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# taz.de -- Neue Ausstellung im Varusschlacht-Museum: Panzer schützen nicht
> Eine archäologische Sensation: „Cold Case – Tod eines Legionärs“ in
> Kalkriese ist um den 2018 ausgegrabenen römischen Schienenpanzer herum
> gebaut.
Bild: Die Ausstellung ermöglicht interessante Perspektiven auf den gewaltsamen…
Kalkriese taz | Es beginnt im Treppenhaus, mit Stimmen aus dem Nichts:
„Irgendwas ist da! Schau genau hin!“ Zu unseren Füßen ein Umriss wie in d…
Erde. Wir kommen ihm näher, ein Metalldetektor gibt Alarm. Dazu ein
Flüstern: „Unfassbar!“
Soghaft ist das. Wer sich inspirieren lässt, die eigentliche Eingangstür
öffnet, steht vor einer Transportkiste. In ihr ist er aufbewahrt worden,
der römische Schienenpanzer, um den sich hier im Varusschlacht-Museum
gerade alles dreht: eingegipst, mit Bauschaum umpolstert, zum Schutz vor
Erschütterungen, lag er darin. Er ist, 2018 im niedersächsischen Kalkriese
ausgegraben, der kompletteste seiner Art, weltweit. Und der älteste. Ein
imposanter Anblick.
Die Sonderausstellung [1][„Cold Case – Tod eines Legionärs“] des Museums
bei Osnabrück ist als Spurensuche inszeniert, als Rätsel, als potenzieller
Kriminalfall: Warum blieb der Panzer auf dem geplünderten Schlachtfeld
zurück, vor mehr als 2000 Jahren? Ist es Zufall, dass in seiner Nähe eine
Halsgeige gefunden wurde, ein römisches Fesselungsinstrument? Wurde hier
ein überlebender Römer von den siegreichen Germanen gebunden und rituell
drapiert, als Zeichen des Triumphs?
Die Ausstellung behauptet nicht, die Wahrheit zu kennen. Sie beschränkt
sich auf Ermittlungen, Indizien, Hypothesen. „Neue Redlichkeit“ sagt
Archäologe Stefan Burmeister dazu, der Geschäftsführer des Museums. Das hat
unter ihm einen Paradigmenwechsel erlebt, dessen Ziel die Reform der
Dauerausstellung ist. Jahrzehntelang war in Kalkriese der Schlachtverlauf
falsch erklärt worden, [2][obwohl man es hätte besser wissen können] – wie
auch die taz seinerzeit schrieb.
Damals stand hier jedoch eine möglichst spektakuläre Geschichte [3][höher
im Kurs als nüchterne, ergebnisoffene Wissenschaft]. Heute steht im
Faltblatt von „Cold Case“ programmatisch: „Wir drücken uns nicht vor ein…
endgültigen Entscheidung, aber wir sagen auch, was wir (noch) nicht
wissen.“ Gut so. „Cold Case“ richtet den Blick auch auf ein
Individualschicksal, nicht nur auf einen Gegenstand. Lebendig spiegelt die
Schau die Spannung, die der Fund im Kalkrieser Team ausgelöst hat. „So was
elektrisiert dich ja total“, sagt Burmeister mit Blick auf den Park, in dem
gerade ein paar Germanendarsteller ihre Speere im SUV verstauen.
Der Beginn von „Cold Case“, in laborhaftes Weiß getaucht, zeigt, warum es
fünf Jahre gedauert hat, bis der Panzer für seine Präsentation bereit war,
von der ersten Röntgenaufnahme bis zu den letzten Schritten der
Restaurierung. Vom Sandstrahlen ist hier Rede, OP-Handschuhe sind zu sehen,
ein Skalpell, eine Pinzette.
Und da ist er dann, der Panzer. „The One and Only“ steht dran. Der Schau,
sonst teils brutal und morbide, tun solche Leichtigkeiten gut. Zeichnungen
aus „Asterix bei den Belgiern“ haben dieselbe Wirkung. Auch ein Nachbau des
Kalkrieser Sensationsfunds, der in der Netflix-Serie „Barbaren“ zum Einsatz
kam. Augenzwinkernd zeigt ein Sportler in einem mit Zitterbild und
Streifenflimmern auf alt getrimmten Film, dass man in einem Nachbau des
Panzers Basketball spielen kann, an Ringen turnen.
Wer sich auf „Cold Case“ einlässt, braucht Zeit für 3-D-Animationen und
virtuelle Begegnungen mit Mitgliedern des Kalkrieser Teams, Burmeister
inklusive. Vergleichsfunde sind zu sehen, quer durch die Jahrhunderte und
quer durch Europa, bis zum deutschen Infanterie-Körperpanzer von 1917. Es
geht darum, warum und wie Schlachtfelder „zum kultischen Heiligtum“ werden
und ob der Mensch dazu neigt, bei Rätseln wie dem von Kalkriese „grausame
Erklärungsansätze für eher plausibel zu halten“. Das ist klug, kritisch,
eingängig.
„Cold Case“ perspektiviert ins Gegenwärtige. Wer sich in den
„Reflexionsraum“ wagt, eine enge, schwarze Kammer, erlebt das sehr
schockhaft: Collagen hammerharter Filmsplitter branden auf uns ein. Wunden
bluten, George Floyd erstickt, MMA-Kämpfer treten gegen Köpfe,
Fleischstücke werden zerfetzt, Keanu Reeves schießt sich in „John Wick:
Chapter 2“ durch die Ausstellung „Reflections of the Soul“. Dazwischen
weißes Rauschen, wie eine Folter. Stark ist das. Auch der Blick auf die
zerstörte Panzertür eines Dingo-MRAP von Fallschirmjägern der Bundeswehr
macht nachdenklich, 2010 in Afghanistan auf dem Gefechtsfeld
zurückgeblieben, manövrierunfähig nach einer Sprengfallendetonation.
Die Schau macht alles richtig: Medieneinsatz und Exponate sind gut
austariert. Nichts ermüdet. Jede Speerspitze, jede Dolchscheide regt zur
Betrachtung an. Auch die Videos, in denen Experten ihren ganz eigenen Blick
auf das Thema werfen, vom Militärhistoriker bis zum Psychoanalytiker, von
der Krimiautorin bis zum Afghanistanveteran, lohnen sich sehr. „Cold Case“
macht Lust auf Archäologie. Das ist ein großes Verdienst.
Vor dem Ausgang steht uns der Legionär dann selbst gegenüber, als
imaginäres Röntgenbild. Seine Hände sind frei, und zugleich sind sie
gefesselt. Wie wir ihn sehen, kommt auf unsere Blickperspektive an.
Deutlicher geht es nicht. Wer will, kann seine eigene Sicht zu Panzer und
Halsgeige preisgeben. Einer der ersten Vorschläge, gleich am Eröffnungstag:
„Hat ein Römer geistesgegenwärtig gehandelt, den Panzer abgelegt im Chaos
der Schlacht, und ist, als Germane verkleidet, geflohen? Ein Happy End?
Wieso nicht!“ Eigentlich eine schöne Vorstellung.
18 Jun 2023
## LINKS
[1] https://www.kalkriese-varusschlacht.de/museum-park/ausstellungen/cold-case-…
[2] /Instrumentalisierte-Archaeologie/!5454369
[3] /!5455707
## AUTOREN
Harff-Peter Schönherr
## TAGS
Museum Kalkriese
Römer
Archäologie
Panzer
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Archäologie
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