# taz.de -- Mit der Bahn gestrandet nachts in Berlin: Der Schrei | |
> Spät nachts komme ich in Berlin an und brauche ein Bett, weil kein | |
> Anschlusszug mehr geht. Alle Hotels sind voll. Mir hilft, das Gefühl | |
> rauszulassen. | |
Bild: Kann Gestrandete in Verzweiflung stürzen: nächtliches Gewitter in Berlin | |
Um uns zucken Blitze. Die Bahn schwankt. „Wir fahren jetzt durch die | |
Gewitterfront. Gegen Mitternacht werden wir Berlin erreichen“, sagt der | |
Zugbegleiter. „So Gott will.“ Die anderen Reisenden und ich schauen uns mit | |
großen Augen an. | |
Ich fahre nach Berlin, obwohl ich dort nicht hin möchte. In dieser Nacht | |
ist alles anders. Mein Zug nach Hamburg ist in Frankfurt liegen geblieben. | |
Dort wurde die nächste Verbindung nach Hamburg erst wieder in eineinhalb | |
Stunden angezeigt. Ich hielt es für schlau, in den Zug nach Berlin zu | |
steigen, um von dort weiter nach Hamburg zu kommen: Erst einmal weg von | |
Frankfurt mit all den Menschen und Zügen, die hier gestrandet sind. | |
Die Fahrt nach Berlin fühlte sich richtig an, doch dann nahmen [1][das | |
Unwetter] und die Verspätung zu. Jetzt zucken die Blitze. Ein irreales, | |
schönes Schauspiel. Ich weiß, aus Berlin wird kein Zug mehr wegfahren, wenn | |
wir dort ankommen werden. | |
Als ich spät nachts in Berlin aussteige, fühle ich mich krank, mein Hals | |
schmerzt. Ich habe einen langen Arbeitstag und viele Stunden im Zug aus dem | |
Süden hinter mir. Als ich in der langen Schlange vor der Reiseauskunft | |
drankomme, sagt der Mitarbeiter, dass die Bahn heute kein freies Kontingent | |
mehr für Betten in den Hotels habe. Man könne sich zum Warten in einen | |
bereitgestellten ICE auf Gleis 8 setzen oder sich selbst ein Hotel suchen | |
und der Bahn danach in Rechnung stellen. Ich spüre, ich kann nicht wieder | |
zurück in einen Zug. | |
Ich trete aus dem Bahnhof hinaus in den Regen, der aus schwarzer Nacht | |
fällt. Die zwei Hotels, die ich an der Europaseite des Bahnhofs aufsuche, | |
sind ausgebucht. Die [2][Special Olympics] sind in der Stadt. „Keine | |
Chance“, sagt der Mann an der Rezeption. | |
Ich laufe durch die Halle zur anderen Seite des Bahnhofs an der Spree. In | |
den Ecken des Bahnhofs, auf dem Boden liegen Menschen. [3][Obdachlose]. Ich | |
bin unendlich erschöpft. Ich möchte nur noch einen Ort zum Ausstrecken. | |
Mein Handyakku ist fast leer, doch eine Hotel-App zeigt mir noch freie | |
Betten an. Als ich diese Hotels betrete, schütteln die müden Mitarbeitenden | |
den Kopf: „Wir sind restlos belegt.“ | |
Ich bin zwischen den Tagen. Die App zeigt zum Buchen den neuen Tag an, doch | |
die alte Nacht ist ausgebucht. Als ich das dritte Hotel verlasse und an der | |
Spree entlanglaufe, zucken Blitze um mich. Neben mir liegt dunkel das | |
Parlament. Mein Koffer ist schwer. | |
Ich spüre, wie ich kurz davor bin aufzugeben. Dass ich mich ablege, in die | |
Bahnhofshalle, zu den anderen Menschen auf den Boden. Noch ein Hotel zeigt | |
mir mein Handy an. Ich gehe über die kleine Brücke an der Spree. Doch auf | |
der Mitte der Brücke spüre ich plötzlich, dass meine Situation aussichtslos | |
ist. Dass es zu nass und dunkel ist, um weiter nach Hotels zu suchen. | |
Ich stehe auf der Brücke im Gewitter und plötzlich bricht sich ein Gefühl | |
in mir Bahn. Laut schreie ich ein Wort heraus. Wann habe ich das letzte Mal | |
so geschrien, wann war ich das letzte Mal so allein und losgebunden von | |
allem, mitten im Unwetter? Auf eine bestimmte Weise ist es ein | |
[4][befreiendes Gefühl.] | |
Ein Mann im Anzug, der einzeln in der Ferne steht, schaut mich erstaunt an. | |
Ich ignoriere ihn. Der Schrei hat mir überraschend Kraft gegeben. Ich spüre | |
neuen Willen. | |
Und dann entscheide ich. Auch wenn ich nicht weiß, ob mir das die Bahn | |
zurückzahlt. Ich steige in das nächste Taxi und fahre weiter weg vom | |
Bahnhof zum Alexanderplatz, ich buche über die App ein Bett im günstigsten | |
Hotel und bezahle es im Voraus, um Fakten zu schaffen. Als ich dort | |
ankomme, sagt der Mitarbeiter. „Es ist eigentlich merkwürdig, dass Sie noch | |
buchen konnten. Aber ja, da ist noch ein Bett.“ | |
Als ich völlig durchnässt mein Zimmer betrete, denke ich an die Menschen am | |
Bahnhof, die sich jede Nacht einen Winkel suchen, ein Stück Boden, wo sie | |
schlafen. Wie sie das aushalten. Nacht für Nacht. Wann haben sie das letzte | |
Mal geschrien? Schreien sie nicht innerlich die ganze Zeit? | |
8 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Christa Pfafferott | |
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