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# taz.de -- Nach dem Bootsunglück vor Griechenland: Die Küstenwache griff nic…
> Mehrere Hundert Tote befürchtet. Die griechischen Behörden hatten das
> überfüllte Fischerboot mehr als 10 Stunden lang begleitet, statt
> einzugreifen.
Bild: Ein geretteter Migrant sitzt am Donnerstag vor einer Unterkunft in Kalama…
Athen taz | Mitunter trifft unbeschreibliches Flüchtlingselend auf
ungeheuren Reichtum. Am Mittwoch, kurz vor 12 Uhr, war so ein Moment. Die
mondäne, 2008 von der Hamburger Großwerft Blohm+Voss gebaute, 93 Meter
lange und geschätzte 175 Millionen US-Dollar teure Luxusyacht „Mayan Queen
IV“ der milliardenschweren mexikanischen Familie Baillères fährt mit
einhundert Geretteten des verheerenden Bootsunglücks vor der Südwestküste
der griechischen Halbinsel Peloponnes in den Hafen der Großstadt Kalamata
ein.
Noch tief in der Nacht zu Mittwoch, um genau 2:04 Uhr Ortszeit, hatte der
Kapitän eines mehrere Stunden zuvor herbeigeeilten Schiffes der
griechischen Küstenwache seiner Einsatzzentrale mitgeteilt, dass das vom
ostlibyschen Tobruk in See gestochene Fischerboot mit Kurs auf Italien mit
mehreren hundert Flüchtlingen und Migranten an Bord zunächst eine
Steuerbord-, dann eine steile Backbord- und schließlich eine weitere
Steuerbordwende vollzog.
Sie war so stark, [1][dass das Fischerboot kenterte]. Die nautische
Terminologie dafür lautet: „Flopping“. Zehn bis fünfzehn Minuten später
sank das völlig überfüllte Schiff vollständig. Manche Flüchtlinge und
Migranten auf den Außendecks sprangen oder fielen über Bord. Die Griechen
starteten eine groß angelegte Such- und Rettungsaktion.
Für das Gros der Bootsinsassen kam jede Hilfe zu spät. Informationen
zufolge befanden sich zum Zeitpunkt des Bootsunglücks bis zu 750 Menschen
an Bord des Fischerboots. Die insgesamt 104 Geretteten, darunter vier
Personen, die direkt von der Unglücksstelle per Hubschrauber nach Kalamata
geflogen wurden, waren ausschließlich Männer im Alter von 16 bis 40 Jahren.
Laut Medienberichten stammen sie aus Syrien, Pakistan sowie Ägypten. Sie
kommen in das Flüchtlingslager in [2][Malakassa] nördlich von Athen.
## Es bleibt unklar, wie viele Schutzsuchende ums Leben kamen
Den übrigen Flüchtlingen und Migranten, maßgeblich Frauen, Kindern und
Alten, wurde offenbar zum Verhängnis, dass sie sich während der
gefährlichen Fahrt nicht auf dem Außendeck, sondern im Zwischendeck und
Rumpf befanden. „An Deck des Schiffes waren die Menschen zusammengepfercht,
das Gleiche vermuten wir auch für den Innenraum“, sagte ein Sprecher der
griechischen Küstenwache.
Bisher sind 79 Tote geborgen worden. Wie viele Schutzsuchende ums Leben
kamen, wird wohl nie geklärt werden. Denn das Ionische Meer zwischen
Italien und Griechenland ist an der Unglücksstelle, 47 Seemeilen
südwestlich der kleinen Küstenstadt Pylos im äußersten Südwesten des
Peloponnes, bis etwa 5.000 Meter tief. Daher dürfte auch das gesunkene
Fischerboot kaum zu bergen sein.
Der bis zu den bevorstehenden [3][Parlamentswahlen am 25. Juni in Athen]
amtierende griechische Interimspremier Ioannis Sarmas ordnete am Mittwoch
eine dreitägige Staatstrauer an.
In Griechenland ist derweil ein Streit darüber ausgebrochen, ob die
griechischen Behörden nicht sofort nach der Lokalisierung des überfüllten
Fischerbootes hätten eingreifen sollen. Wie Nikos Spanos, Admiral a. D. der
griechischen Marine, im privaten Athener Fernsehsender „Open“ klarstellte,
hätten die griechischen Behörden nach dem Eindringen des völlig überfüllten
Fischerbootes in den von Athen kontrollierten Seeraum „sofort und
unbedingt“ eingreifen müssen, um Menschenleben zu retten. Und dies, auch
wenn sich das Fischerboot nicht in griechischen Gewässern befunden habe.
Das sei, so Spanos, international eindeutig geklärt.
Die griechische Küstenwache hebt hingegen hervor, dass der Ansprechpartner
auf dem Fischerboot jegliche angebotene Hilfe wiederholt abgelehnt habe.
Ein Schiff der griechischen Küstenwache begleitete das Fischerboot nur –
stundenlang.
## Italienische Behörden hatten Griechenland bereits informiert
„Die Flüchtlinge und Migranten wollten nur eines, wie sie uns sagten: ‚Nach
Italien weiterfahren‘. Obwohl sie unsere Hilfe ablehnten, blieben wir vor
Ort, damit wir bei Bedarf zur Stelle sein konnten“, verteidigte Nikos
Alexiou, Sprecher der griechischen Küstenwache, das Vorgehen der
griechischen Behörden. „Jeder andere gewaltsame Versuch hätte ein anderes
Ergebnis gehabt, da all diese Leute keine Hilfe wollten. Stellen Sie sich
vor, wir hätten versucht, sie zu fesseln, sie umzuleiten, und die Menschen,
die darauf bestanden, nicht nach Griechenland zu kommen, wären massiv
anderswo untergebracht worden. Wir hätten einen Unfall verursacht, ohne die
Möglichkeit zu haben, 104 Menschen zu retten“, fügte Alexiou hinzu.
Dabei hatten bereits am Dienstag um 11 Uhr die Behörden in Rom ihre
griechischen Kollegen über die Existenz und Route des Fischerbootes
informiert, wie Athen offiziell bestätigt hat. Um 15:35 Uhr habe ein
Hubschrauber der griechischen Küstenwache das Fischerboot definitiv
lokalisiert. Die Griechen boten zwar ihre Hilfe an, griffen aber nicht ein.
Somit verstrichen exakt 10 Stunden und 29 Minuten von der Lokalisierung bis
zum unheilvollen Kentern des heillos überfüllten Flüchtlingsbootes.
Die Suche nach weiteren Überlebenden wurde zwar in der Nacht zu Donnerstag
fortgesetzt, jedoch ohne Erfolg. „Weder Überlebende noch weitere Opfer
wurden in der Nacht entdeckt“, sagte ein Sprecher der Küstenwache am
Donnerstagmorgen. Rund 30 Gerettete mussten im Krankenhaus von Kalamata
wegen Unterkühlung behandelt werden. Medienberichten zufolge seien derweil
sechs der geretteten Männer verhört worden. Es soll sich dabei um die
Schlepper handeln.
Unterdessen haben Angehörige der Vermissten den Hafen von Kalamata
erreicht. Sie suchen nach Menschen, die sich an Bord des Fischerbootes
befanden. Einer von ihnen ist Malek aus Syrien. Er lebt seit sechs Jahren
in Deutschland. Er erreichte am Donnerstagmorgen den Hafen von Kalamata,
auf der Suche nach seinem 18-jährigen Bruder Mohamed. Sie hatten seit sechs
Tagen nicht mehr miteinander gesprochen. Alles, was er wusste, war, dass er
Syrien verlassen hatte, um nach Italien zu gehen, wie er erzählt. Marios
aus Syrien, der in Zypern lebt, ist ebenfalls auf der Suche, nach seinem
Neffen. Sein Neffe sei an Bord des Fischerbootes gewesen, wie er sagt. Was
Marios schon weiß: Sein Neffe ist nicht unter den 104 Geretteten.
Der Kardiologe Manolis Makaris, der Gerettete im Krankenhaus von Kalamata
behandelt, rief auf Bitten seiner Patienten verzweifelt wartende
Familienangehörige in einem Ort in Ägypten an. „Offenbar stammen viele der
verunglückten Flüchtlinge aus diesem Ort in Ägypten. Mir wurden viele Fotos
von Bootsinsassen auf mein Handy geschickt. Die Absender wollten wissen, ob
sie leben. Ich konnte ihnen nicht antworten.“ Er fügte hinzu: „Darunter
waren viele Fotos von Kindern“.
Experten warnen schon seit Jahren davor, dass vor allem die
Flüchtlingsroute über das zentrale Mittelmeer hochgefährlich sei. Im
vorigen Jahr sind nach UN-Angaben in der Region mindestens 326 Menschen ums
Leben gekommen. Die Dunkelziffer sei jedoch hoch.
15 Jun 2023
## LINKS
[1] /Bootsunglueck-im-Ionischen-Meer/!5940736
[2] /Gefluechtete-auf-griechischen-Inseln/!5674091
[3] /Parlamentswahl-in-Griechenland/!5935819
## AUTOREN
Ferry Batzoglou
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