandsaufnahme der Gegenwart ist ein Kaleidoskop sich | |
| gleichzeitig ergänzender wie widersprechender Bilder und Töne: Bei ihrer | |
| träumerisch anmutenden filmischen Montage aus im Internet gefundenem | |
| Material sieht man Technologisches (Platinen, Bildschirme, Roboter), | |
| Natürliches (Schleiereulen, Schimpansen, Menschen), Geologisches | |
| (Wasserfälle, Küsten, Wüsten). | |
| Es sind schnell wechselnde Szenen einer post- und transhumanen, digital | |
| durchdrungenen Welt, die auch das Verständnis geschichtlicher Zusammenhänge | |
| berührt: Einmal wird der Schriftzug „Museum of Illusions“ eingeblendet. | |
| „Sans histoire“ berührt also auch das Kernverständnis der Institution | |
| Museum und so zeigt Schweizer an einer Stelle die Architektur [2][des | |
| Jüdischen Museums selbst], verankert ihr audiovisuelles Kreisen über das | |
| Erinnern so in einer Institution, in der das museale Gedächtnis eine ganz | |
| spezifische Aufgabe einnimmt, die sich durch Gründungszweck, | |
| Ausstellungsprogramm und Architektur gegen Geschichtslosigkeit stemmt. | |
| Dass es Schweizer, wie in diesem Video, nicht nur dabei belässt, eine | |
| Diskussion über die Rolle von Geschichte angesichts der Omnipräsenz | |
| technischer Gedächtnisse zu eröffnen, zeigen ihre drei anderen in der | |
| Ausstellung präsenten, älteren Videos. In „Voices and Shells“ (2020) stei… | |
| die Kamera aus Abflusskanälen Münchens zu im Nationalsozialismus | |
| entstandenen Gebäuden der Stadt wie dem Haus der Kunst hinauf. Das bewegte | |
| Bild wird unterlegt unter anderem mit Sprachsequenzen, die von Verfolgung | |
| und Vernichtung berichten. Insbesondere diese Filmcollage gibt dem Film | |
| „Sans histoire“ und damit dem Gesamtgefüge der Ausstellung, den | |
| geschichtlichen Rahmen, der das Reflektieren über Geschichtslosigkeit erst | |
| ermöglicht. | |
| 19 Jul 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Martin Conrads | |
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