# taz.de -- Neue Regierung in der Türkei: Ein Team mit Überraschungen | |
> Erdoğan hat sein Kabinett vorgestellt. Der ideologische Innenminister | |
> wird ersetzt. Ein neuer Finanzminister soll die Wirtschaft retten. | |
Bild: Neuer Finanzminister: Mehmet Şimşek. In der Mitte Erdogan, rechts Energ… | |
ISTANBUL taz | Als Recep Tayyip Erdoğan am Samstagabend nach seiner | |
erneuten Vereidigung als Präsident der Türkei zu seiner Inaugurationsrede | |
anhob, waren die Vertreter der Opposition weitgehend abwesend. Trotzdem | |
richtete sich Erdoğan hauptsächlich an sie. Man solle den Ärger des | |
Wahlkampfes hinter sich lassen, das Land solle wieder vereint werden, er | |
werde nach den [1][Wahlen im Mai] nun ein Präsident für alle sein. | |
Bei der Opposition erntete er damit nur Kopfschütteln. Zu oft war ähnlichen | |
Reden eine gegenteilige Politik gefolgt. Doch als Erdoğan anschließend sein | |
neues Kabinett vorstellte, gab es einige Überraschungen. Wichtig für die | |
Opposition: Der rechtsradikale, ideologisch völlig überdrehte Innenminister | |
Süleyman Soylu wird durch den Bürokraten Ali Yerlikaya ersetzt. | |
Yerlikaya war zuletzt Gouverneur von Istanbul, davor war er Gouverneur in | |
mehreren kleineren Provinzen. Er hat in Istanbul zwar keine demokratischen | |
Akzente gesetzt, etwa bei der Zulassung von Demonstrationen. Dennoch ist | |
davon auszugehen, dass er nicht den geradezu messianischen Verfolgungseifer | |
gegenüber Regierungskritikern an den Tag legen wird, durch den sich Soylu | |
ausgezeichnet hat. | |
Insgesamt hat Erdoğan nahezu sein gesamtes Kabinett ausgetauscht: Abgesehen | |
vom Gesundheits- und vom Kulturminister sind alle Posten neue besetzt | |
worden. Am bemerkenswertesten sind zwei Namen: Mehmet Şimşek als | |
Finanzminister und Hakan Fidan als Außenminister. | |
## Mit Erdoğans Schwiegersohn begann der Absturz | |
Mit Şimşek deutet sich eine Kehrtwende in Erdoğans Finanz- und | |
Wirtschaftspolitik an. [2][Erdoğans bisheriges Credo, mit niedrigen Zinsen | |
die Inflation zu bekämpfen], hat die türkische Wirtschaft an den Rand des | |
Zusammenbruchs geführt. Die Inflation ist eine der höchsten weltweit und | |
die türkische Lira ist praktisch zu einer Schrottwährung verkommen. | |
Bis 2018 war Şimşek – fast zehn Jahre lang – Finanzminister, dann startete | |
Erdoğan in seiner ersten Amtszeit als Präsident eine eigene | |
Wirtschaftspolitik. Er warf Şimşek raus und ernannte seinen Schwiegersohn | |
Berat Albayrak zum Wirtschaftsguru der Regierung. Damit begann der Absturz. | |
Als Albayrak nach zwei Jahren gehen musste, war die Währungskrise bereits | |
in vollem Gange, aber immerhin konnte man noch mit acht Lira einen | |
US-Dollar kaufen. Heute muss man für einen Dollar bereits 20 Lira hinlegen. | |
Dass Erdoğan nun Şimşek zurückholt, ist ein Eingeständnis seines eigenen | |
Scheiterns. Şimşek will die Türkei wieder auf einen international | |
abgestimmten, orthodoxen finanzpolitischen Weg holen. Er ist in | |
Finanzkreisen anerkannt und war vor seinem ersten Eintritt in Erdoğans | |
Kabinett 2009 Investmentbanker bei der Großbank Merrill Lynch. | |
## Erdoğans Mann für die PKK | |
Neben Şimşek rückt mit Hakan Fidan ein weiteres Schwergewicht ins Kabinett. | |
Fidan war seit 2010 Chef des türkischen Geheimdienstes und ist einer der | |
engsten Vertrauten Erdoğans. Immer wenn Erdoğan in den letzten Jahren zu | |
besonders heiklen außenpolitischen Missionen aufbrach, war Fidan dabei. | |
Er hat in den letzten Jahren praktisch den Kampf gegen die PKK koordiniert, | |
war aber von 2011 bis 2015 auch derjenige, der die letztlich gescheiterten | |
Verhandlungen mit der PKK über einen dauerhaften Waffenstillstand geführt | |
hat. Fidan kommt aus dem Militär und hat als junger Offizier bei der Nato | |
gearbeitet. Fidan gehört wie Şimşek eher zu den Transatlantikern als zu den | |
Eurasiern in der türkischen politischen Klasse. | |
Unter den 18 Kabinettsmitgliedern ist nur eine Frau. Die Doppelstaatlerin | |
Mahinur Göktas, zuständig für Familie und Soziales, kommt aus Belgien und | |
saß dort für die belgischen Christdemokraten im Parlament. | |
Als Gast bei Erdoğans Vereidigung waren auch Nato-Generalsekretär Jens | |
Stoltenberg und der frühere schwedische Ministerpräsident Carl Bildt | |
anwesend. Weiterer Überraschungsgast war [3][der armenische Präsident Nikol | |
Paschinjan]. | |
4 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Wahlen-in-der-Tuerkei-2023/!t5908345 | |
[2] /Dramatischer-Kursverlust-der-Lira/!5806094 | |
[3] /Armenien-und-Aserbaidschan/!5931547 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
## TAGS | |
Wahlen in der Türkei 2023 | |
Türkei | |
Recep Tayyip Erdoğan | |
Inflation | |
Türkei | |
Alternative für Deutschland (AfD) | |
Türkei | |
Podcast „Bundestalk“ | |
Wahlen in der Türkei 2023 | |
Wahlen in der Türkei 2023 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Inflation in der Türkei nach den Wahlen: Steigende Steuern, steigende Preise | |
Mit neuem Personal wollte Präsident Erdoğan die Inflation in den Griff | |
kriegen. Doch die Preise steigen weiter und die Bevölkerung verarmt. | |
Nach den Wahlen in der Türkei: Die Opposition ordnet sich neu | |
CHP und HDP diskutieren nach der Wahlniederlage im Mai über die | |
Konsequenzen. Bei den Sozialdemokraten drängt ein alter Bekannter an die | |
Spitze. | |
Erdoğan, SPÖ und AfD: Von Federn und Verantwortung | |
Diese Woche ist sehr viel Mist passiert, an dem jeweils niemand so recht | |
Schuld sein wollte. Mindestens ein Hühnchen gibt es aber noch zu rupfen. | |
Neue Zentralbankchefin in der Türkei: Die jüngste und die erste Frau | |
Die US-Finanzmanagerin Hafize Gaye Erkan wird neue Chefin der türkischen | |
Zentralbank. Schafft sie es, die Inflation am Bosporus zu bändigen? | |
Podcast „Bundestalk“: Erdoğans fauler Sieg | |
Der Westen braucht die Türkei als geopolitischen Partner. Woher kommt die | |
Faszination vieler Deutschtürken für Erdoğan – und wie geht es jetzt | |
weiter? | |
Oppositionspartei HDP in der Türkei: Demirtaş will nicht mehr | |
Die kurdisch-linke HDP ist eine wichtige Stimme der türkischen Opposition. | |
Ihr populärster Politiker will sich nun aus der Politik zurückziehen. | |
Wahlen in der Türkei: Urnengang im Kartenhaus | |
Erdoğan hat ein fragiles Finanzsystem mit starken Abhängigkeiten | |
geschaffen. Die wirtschaftliche Dauerkrise erhöht auch den Druck auf die | |
Demokratie. |