# taz.de -- Debatte um freigesprochenen Jugendlichen: Ein Rückfall in alte Zei… | |
> Hamburgs CDU und Presse fordern Härte gegen einen 14-Jährigen, der vom | |
> Vorwurf des versuchten Mordes freigesprochen worden ist. Das ist | |
> kontraproduktiv. | |
Bild: Einsperren war schon: Der Junge, um den es geht, hat schon zehn Monate in… | |
Hamburg taz | Hamburg spricht gerade über ein gefährliches Kind und erlebt | |
damit einen unseligen Rückfall in alte Zeiten der Ära von Ronald Schill. | |
„Gefährlicher 14-Jähriger hält Hamburger Polizei in Atem“, titelte am | |
Wochenende das Hamburger Abendblatt. Es ging dabei um einen Jungen, der | |
wegen des Vorwurfs des versuchten Mordes über zehn Monate seines jungen | |
Lebens in Untersuchungshaft war – und schließlich freigesprochen wurde. | |
Denn der Hauptbelastungszeuge machte auf die Richterin keinen glaubwürdigen | |
Eindruck. | |
Und was tut die Presse? Statt innezuhalten, ob hier wohl ein Junge über | |
Monate zu Unrecht eingesperrt war, statt zu reflektieren, ob die U-Haft | |
diesem mehr geschadet hat als genützt, statt zu fragen, welche Probleme ein | |
14-Jähriger hat, der solche Auffälligkeiten zeigt, und statt zu fragen, wie | |
solchen Kindern begegnet werden sollte, sozial, pädagogisch, therapeutisch, | |
– stattdessen stilisiert sie ein neues Monsterkind. | |
Denn es soll aus der Zeit der U-Haft ein 70-seitiges Dossier über ihn | |
geben, was er dort alles angestellt habe. Sich nackt ausgezogen, um zu | |
provozieren, zum Beispiel. Und er soll eine Gefahr sein, weil er mit der | |
Frage „verstört“ habe, warum man nicht Kinder entführen darf. | |
Der Junge sei „brandgefährlich“, kolportiert das Blatt, doch in den | |
Behörden wolle niemand zuständig sein. Sodann zitiert die Zeitung – die | |
schon 2001 dem Rechtspopulisten Schill nicht gerade Steine in den Weg legte | |
– einen kaum bekannten Kriminologen aus Lüneburg, wonach in solchen Fällen | |
„keine Schönwetterpädagogik“ gefragt sei. Man müsse im Blick haben, dass | |
Kinder „potentielle Opfer eines psychisch gestörten 14-Jährigen werden | |
könnten“. | |
Und die Hamburger CDU, die, das war bereits an vorangegangenen Artikeln zu | |
sehen, in der Dramatisierung der Jugendkriminalität ein Wahlkampfthema | |
sucht, zeigt sich „erschrocken“. Es scheine, dass man hier eine „tickende | |
Zeitbombe“ habe, sagt CDU-Mann Dennis Gladiator und fordert die Prüfung | |
einer geschlossenen Unterbringung – die der Junge ja gerade hinter sich | |
hat. | |
Alle, die hier nicht durchgriffen, machten sich sonst „mitschuldig, wenn | |
die nächste Straftat passiert“, postuliert Gladiator weiter. Wobei – auch | |
das stand im Hamburger Abendblatt – der Junge selbst „nur vereinzelt wegen | |
Straftaten bekannt“ war. Weshalb es jetzt, so das Blatt weiter, um dessen | |
„potentielle Gefährlichkeit“ gehen solle. | |
Was CDU und konservative Presse nicht schert: Es ist ethisch fragwürdig, | |
[1][einen Minderjährigen so in die Öffentlichkeit zu zerren], indem man ihn | |
zum Zentrum der Berichterstattung macht. Dabei ist unerheblich, dass die | |
Staatsanwaltschaft inzwischen gegen den Freispruch Revision eingelegt haben | |
soll. | |
Es zählt nicht zu den Aufgaben von Polizei und Justiz, hier [2][aktiv | |
Pressearbeit dazu zu machen]. Denn es ist kontraproduktiv und pädagogisch | |
unverantwortlich. Das ist die Lehre aus den 1990ern, als Medienberichte | |
über die sogenannten [3][Crash-Kids], die Autos klauten und gefährlich | |
damit fuhren, die Probleme nur verschlimmerten und junge Negativ-Helden | |
ihre Zellenwände von innen mit Artikeln über sich selbst bepflasterten. | |
Der Hamburger Senat tat nun übrigens das einzig Vernünftige und [4][teilte | |
der Öffentlichkeit sachlich mit], dass im Fall dieses Jungen alle | |
beteiligten Akteure von Schule über Polizei bis zur Kinderpsychiatrie unter | |
Federführung der Jugendhilfe vertrauensvoll zusammenarbeiten, um dessen | |
Betreuung lückenlos sicherzustellen und ein gutes Miteinander aller zu | |
gewährleisten, die mit dem Jungen zu tun haben. | |
Doch etwas zu viel der Ehre für dieses plumpe Remake der Medienkampagne von | |
vor 20 Jahren ist derweil, dass der Familienausschuss der Bürgerschaft | |
prompt am Donnerstag zur Sondersitzung einlädt, um sich über diesen | |
„Einzelfall“ berichten zu lassen. Auch wenn das hinter verschlossenen Türen | |
geschieht, werden die Abgeordneten so Teil der großen Aufregung. | |
Macht das erst mal Schule, können wir uns in den kommenden rund eineinhalb | |
Jahren bis zur nächsten Wahl noch auf so einige neu produzierte | |
„Monster-Kids“ – die durch die Schlagzeilen gezogen werden – gefasst | |
machen. Denn da die Zahl der Intensivtäter zuletzt zurückging, braucht die | |
CDU Einzelfälle, um bei dem Thema zu punkten. | |
21 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Hamburgs-Konzept-gegen-Jugendgewalt/!5793100 | |
[2] /Elternrat-kritisiert-Schulleitung/!5795667 | |
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Crash-Kid | |
[4] https://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/17203746/2023-06-19-sozialbehoerde-… | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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