# taz.de -- Migrationspolitik in den Niederlanden: Von wegen liberal | |
> Die Niederlande haben den Ruf, besonders offen und vorurteilsfrei zu | |
> sein. Doch in der Migrationspolitik fährt das Land einen restriktiven | |
> Kurs. | |
Bild: Auch Mark Rutte besuchte im Juni die tunesische Premierministerin Najla B… | |
Berlin taz | Der niederländischen Ministerpräsident [1][Mark Rutte hat im | |
Streit über hohe Flüchtlingszahlen sein Amt verloren]. Dabei war es | |
keineswegs so, als habe sich das Land nicht seit Jahren darum bemüht, diese | |
zu senken – und dabei keine maßgebliche, wenngleich oft übersehene Rolle | |
innerhalb der EU eingenommen. Dass die Niederlande bis heute als liberal | |
gelten, half der Regierung, auch umstrittene Ansätze voranzutreiben. | |
So war es ein Niederländer, [2][der sich 2016 dafür starkmachte], | |
afrikanischen Staaten bei der Migrationskontrolle und den Abschiebungen die | |
Pistole auf die Brust zu setzen: Er schlage eine „Mischung aus positiven | |
und negativen Anreizen“ vor – so beschrieb der sozialdemokratische | |
EU-Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans damals die Linie der neuen | |
EU-Afrikapolitik. Drittländer, die „effektiv“ mit der EU zusammenarbeiten, | |
seien zu „belohnen“, für die anderen solle es „Konsequenzen geben“. | |
Zuckerbrot und Peitsche also. | |
Eins der von Timmermans angedachten Instrumente: Sogenannte | |
Laissez-passers, Passersatzpapiere für Abschiebungen, die die EU-Staaten | |
selber nach vermuteter Staatsangehörigkeit ausstellen können. Für die | |
afrikanischen Staaten war das Teufelszeug, für die EU-Ausländerbehörden | |
wäre es eine Art Blankoscheck für Abschiebungen gewesen. Ein entsprechendes | |
Pilotprojekt handelte die niederländische Regierung 2017 erstmals im | |
Auftrag der EU mit Mali aus – das die Regierung in Bamako nach wütenden | |
Protesten im Inland allerdings gleich wieder stoppte. | |
Nur ein Jahr später waren es die Niederlande, die gemeinsam mit Deutschland | |
im westafrikanischen Niger, einem der ärmsten Länder der Welt, [3][eine | |
neue Grenzschutzeinheit bezahlten, ausbildeten und ausrüsteten.] Dabei hat | |
Niger eine Nationalpolizei, eine Gendarmerie, eine Nationalgarde und eine | |
Armee, die alle auch mit Grenzschutz befasst sind. Doch die neue Truppe | |
sollte vor allem die Grenze zum bevölkerungsreichen Nigeria im Blick | |
behalten – dem Staat, aus dem die EU für die Zukunft mit besonders vielen | |
irregulären Migrant:innen rechnet. | |
## Kein Mitglied in der „Koalition der Willigen“ | |
[4][Auch bei der jüngsten diplomatischen Offensive, Anfang Juni in Tunis], | |
war es der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte, der | |
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Italiens | |
rechtsextreme Ministerpräsidentin Giorgia Meloni begleitete. Gemeinsam | |
wollten sie – flankiert durch fast eine Milliarde Euro Hilfsgelder – | |
Tunesien dazu bringen, beim Grenzschutz wieder der effiziente Außenposten | |
zu werden, der das Land zu Zeiten des 2011 gestürzten Diktators Ben Ali | |
lange war. Bisher allerdings blieben die Anstrengungen ohne Erfolg. | |
Bei solchen Bemühungen um die Externalisierung des Grenzschutzes waren die | |
Niederlande stets vorn mit dabei. Als jedoch Deutschlands Innenminister | |
Horst Seehofer 2018 eine „Koalition der Willigen“ schmiedete, um Italien | |
und Malta aus Seenot gerettete Flüchtlinge abzunehmen, hielten sich die | |
Niederlande zurück und nahmen niemand auf. | |
Auch im Inland war die Menschenrechtsbilanz in letzter Zeit düster. Seit | |
2014 werden Flüchtlinge in einem zentralen Aufnahmezentrum in Ter Apel | |
untergebracht. Das Lager wurde als „effizient“ und „vorbildlich“ gelobt. | |
Die Situation vor Ort verschlechterte sich über die Jahre aber so sehr, | |
dass Ärzte ohne Grenzen (MSF) dort im September 2022 einen Nothilfeeinsatz | |
starten mussten. Hunderte Menschen waren gezwungen, unter offenem Himmel zu | |
schlafen, ein Säugling starb. „Diese Menschen haben eine schreckliche | |
Flucht hinter sich. Sie so zu behandeln gefährdet auch ihre mentale | |
Gesundheit“, sagte die MSF-Geschäftsführerin Judith Sargentini dem Spiegel. | |
Im vergangenen Jahr registrierte das Land schließlich rund 35.000 | |
Asyl-Erstanträge. Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl waren dies etwas | |
weniger als in Deutschland. Die Anerkennungsquote stieg indes auf ein | |
Rekordhoch von über 87 Prozent – deutlich mehr als hierzulande. | |
10 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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