# taz.de -- Künstlerin Julia Scher: Kabelsalat der schönen neuen Welt | |
> Künstlerin Julia Scher beobachtet im Museum Abteiberg in Mönchengladbach, | |
> wie wir uns seit 40 Jahren überwachen lassen. | |
Bild: Ambivalenz von Kameraaugen: Die Ausstellung „Hochsicherheitsgesellschaf… | |
Als George Orwell in den 1940er Jahren an seinem dystopischen Roman | |
arbeitete, schien ihm die Jahreszahl 1984 geeignet, um sein fiktives | |
Zukunftsszenario totaler Überwachung als mahnende Prognose zu verkleiden. | |
Im tatsächlichen Jahr 1984 beschäftigte sich die Künstlerin Julia Scher | |
schon länger mit neuen Medien und Technologien, insbesondere mit | |
Überwachungstechnik. | |
Und 1975, neun Jahre vor jenem 1984, das da längst als Metapher galt für | |
die sich ins Gegenteil wendende Verheißung der Moderne auf Freiheit und | |
Fortschritt, hatte der französische Poststrukturalist Michel Foucault seine | |
Arbeit „Überwachen und Strafen“ vorgelegt. Sie sollte bekanntlich zu einer | |
bis heute einflussreichen geistes- und sozialwissenschaftlichen Publikation | |
werden. | |
Prophetisch war die aus Hollywood kommende Julia Scher also nicht, als sie | |
sich in den 1980er Jahren dem Thema „Überwachung“ verschrieb. Verwunderlich | |
ist eher, dass es nicht viel [1][mehr Künstler*innen für sich | |
entdeckten]. | |
Eine Ausstellung im Museum Abteiberg in Mönchengladbach, dem eigenwilligen, | |
postmodernen Gebäude von Architekt Hans Hollein, verschafft nun erstmals in | |
Deutschland einen Überblick über Julia Schers Kunst seit den 1980er Jahren | |
bis heute. | |
## „Don't worry“ – oder lieber doch? | |
Schon im Windfang des Museumseingangs bereitet eine freundliche Stimme aus | |
dem Off darauf vor, dass hier alles unter Beobachtung steht. „Don’t worry�… | |
schmeichelt sie. Einige Schritte weiter zeigt dann ein Monitor | |
Aufzeichnungen aus jenem Windfang, den man soeben erst passiert hatte. | |
„Hochsicherheitsgesellschaft“ ist der Titel der Schau mit rund 39 | |
Werkgruppen und Einzelwerken der in Köln lebenden Künstlerin. In den 1990er | |
Jahren nahm Scher mit der Installation von Kamera- und | |
Audioüberwachungssystemen vieles vorweg, was heute Alltag ist. | |
Und schon früh nahm Scher die Ambivalenz aufs Korn, die von | |
allgegenwärtigen Kamera-Augen ausgeht: Das Spannungsfeld zwischen dem | |
Wunsch nach Sicherheit auf der einen und dem Wunsch nach Privatheit auf der | |
anderen, der Lust an und der Angst vor [2][Kontrolle] und der Faszination, | |
zu beobachten und beobachtet zu werden. | |
Scher leuchtet diese Graubereiche häufig mit Humor aus. Wenn etwa | |
Überwachungskameras mit frivolen roten Federn umkränzt sind und die Stimme | |
der Künstlerin verführerisch harmlos aus den Lautsprechern tönt. Sie warnt, | |
beschwichtigt zugleich und beschwört die Gewissheit, dass ja alles gar kein | |
Problem sei. Und nimmt damit die Haltung des täglichen Digital-Konsums des | |
21. Jahrhunderts vorweg, der Kleingedrucktes zur Privatsphäre im Netz | |
sorglos wegklickt. | |
Tatsächlich wird das Gefühl, durchgehend beobachtet und kontrolliert zu | |
werden, kaum noch als Bedrohung wahrgenommen. Weil es eben längst Alltag | |
ist. Wie bei jüngeren Installationen von Scher, [3][die mit Systemen wie | |
Siri und Alexa] experimentieren, die nach geheimnisvollen Gesetzmäßigkeiten | |
grün aufleuchten und Musikdateien aufrufen. | |
## Mit „Planet Greyhound“ ins All | |
Besonders eindrucksvoll aber sind ältere Werke. „Planet Greyhound“ etwa, | |
eine Videoarbeit, ist in drei alten Frisörstühlen zu erleben: Die legendäre | |
Buslinie fliegt ins All, an Bord sind schlau dreinschauende Hunde auf dem | |
Weg in eine bessere Welt. | |
Von der Urszene der Kontrolle in patriarchalen Familienstrukturen erzählt | |
die Installation „Embedded“ mit „Mama Bed“, „Papa Bed“ und „Baby … | |
Bett als Ort elementarer Ereignisse wie Geburt, Sex und Tod wird | |
inszeniert, Kameras, Monitore und Army-Uniformen bezeichnen das Bett des | |
Vaters, auf Muttis Bett ruhen Peitsche und Kinderbücher, „Baby Bed“ dagegen | |
ist mit einer Glasplatte statt Matratze und einer Decke aus transparentem | |
Material bedeckt, die frühe sexuelle Kontrolle und voyeuristischen | |
Missbrauch anzeigen. | |
Weniger bedrückend, eher spielerisch heiter sind die auch unter | |
dokumentarischen Aspekten interessanten früheren Arbeiten, deren | |
irrwitziger Kabelsalat Gerätschaften der 1990er Jahren umwuchert. Wie etwa | |
in der Installation „Wonderland“, bei der in einem Loop aus Stimmen, | |
Geräuschen und Lichtgewitter Kinder an Monitoren und Schaltzentralen die | |
Kontrolle übernehmen. | |
In einem Interview gab die Künstlerin zu Protokoll, dass die Technologie | |
sich zwar verändere, doch die DNA ihrer Arbeit gleich bliebe, nämlich die | |
Verquickung von technischer Entwicklung und künstlerischer Reaktion. | |
Exemplarisch dafür ist die fast vierstündige Video-Arbeit „Discipline | |
Masters“ von 1988. Julia Scher tritt darin als Karaoke-Sängerin auf, deren | |
Ausdruck mit den simulierten Songtexten meist stark kollidiert. Ein | |
Schlüsselwerk, ein Selbstgespräch als Bekenntnis, ein Versuch, „ihr | |
Verständnis für ihre Lebensgeschichte zu bewahren“. | |
15 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Regine Müller | |
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