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# taz.de -- BMX-Wettkampf: Nervende Angst
> Bei den European Games kämpft die BMX-Fahrerin Lara Marie Lessmann mit
> unschönen Erinnerungen. Kim Lea Müller läuft ihr den Rang ab.
Bild: Mentale Herausforderung: Lara Marie Lessmann muss bei ihren Sprüngen neg…
Berlin/Krakau taz | Die Hitze liegt wie heißer Teig über diesem kleinen
Vorort von Krakau. Die Bässe pumpen im Akkord, die Fugen im Asphalt sind
weich wie Kaugummi, Volunteers wedeln sich mit Fächern frische Luft zu und
suchen schattige Plätze. Es geht unkompliziert zu in Krzeszowice, da, wo
sie den BMX-Parcour mit hell- und dunkelblauen Rampen im Rahmen der
European Games aufgebaut haben.
Es gibt keine Sicherheitskontrolle, wie sonst üblich bei größeren
Sportevents. Internationale Journalisten sind kaum zu sehen. Der Einheizer,
ein Berliner, versucht sich in der Aussprache des Veranstaltungsortes:
Kratschowitze sagt er und wird sofort von seinem polnischen Kollegen
korrigiert: Krscheschowietze. Zum Warm-up der BMX-Freestylerinnen bleiben
die Ränge noch fast leer, auf dem Top der Rampe sind Trainer und
Athletinnen in den Vorbereitungen, die meisten haben sich unter Zelte oder
Sonnenschirme geflüchtet, denn das Thermometer zeigt in der Sonne fast 45
Grad.
Schon beim Einfahren kann jeder sehen, dass die deutschen Fahrerinnen
Medaillenchancen haben. Während sich eine Lettin und eine Polin mehr oder
weniger über den Parcours quälen, kaum Geschwindigkeit aufnehmen und eher
leichte Tricks zeigen, spielen [1][Lara Marie Lessmann] und vor allem
[2][Tim Lea Müller] mit den Hindernissen, katapultieren sich in die Höhe,
zeigen, was in der Szene jetzt so angesagt ist: Backflip Barspin oder
Tailwhip. Rückwärtssalto mit einer Lenkerdrehung und das einmalige Kreisen
des gesamten Rades unter der Hüfte.
Es gibt Dutzende und Aberdutzende Tricks, das Repertoire erweitert sich mit
jeder neuen Saison. Bei den Männern ist gerade der doppelte Rückwärtssalto
sehr angesagt, und der Sieger in dieser Konkurrenz, der Brite Kieran
Reilly, zeigt zur Freude der dann doch etwa 500 Zuschauer einen vierfachen
Tailwhip, was ganz lustig aussieht, weil sein ganzer Körper das Drehmoment
erzeugt und die Füße im Rhythmus des irren Kunststücks hektisch wippen.
„Yeah, great“, sagt der Einheizer, Lessmann und Müller klatschen.
## Anpassung an olympische Vorgaben
Sie haben sich längst auf der Medientribüne niedergelassen, ihr Wettkampf
ist vorbei. Die Eltern der dritten deutschen Starterin – sie scheiterte am
Vortag in der Qualifikation – Lillyana Seidler, gerade mal 15 Jahre alt,
sitzen auch dort. Ein Deutschlandfähnchen haben die Neubrandenburger
mitgebracht und ihre Begeisterung für den Sport der Tochter; der Vater
pfeift bei spektakulären Stunts der Deutschen schrill. Lillyana Seidler hat
ihre ersten Tricks auf einem Scooter, einem Roller, eingeübt, ist dann in
die BMX-Halle in Neubrandenburg gekommen, von da aufs Sportgymnasium. Ein
Weg, den Lara Marie Lessmann vorgezeichnet hat. Der Sport, der einst ein
Tummelplatz von Individualisten und eigenwilligen Fahrern war, von coolen
Typen, die das sogenannte Core-Gefühl über schnödes Konkurrenzdenken
stellten, hat sich an die olympischen Vorgaben angepasst.
Trotzig haben manche Fahrer und Fahrerinnen „Core“ noch auf ihren Helmen
stehen, als Referenz an den „echten“, authentischen Freestyle-Sport, aber
wie auch Bundestrainer Tobias Wicke, mit drei WM-Titeln ein alter Kempe,
sagt: „Heute fährt man miteinander gegeneinander. Es gibt schon immer noch
Leute, die core bleiben wollen, die gemütlich ihre Sessions fahren wollen,
aber wir machen hier Leistungssport mit dem Leistungsoptimum an
Wettkämpfen.“ Deswegen ist Lessmann von Flensburg vor Jahren schon nach
Berlin ans Sportgymnasium gewechselt. [3][Im Berliner Mellow-Park trifft
sich vor allem die junge Szene der Radartisten.] Dort ist Lessmann groß
geworden.
Lara Marie Lessmann war in den vergangenen Jahren Deutschlands führende
BMX-Fahrerin. Das sieht man allein schon daran, dass sie einen Helm von Red
Bull auf dem Kopf trägt. Wer von den Österreichern gesponsert wird, muss
gewisse Kriterien von Coolness und Marktreife erfüllen, und Lessmann
beeindruckte mit zehn Podien bei Weltcups, der Goldmedaille bei den Youth
Olympics und einem zweiten Platz bei einer Weltmeisterschaft.
Aber vor zwei Jahren, gerade mal sechs Wochen vor den Olympischen
Sommerspielen in Tokio, stürzte die heute 23-Jährige bei einer
360-Grad-Drehung mit dem Rad schwer, brach sich das Schlüsselbein. Mit
einer Stahlschiene wurde der Bruch geflickt. Lessmann zwang sich mit einem
Willensakt zu den Spielen, wurde dort gute Sechste. Die Verletzung wirkt
freilich bis heute nach: „BMX ist ein mentaler Sport, und ich merke immer
wieder, dass noch die Angst im Vordergrund ist.“ Es sei bisweilen schön,
diese Angst zu überwinden, sagt sie, „aber ich fahre auf jeden Fall immer
mit Vorsicht, das nervt langsam.“
## Enttäuscht und fast wehmütig
Auch in Krzeszowice ist ihr diese Blockade anzumerken, obwohl die
Stahlplatte vor einem halben Jahr entfernt wurde. „Ich muss im Kopf fit
sein, das fehlt noch“, sagt sie. In der Qualifikation zum Finale am
Donnerstag ist sie wieder blöd gestürzt – nach einem „weiten Transfer“.…
ließ sich in einem Krankenhaus in Krakau durchchecken, weil ein paar Rippen
schmerzten. Die Physios des deutschen Teams bearbeiteten sie in einer
Doppelschicht, am Arm hinterließen sie ein kunstvolles blaues Tape im
Wendeltreppen-Look. Es reicht aber nur für Platz fünf bei den European
Games.
Die Enttäuschung dringt ihr aus jeder Pore, sie zwingt sich zu einem
Interview, möchte nichts zu den Inhalten ihres Red-Bull-Vertrags sagen,
aber immerhin dies: „Ich bin dankbar, dass ich den Leuten zeigen konnte,
dass BMX mehr ist als eine Randsportart.“ Das klingt fast schon wehmütig,
und wahrscheinlich denkt sie in diesem Moment daran, dass ihr Kim Lea
Müller endgültig den Rang abgelaufen hat.
[4][Die 21-jährige Müller hat zwar auf Instagram] noch deutlich weniger
Follower als die Konkurrentin aus dem eigenen Lager – da steht es 95.500 zu
14.300 für die Ältere –, aber Müller konnte nun ihren zweiten EM-Platz aus
dem Vorjahr bestätigen. Die Tschechin Iveta Miculyčová siegte, knapp
dahinter die Deutsche aus Remscheid. Darf sie bald den Helm mit dem roten
Bullen tragen? „So ein Red-Bull-Deal wäre schon cool“, findet sie.
Am Verkauf ihrer Story muss sie aber noch arbeiten, denn der einzigen
Presseanfrage an diesem Donnerstagnachmittag weicht sie zunächst konsequent
aus. Das ist teilweise verständlich, weil sie doch zur Dopingkontrolle
muss, und auch die Medaillenübergabe verschlingt Zeit, aber als ein
Betreuer des deutschen Teams meint, es sei schon besser, dass BMX so selten
in den Medien vorkomme und den großen Verhinderer spielt, schreitet der
Bundestrainer ein, und Kim Lea Müller opfert fünf Minuten ihrer kostbaren
Zeit.
## Sprung zum Vollprofi?
„Bei den Mädchen wird es immer krasser, ich find’s cool“, sagt sie. Olym…
sei ein Traum, ja klar, und der Papa sei es gewesen, der sie zum Sport
gebracht habe. Zu einem BMX-Event nach Köln habe er sie geschleppt und dann
ein Rad gekauft, bei dem die Naben so schön schnurren und der Sattel
verdammt tief sitzt. Von Remscheid, wo sie Abitur auf einem „normalen
Gymnasium“ machte, ging sie nach Oldenburg für ein freiwilliges soziales
Jahr. Zuletzt war sie mit ihrem Freund wochenlang an der australischen
Goldküste unterwegs. Da gibt es genügend BMX-Parks. Und ein bisschen
Bildung geht auch von Down Under aus: An einer Online-Universität studiert
sie Sport- und angewandte Trainingswissenschaften.
„Irgendwann muss ich wohl arbeiten“, fürchtet sie, aber wer weiß,
vielleicht gelingt ihr auch der Sprung zum Vollprofi. Wie es der Trainer,
Tobias Wicke, bis vor zehn Jahren, vorgelebt hat. Der Berliner, auch er
eine Mellow-Park-Pflanze, hat sich 13 Jahre seiner erfolgreichen Karriere
als Selfmademan durchgekämpft, mit Shows, Preisgeldern und
Sponsorenverträgen. Heute sei durch die Sportförderung alles viel
einfacher. „Dieses System ist wirklich hervorragend“, sagt Wicke.
Weil die Sportart im Jahr 2017 vom IOC in den olympischen Kanon aufgenommen
wurde, ist aus dem viel beschworenen Core-Feeling klare Kante geworden. Zur
neuen Hackordnung im deutschen Team sagt der 41-Jährige: „Irgendwann wird
man eben sozusagen ausgetauscht. Lara Lessmann fährt immer noch auf
superhohem Niveau, aber nach einer gewissen Zeit kommt eben die jüngere
Generation nach.“ Er spricht von „Positionswechsel“ und „Schlagabtausch…
Es ist die schnöde olympische Zeit dieses spektakulären Sports, auch die
Zeit von Ranglisten, die in ihrer Aussagekraft unerbittlich sind.
[5][Im Ranking des Radsportweltverbandes UCI] steht Kim Lea Müller nun
schon auf Position drei, hinter der US-Amerikanerin Hannah Roberts und der
Schweizerin Nikita Ducarroz. Ihre Zeit kommt. Vielleicht schon in Paris
2024.
23 Jun 2023
## LINKS
[1] https://www.redbull.com/de-de/athlete/lara-lessmann
[2] https://allinbmx.de/Kim-Lea-Mueller
[3] /BMX-Meisterschaft/!5178051
[4] https://www.instagram.com/kimlea.mueller/?hl=de
[5] https://www.uci.org/discipline/bmx-freestyle/6sj0TSsVHTfMp3zYqUsJHp?tab=ran…
## AUTOREN
Markus Völker
## TAGS
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