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# taz.de -- Pinkeln an die Siegessäule
> Nicht nur Kernkraftwerke können einen GAU erleben, auch archäologische
> Museen. Dem „Varusschlacht“-Museum in Kalkriese bei Osnabrück ist genau
> das jetzt passiert. Jahrzehntelang wurde der Schlachtverlauf falsch
> erklärt
Bild: Keine Archäologie ist auch keine Lösung: Die Vorstellung von der Schlac…
Aus Kalkriese Harff-Peter Schönherr
Eine malerische Wiese. Murmelnde Bachläufe, zirpende Vögel, duftende Blüten
am Weg: Schlachtfelder können schrecklich schöne Idyllen sein, lehrt die
Niewedder Senke am Wiehengebirge, 15 Kilometer nördlich von Osnabrück. An
diesem Engpass zwischen Kalkrieser Berg und Großem Moor fand im Jahr 9 n.
Chr. das letzte Kapitel einer legendenumwobenen Schlacht statt, die viele
Namen hat: Schlacht im Teutoburger Wald, Hermannsschlacht, Varusschlacht.
Am Ende hatten die cheruskischen Krieger, angeführt von einem Mann, den die
Überlieferung Arminius nennt, die drei Legionen des römischen Feldherrn
Varus aufgerieben, mitsamt Hilfstruppen und Tross, mindestens 15.000 Mann.
Drei Tage dauerte der Kampf, den manche bis heute zur Geburtsstunde
Deutschlands stilisieren, obwohl der Stamm der Cherusker wenige Jahrzehnte
später infolge innerer Streitigkeiten erlischt. Geschehnisse wie dieser
Sieg der Außenseiter gegen eine militärische Übermacht sind, so scheint es,
stets in Gefahr, instrumentalisiert zu werden.
Unbekannt, wo der Kampf begann. Unbekannt, wo die letzten Fliehenden
starben. Aber hier, auf dem „Oberesch“ war einer der Hauptkampfplätze. So
heißt es zumindest, denn viel spricht dafür, und nichts spricht dagegen:
Vom Schleuderblei bis zur Goldmünze reichen die Funde, vom Helmfragment bis
zum Katapultprojektil, von der Speerspitze bis zur Maultierglocke, vom
Sandalennagel bis zur Reitermaske. 30 Quadratkilometer weit.
Seit der Metalldetektor-Alarm eines Hobbyforschers 1987 alles ins Rollen
brachte, sitzt Kalkriese der Komplex im Nacken, zu beweisen, dass hier
nicht vielleicht doch eine ganze andere Schlacht stattfand – die bei den
Pontes Longi, in der Arminius sechs Jahre nach seinem Sieg über Varus die
Legionen des römischen Generals Caecina angriff. Die hatten einen Dammweg
übers morastige Terrain repariert – und auf dem alten Kampfplatz das
bestattet, was sie für die Überreste der in der Varusschlacht gefallenen
Legionäre hielten.
Die Konkurrenz ist groß. Weit über 700 Orte waren im Gespräch, Ort der
Varusschlacht zu sein. In Detmold haben sie deshalb einst das
Hermanns-Denkmal errichtet, mit Siebenmeter-Schwert und nationalistischer
Inschrift: „MEINE:STAERKE:DEUTSCHLANDS:MACHT“. Dort ärgern sie sich
weiterhin, dass sie zu den Varusschlacht-Anwärtern gehören, die das kleine
Kalkriese abgehängt hat.
Das hat viel zu verlieren: Seit 2002 steht hier ein Museum mit 20 Hektar
großem Freigelände, jährliche Besucherzahl sechsstellig. Die ganze Region
profitiert vom Idyll auf der Niederwedder Senke. Schlachtfelder können
nicht nur schrecklich schön sein. Auf manchen von ihnen finden noch
Jahrtausende nach der Schlacht Gefechte statt – Gefechte um die
archäologische Wahrheit. So auch in Kalkriese. Als Bundeskanzlerin Angela
Merkel am 15. Mai 2009 mit ihrem Helikopter gleich beim Museum niederging,
um die Eröffnungsrede zur Ausstellung „Imperium Konflikt Mythos. 2000 Jahre
Varusschlacht“ zu halten, war sie also nicht sehr gut beraten, als sie
sagte, hier entstehe, „ein Bild der Vergangenheit, über dessen Details vor
einigen Jahren noch schwer gerätselt wurde“.
Denn die Rätsel bleiben. Einige davon werden unspektakulär gelöst:
Puzzle-Steinchen fällt an seinen Platz, fertig. Andere senden Schockwellen
aus. Der wissenschaftliche GAU etwa, den die „Varusschlacht im Osnabrücker
Land gGmbH Museum und Park Kalkriese“ Ende September verkünden musste:
Jahrzehnte lang hatte sie den Schlachtverlauf völlig falsch erklärt.
Römische Kolonne zieht von Ost nach West, haben unzählige Besucher gelernt,
links einen Berghang und rechts ein Moor, gerät an der schmalsten Stelle
vor ein Angriffsbollwerk der Germanen, einen 380 Meter langen,
zickzackartigen Wall aus Sand, Rasensoden und Holzpfosten, und wird
abgeschlachtet, Einheit für Einheit, Angriff der Germanen im 90-Grad-Winkel
von Süd nach Nord. Klar, die Varusschlacht war eben ein Hinterhalt. Weiß ja
jedes Kind. Und genau hier war er dann wohl. Nur: Heute wissen wir es
besser. Nach Grabungskampagnen 2016 und 2017, durchgeführt von Professor
Salvatore Ortisi, Leiter der Wissenschaftsabteilung am Museum Kalkriese,
gilt als sicher: Der angeblich germanische Wall ist in Wahrheit Teil eines
römischen Lagers.
Klar, die Römer ziehen von Ost nach West, und die Germanen greifen von Süd
nach Nord an. Nur improvisieren die Römer, schwer bedrängt, am zweiten Tag
der Schlacht, ein Marschlager, viereinhalb Hektar groß, für bis zu 4.000
Mann, ihre letzten Überlebenden. Der vermeintliche Germanenwall ist seine
südliche Grenze. Die Germanen rennen gegen ihn an, nicht die Römer.
Gut, könnte man jetzt sagen, das ist peinlich. Aber so ist die Wissenschaft
eben, ständig gebiert sie neue Erkenntnisse. Und archäologisch bleibt
Kalkriese ja eines von nur drei bekannten römischen Schlachtfeldern, bei
denen sich Spuren tatsächlicher militärischer Operationen im offenen
Gelände nachweisen lassen. Aber das Problem ist: Warnungen, dass die
Germanenwall-Theorie falsch ist, und wo man graben müsste, um das zu
beweisen, gab es schon vor über 15 Jahren. Aber sie wurden ignoriert. Ein
Wissenschaftskrimi.
Er beginnt 1999. Mit Christian Böhling, Student der Ur- und Frühgeschichte
in Münster. Böhling, der heute anders heißt, führt in Kalkriese
Besuchergruppen, ist Grabungshelfer, die Planung des Außenareals wird ihm
übertragen. Lange ist alles gut. Böhling arbeitet gern hier,
leidenschaftlich: Seit seiner Jugend hat die Varusschlacht ihn
elektrisiert. Doch dann, 2000, geschieht es. Böhlings Team ist dabei,
Rasensoden zu stechen, einen Graben auszuheben. Ein Landschaftsschnitt
entsteht, bis auf das Bodenniveau römisch-germanischer Zeit hinab, in ihm
ein Stück rekonstruierter Wall.
Und Böhling kommen Zweifel. Kann der Wall, den er hier rekonstruiert,
wirklich germanisch sein? Er sichtet Befunde, begeht wieder und wieder das
Gelände, diskutiert mit Kollegen. Hätten die Germanen, in Schanzarbeiten
unerfahren, für ein solches Bauwerk nicht viel zu lange gebraucht? Er
selbst kommt hier kaum in die Erde, so hart ist der Hanglehm, der Kalk.
Welchen Sinn hätte ein so kurzes Wallstück gehabt, ohne Flankenschutz,
leicht zu umgehen? Und wogegen hätten sich die Germanen dort sichern
wollen? Am Ende ist er überzeugt: Der Wall wird missdeutet, muss Teil eines
römischen Lagers sein. Aber Christian Böhling ist bloß Student. Seine
Praxiserfahrung ist schmal. Eigentlich müsste der Blick aller anderen im
Team weit analytischer sein als der seine. Was also tun? Böhling ringt mit
sich. Lange.
Dann überwindet er seine Scheu. Er glaubt an die Wissenschaft. An ihre
Offenheit für neue Erkenntnisse. Also schreibt er ein Thesenpapier: „Der
Erdwall von Kalkriese. Probleme in der Deutung als germanische
Abschnittsbefestigung“. Sein Fazit: „Wenn man die große Not voraussetzt, in
die die römische Armee geraten war, ist es durchaus denkbar, dass der
Oberesch (…) behelfsmäßig als Verschanzung gegen den Feind von den Römern
mit Erdwällen und Gräben gesichert worden ist.“ Im Jahr 2004 legt er das
Papier Susanne Wilbers-Rost vor.
Die leitet die archäologische Abteilung in Kalkriese. Promoviert wurde sie
für eine Arbeit über Pferdegeschirre der römischen Kaiserzeit. Vier Stunden
sitzt Böhling mit ihr und Achim Rost zusammen, ihrem Mann. Der hat 1988
eine Dissertation über Siedlungsarchäologie zwischen Leine und Weser
verteidigt. Öffentlich betonen Wilbers-Rost & Rost stets, ihnen gehe es um
Grundlagenforschung. Die Varusschlacht sei „nur ein Nebeneffekt“, sagen sie
2009. Und „für konstruktive Einwände sind wir immer offen“. Beim
Fachgespräch erlebt Böhling das Forscherpaar völlig anders: „Sie haben mir
gar nicht zugehört“, sagt er. Was ihre Germanenwall-Theorie infrage
stellte, „wurde kategorisch abgewehrt“. Eine Diskussion findet nicht statt.
Es wäre einfach gewesen, ein paar Suchschnitte zu setzen. Es geschieht
nicht.
Und dann ist da noch die Sache mit Grabungsschnitt 37 im selben Jahr.
Böhling gräbt an einer Knochengrube. Tote einer Schlacht liegen hier.
Bestattet. Böhling fällt eine stufenförmige Terrassierung der Grubenwand
auf. Er deutet sie als römische Wassergrube mit verschalten Seiten,
gegraben in der Umwallung. Doch was nicht sein soll, das darf nicht sein:
„Die Terrassierung fiel einfach unter den Tisch“, sagt er. „Susanne
Wilbers-Rost sah in der Grube eine germanische Fallgrube.“
Böhling ist heute desillusioniert. Damals hat er aus Frust sogar sein
Studium geschmissen. Ist in die innere Emigration gegangen. „Alle
Vertrauten, die ich in Kalkriese hatte, wurden nach und nach geschasst.
Mich haben sie als Letzten rausgeschmissen, 2014.“ Ja, Ortisis Ergebnisse
sind für ihn eine Genugtuung. „Das ist, wie wenn du an eine Siegessäule
pisst.“ Damals hatte Böhling „weder die richtige Waffe noch die richtige
Munition“. Ortisi hatte beides. Nur eines stört ihn: „Dass es jetzt so
aussieht, als wäre das eine neue Entdeckung.“
Böhling ist nicht der Einzige, der in Kalkriese ignoriert wird. Professor
Wolfgang Schlüter, Gründer und lange Jahre Leiter der Stadt- und
Kreisarchäologie Osnabrück, ohne ihn gäbe es weder Grabung noch Museum in
Kalkriese, macht dieselben Erfahrungen: „Da wurde einfach gemauert“,
bestätigt er. Wir sitzen in der Osnabrücker Stadt- und Kreisarchäologie,
Schlüter ist hier noch heute so zu Hause wie 2002, als er sie verließ. Er
schlägt Grabungsschnitt-Karten auf. Man spürt die Energie, die in dem
80-Jährigen steckt.
Lange selbst ein Verfechter der Germanenwall-Theorie, hat der Ziehvater von
Wilbers-Rost schon vor Jahren umgedacht. 2011 fragt er mit einem Aufsatz
„War der Oberesch in Kalkriese der Standort des letzten Varuslagers?“ Darin
heißt es: Bereits 2000 habe er „nicht ausschließen wollen, dass als Erbauer
(…) auch römische Truppen in Betracht kommen“. Wie es zu seinem Umdenken
kam? Irgendwann habe er sich noch einmal die geologischen Bedingungen
angesehen, sie in die Karte übertragen. „Da fiel es mir wie Schuppen von
den Augen.“ Pause. „Es gab so viele offene Fragen. Aber in Kalkriese hat
einfach keine Diskussion stattgefunden.“
Schlüter holt Luft. „Warum hätten die Römer denn in eine so winzige
Todeszone vorrücken sollen, wie Schafe zur Schlachtbank?“ Und die schmalen
Lücken im Wall, ursprünglich als Ausfall- und Rückzugspforten der Germanen
gedeutet? „Da haben die Germanen den römischen Wall unterspült,
untergraben, bis alles zusammensackt“, vermutet er. Eine Deutung, die zur
Pontes-Longi-Hypothese passen würde. „Daher gibt es hier auch keine Funde“,
sagt Schlüter. „Wäre hier heftig gekämpft worden, sähen wir das Gegenteil…
Aber im Varusschlacht-Park hatte man bestimmte Sachen einfach so genau gar
nicht wissen wollen. Da war zum Beispiel „diese Sache mit dem Laser-Scan“.
Schlüter schüttelt den Kopf, wenn er daran denkt. „Wie oft habe ich den
empfohlen! Jede noch so winzige Erhebung wäre da zu sehen. Ist aber nie
gemacht worden. Unsinn, hieß es, sei nicht nötig. Das war da die
Standardantwort.“
Auch bei den Grabungen hätte etwas mehr Technik zu schnelleren
Fortschritten beigetragen. Böhling: „Da geht man dann eben per Bagger zur
fundführenden Schicht runter. Das öffnet schnell große Flächen.“ Im
Museumspark Kalkriese war dieser Ansatz aber verpönt. Gegraben worden sei
„so, dass der Besucher gut zusehen kann“, erläutert Böhling. Monatelang
habe man sich an winzigen Schnitten aufgehalten. „Tourimusarchäologie“
nennt er das.
Ortisis römisches Lager ist ein Sprengsatz für Kalkriese: Wilbers-Rost war
bisher im Besitz der Deutungshoheit, auch unter Ortisis Vorgänger Günter
Moosbauer. Jetzt steht sie unter Druck. Zu den neuen Erkenntnissen schweigt
sie: „Ich war an diesen Grabungen nicht beteiligt.“ Ende der Mitteilung.
Die Leiterin der Archäologie-Abteilung ist an den wichtigsten Grabungen der
letzten Jahre nicht beteiligt? Kalkriese-Geschäftsführer Joseph Rottmann,
diplomatisch: „Sie war und ist mit ihrem Projekt ‚Conflict Landscape‘
ausgelastet.“
Lange wird Ortisi die Grabungen in Kalkriese nicht mehr betreuen: Schon
2016 hat er einen Ruf an die Münchner Ludwig Maximilians-Uni angenommen.
Sein Nachfolger auf dem Osnabrücker Lehrstuhl wird auch die
wissenschaftliche Leitung der Kalkriese-Grabungen übernehmen. Vielleicht
hat sich Ortisi deshalb so mit den Grabungen beeilt: „Uns war sofort klar:
Da sind kritische Punkte, und die müssen wir angehen, möglichst schnell“,
erklärt er. Und, ja, das mit dem Bagger sei hilfreich gewesen: „Man hat ja
nicht alle Zeit der Welt. Da muss man auch mal wagemutig sein.“
Warum es so lange gedauert hat, bis die Marschlager-Theorie überprüft
wurde? Rottmann: „Da waren so viele andere Projekte.“ Aber hätte man nicht
trotzdem nachsehen können, stichprobenweise? Nachsehen müssen? „Ja. Sicher.
Hätte man. Das war ein klarer Fehler.“ Fortsetzen soll der sich nicht. Erst
geht es der Germanenwall-Geschichte auf der Website seines Hauses an den
Kragen, dann wird die Dauerausstellung revidiert. „Erste Informationen
bekommen unsere Besucher schon jetzt. Auf Schautafeln. Die Kernpunkte.“
Auch die Gästeführer sind gebrieft. „Ich bin immer für Offenheit.“ Das
passt zum „Leitbild“ des Museums. Man wolle ein „offener und
diskussionsfreudiger Ort der Forschung“ sein, steht da. Guter Vorsatz.
21 Oct 2017
## AUTOREN
Harff-Peter Schönherr
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