# taz.de -- Spielfilm „Nostalgia“ über Heimkehr: Sehnsucht nach dem alten … | |
> Der italienische Regisseur Mario Martone erzählt im Spielfilm „Nostalgia“ | |
> intim von einer Heimkehr. Dort ist alles gleich und nichts, wie es war. | |
Bild: Späte Heimkehr: Felice Lasco (Pierfrancesco Favino) mit Pater Luigi Rega… | |
Was steht einem Mann vor Augen, der nach vierzig Jahren zum ersten Mal | |
wieder in die Stadt zurückkehrt, in der er aufgewachsen ist? Vom leeren, | |
anonymen Balkon eines Neubauhotels wirft Felice (Pierfrancesco Favino) den | |
ersten Blick über Neapel, nachdem er aus Kairo hierher geflogen ist. Seine | |
goldene Armbanduhr verstaut er im Hotelsafe, bevor er zu Fuß losgeht. Auch | |
an seinem sicheren Schritt erkennt man, dass er hier kein Fremder ist, | |
obwohl man ihn bislang nur hat Arabisch sprechen hören. | |
Das Neapel, durch das Regisseur Mario Martone seinen Helden schreiten | |
lässt, ist nicht das der Postkarten. Hektische Straßen mit viel Autoverkehr | |
münden auf Billigmärkte für Haushaltswaren, wo markante, von einem harten | |
Arbeitsleben gezeichnete Gesichter und Frauen mit Kopftuchbedeckung zum | |
Alltag gehören. In den stilleren Altstadtgassen bröckelt der Putz über | |
verrammelten Läden. | |
Felice geht Pizza essen an diesem ersten Abend in der einstigen Heimat, wie | |
man es so macht in Neapel. Man behandelt ihn wie einen Touristen, auch weil | |
ihm das Neapolitanische nicht mehr flüssig über die Lippen kommt. Bier oder | |
Wein lehnt er ab und bestellt Wasser. | |
Über seinen Lebensweg vom Teenager, der im Altstadtviertel Sanità die | |
Gassen unsicher machte, bis zum wohlhabenden, in Kairo ansässigen und zum | |
Islam übergetretenen Bauunternehmer erzählt der Film erst nach und nach. | |
Aber was diesen Mann und seine Entfremdung von der eigenen Herkunft | |
ausmacht, ist alles schon in diesen ersten Szenen vorhanden. | |
## Vom engen Lokalkolorit entrückt | |
Sehnsucht nach dem, was vergangen ist, lautet die schnelle Erklärung für | |
Nostalgie. Mario Martone aber blättert in „Nostalgia“ das vertraute Gefühl | |
in verschiedene, widersprüchliche Regungen auf. Da ist die pure Freude an | |
der Erinnerung an das eigene, jugendliche Ich, wenn Felice sich ein | |
Motorrad besorgt und damit die Wege entlang kurvt, die er als Teenager mit | |
dem besten Freund Oreste genommen hat. Da ist aber auch das Erschrecken | |
über die Motorradgang der Gegenwart, die nächtens mit Schüssen das Viertel | |
terrorisiert. Nicht alles, was noch genauso wie früher ist, ist deshalb | |
gut. | |
Felices Erinnerungen an damals inszeniert Martone mit der Körnigkeit alter | |
Super-8-Filme und verkleinerter Kadrierung: Zwei junge Männer, die über | |
Altstadtstraßen Rennen fahren, sich mit rivalisierenden Gangs prügeln, am | |
Strand einer ungewissen Zukunft entgegenschauen und schließlich einen | |
Überfall mit schicksalhaftem Ende begehen. Songs wie „Lady Greengrass“ von | |
The Ones und Musik von Tangerine Dream, die aus der ersteren Band | |
hervorgingen, entrücken vom engen Lokalkolorit und weiten atmosphärisch den | |
Sehnsuchtshorizont. | |
Nostalgisch im widersprüchlichen Sinn ist auch Felices Abschied von der | |
alten Mutter, dem das erste Drittel des Films gewidmet ist. Nachdem er sie | |
in einer dunklen Erdgeschosswohnung wiederfindet, wohin ein dubioser Deal | |
sie gebracht hatte, sucht er eine neue, lichte Wohnung für sie beide, kauft | |
ihr, was ihr fehlt, und will so ihre letzten Tage verschönern. | |
In der vielleicht berührendsten Szene des ganzen Films nimmt der erwachsene | |
Mann wie in einer rollenverkehrten Pietà die kleine, nackte, alte Frau auf | |
seine Arme, um sie ins Wasserbad zu hieven. Zuerst hatte sie sich nicht | |
ausziehen wollen vor ihrem Sohn, aber dieser hatte sie wunderbar sanft dazu | |
überredet, mit der Anregung zu einem Gedankenspiel: „Denk dich zurück an | |
früher, als du mich nackt gebadet hast …“. Die Scham der alten Frau | |
darüber, wie ein kleines Kind geseift zu werden, äußert sich in einem | |
klagendem Schluchzen, das umso erschütternder wirkt, weil zugleich | |
Erleichterung herauszuhören ist. | |
Es ist diese grandiose Mischung aus sehr intimen, unmittelbaren Momenten | |
und dem sezierenden, dokumentarischen Blick auf die Stadt Neapel von heute, | |
die den Reiz dieses merkwürdig sperrigen Films ausmachen. Er gleicht einem | |
Mosaik von Reflexionen, dessen Details sich erst mit Distanz zu einem | |
Gesamtbild fügen. | |
## Ein Verbrecherboss als Autorität des Viertels | |
Felice ist ein wortkarger, stoischer Held, der zugleich als wunderbar | |
beredter Spiegel für seine Umgebung fungiert. Die Zufallsbegegnung mit | |
einem alten Verehrer der Mutter wird zur Freundschaft, gerade weil er den | |
Alten zuerst nicht wiedererkennt. Das Nichterinnern macht ihre Annäherung | |
um so interessanter. Der engagierte Priester des Viertels, Don Luigi | |
(Francesco Di Leva), zieht mit Felice durch die Haushalte der Gemeinde und | |
stellt ihn als „Person, die mir am Herzen liegt“, vor. | |
Es ist eine Art Schutzformel, denn Don Luigi weiß, dass Felices | |
Jugendfreund Oreste (Tommaso Ragno), der als Verbrecherboss die | |
eigentliche Autorität des Viertels darstellt, auf seine Anwesenheit | |
reagieren wird. Er rät ihm zu gehen, provoziert ihn aber gleichzeitig dazu, | |
für seine, Don Luigis, Initiativen zu spenden oder seine Arabischkenntnisse | |
bei der Einbindung eines tunesischen Flüchtlings gewinnbringend | |
einzusetzen. | |
Felice bleibt länger, als er es müsste nach dem Tod der Mutter. Immer mehr | |
eignet er sich die Stadt wieder an. Es habe sich sicher vieles sehr | |
verändert, will die Ehefrau in Kairo im Telefongespräch mit seiner | |
Melancholie sympathisieren. „Nein! Es ist alles dasselbe!“, antwortet | |
Felice, und wieder ist da die Ambivalenz von Freude und Erschrecken. | |
Auch deshalb, weil es nicht nur für die alten Gemäuer der Stadt gilt, | |
sondern mehr noch für den Zwiespalt, in dem sich ihre Bewohner seit jeher | |
befinden: Sollen sie sich den kriminellen Strukturen unterordnen, der | |
Herrschaft der Gewalt, oder das Bessere versuchen, den Ausweg durch | |
Bildung, durch Pflege der städtischen Umgebung und ihrer Geschichte? Ein | |
Besuch in den Katakomben Neapels, von denen Felice erzählt, dass sie in | |
seiner Jugend noch verschlossen waren, steht als symbolhafte Handlung | |
dafür. | |
## Neueroberung der Stadt | |
Für kurze Zeit sieht es so aus, als könnte Felice die Zusammenführung | |
seiner Welten gelingen. Bei einem Sommerfest bringt er die Jugendlichen von | |
Don Luigis Gemeinde dazu, zu einem Hit der ägyptischen Rockband Cairokee zu | |
tanzen und lässt per Smartphone seine Frau daran teilhaben; die | |
Entscheidung, dass auch sie nach Neapel ziehen wird, ist gefallen. | |
Aber je erfolgreicher seine Neueroberung der Stadt, desto größer auch die | |
Konkurrenz zu seinem ehemaligen besten Freund, dem Verbrecherboss, der als | |
ominöse Bedrohung im Hintergrund agiert und vielleicht sogar weniger eine | |
reale Gestalt als vielmehr ein Alter Ego ist. | |
## Sich prozesshaft entwickelnde Geschichte | |
Mario Martone, selbst in Neapel geboren, entwickelt sich zu einer Art | |
„Heimatfilmer“. Dass er mit „L’amore molesto“ 1995 die erste Adaption… | |
[1][Elena-Ferrante-Romans] realisierte, belegt, dass er mit der berühmten | |
Autorin die Sensibilität teilt, ein starkes Identitätsgefühl nicht mit | |
volkstümelnder Glorifizierung zu verwechseln und weder Klassenverhältnisse | |
noch den Einfluss des organisierten Verbrechens auszublenden. | |
Seine zwei letzten Filme, „Il sindaco del Rione Sanità“ und [2][„Qui rido | |
io“] waren als Auseinandersetzungen mit ureigener neapolitanischer | |
Kulturgeschichte zu speziell und theaterhaft-akademisch geraten – Martone | |
arbeitet viel für die Bühne –, um ein internationales Publikum zu finden. | |
„Nostalgia“ aber ist ein echtes Stück Kino, mit atmosphärischen Bildern u… | |
einer sich prozesshaft entwickelnden Geschichte, die fast ohne Plot | |
auskommt. Es reicht völlig, das Gesicht von Pierfrancesco Favino zu | |
betrachten, einem der besten „face actors“ der europäischen Filmlandschaft | |
der Gegenwart. | |
8 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Schweizerhof | |
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