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# taz.de -- Debatte um Stuckrad-Barre: Get over it
> Mehr Frauen und weniger Ich hätte Benjamin von Stuckrad-Barres „Noch
> wach?“ gut getan. Oder auch die Erzählung aus Sicht der männlichen Chefs.
Bild: Benjamin von Stuckrad-Barre während eines Events in Hamburg im Mai 2022
Als ich letztens im Kino war, lief in der Werbephase ein Spot, der für
sexuelle Belästigung sensibilisierte. Spätabends stromert eine Gruppe
junger Typen mit Bier und Boombox durch eine Innenstadt. Einer von ihnen
macht ein Mädel an, das da auf ein Uber wartet. Sie hat offensichtlich kein
Interesse, weicht zurück, versucht ihn zu ignorieren; als er nicht von ihr
ablässt, wirkt sie zunehmend verängstigt. Die anderen stehen teilnahmslos
daneben, sie lassen ihren Freund machen, aber ganz wohl ist ihnen dabei
nicht.
Schließlich ringt sich einer durch: „Hey, was soll das, Mann? Komm, lass
gehen!“ Dann wird ein Sprechband eingeblendet: „Man up! Schreite ein bei
sexueller Belästigung.“ Meine Freundin beugte sich zu mir rüber und
flüsterte: „Wird Zeit, dass es auch solche Kampagnen gibt!“ Endlich wird
betont, dass Feminismus auch Männersache ist.
Man könnte also [1][Stuckrad-Barres neues Buch] begrüßen: endlich
beschäftigt sich auch mal ein Mann mit MeToo. Wenn es nur so wäre. In „Noch
wach?“ geht es um eine sich zerrüttende Männerfreundschaft zwischen einem
ich-erzählenden Schriftsteller und seinem besten Freund, Chef eines
Boulevard-Fernsehsenders. Die Freundschaft zerrüttet sich über Fragen der
Moral, und das – dieser Hintergrund, der die Haupthandlung motiviert – sind
Fragen darüber, wie ein Senderchef mit Vorwürfen sexuellen Machtmissbrauchs
gegen seinen Chefredakteur umzugehen hat.
Ist Moral von der „links woken Zeitgeistbubble gepachtet“und „lächerlich…
weil in der Realität eh alles „wahnsinnig kompliziert“ ist, wie der
Senderchef sich gerne aus der Affäre zu ziehen sucht, oder missbraucht der
Chefredakteur schlicht routiniert seine Macht, „Einvernehmlichkeit my ass“?
## Ich-Erzähler will Protagonist bleiben, ist es aber nicht mehr
Fängt das Buch mit der Männerfreundschaft an, scheint sie bald zur
Rahmenhandlung degradiert. Jetzt geht es doch um sexuelle Belästigung. Hier
will der Ich-Erzähler weiterhin Protagonist bleiben, ist es aber de facto
nicht mehr – wichtig sind die missbrauchten Frauen (nicht Opfer, sondern
Belastungszeuginnen), der Chefredakteur-Täter, und der Freund, bald
Ex-Freund des Ich-Erzählers, der dem Täter partout den Rücken freihält.
Der Ich-Erzähler ist eine Figur zu viel, für die Handlung überflüssig. Zwar
kommen ihm Seelsorger-, vielleicht Beschützer- und Vermittlerrollen zu,
aber wäre es nicht spannender, direkt von den Belastungszeuginnen zu hören?
Die nämlich scheinen mit ihren Erfahrungen ganz unterschiedlich umzugehen.
Die eine beschwert sich und wird gefeuert, die andere fühlt sich
geschmeichelt, die nächste verharmlost „da müsse man ja jetzt auch nicht so
ein Fass aufmachen“ (328). Diese Frauen würde man gern näher kennenlernen.
Stattdessen werden nur kurz ihre O-Töne eingeblendet.
Von einer erfährt man mehr: Das ist Sophia, Gesicht des Primetime-Formats
„Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ und bald neue beste Freundin (oder
doch Schwarm?) des Ich-Erzählers. Sie entwickelt sich im Laufe des Buches
von „das ist NORMAL für uns Frauen“, „get over it!“ zu „Ich bin jetzt
übrigens doch auch Feministin“. Leider erleben wir diese Entwicklung nicht
mit. Der Ich-Erzähler chillt nämlich gerade am Pool in LA; zurück in Berlin
wird er upgedated – da hat Sophia schon alles verstanden, muss es nur noch
kurz erklären.
## Geschichte aus Sicht des Chefs erzählen
Oder wie wäre es, die Geschichte aus Sicht des Chefs oder sogar aus Sicht
des Chefredakteurs zu erzählen? Das wäre natürlich schwierig, ist Letzterer
doch ein unausstehlicher „Krawalldödel“ und entpuppt sich Ersterer immer
mehr als aalglatter, rückgratloser Spieler. Aber könnte man bei diesem
Gedankenexperiment nicht etwas lernen, über Macht, schlechten Charakter und
wie solche Leute eigentlich mit sich selbst klarkommen? Interessanter als
das bemühte Gutmenschentum des Ich-Erzählers („Ich war komplett
überfordert, aber die Frauen ja erst recht“) wäre das allemal.
Der versucht verbissen, alles richtig zu machen: Frauen unterstützen, aber
daraus keine „Männerranküne“ machen; geduldig zuhören, aber nicht nur
zuhören; dem Freund ins Gewissen reden, aber bloß nicht den „holden
Beschützer“ spielen. Das ist so ermüdend, dass er am Ende des Buches ganz
erschöpft auf seine LAer Pool-Liege plumpst.
Bizarrerweise scheint er damit genau dem rechten Narrativ auf den Leim zu
gehen, das er zutiefst verabscheut: dass man heutzutage nichts mehr sagen
und tun darf, man immer vorsichtig sein muss, ja keinen zu triggern, dass
der Grad des moralisch richtigen Handelns besonders für weiße Männer ganz
schmal geworden ist. Ist das so?
## Ratgeber für verwirrte Männer
Dabei hat der Ich-Erzähler sogar schriftlich, was zu tun ist – Rose, ein
Opfer von Harvey Weinstein, hatte ihm das in LA noch aufgeschrieben. Und
das klingt ziemlich einfach: „Wenn sie sich dir anvertrauen – sei kein
Arschloch. Hör ihnen zu. Such nach anderen. Hör ihnen zu. Und dann setze
dich für die ein.“
Jetzt liest sich „Noch wach?“ wie ein Ratgeber für verwirrte Männer. Es
wird lehrmeisterlich – [2][ein bisschen so wie im Kinospot.] Lektionen, wie
die von Rose, gibt es fast von der Kanzel herab. Zum Beispiel diese
„HANDREICHUNG von Sarah Silverman zu Comedian Louis C.K: er ist ein großer
Künstler UND er hat sich ekelhaft gegenüber Frauen verhalten. Und JA, diese
Aussagen können gleichzeitig wahr sein.“ Schade, dass das einfach gesagt
wird, gäbe es doch im Roman auch die Möglichkeit, es zu zeigen.
Halbdeutschland fragt sich gerade, was da los ist bei Springer. Und obwohl
es Stuckrad-Barre jetzt also wirklich nicht um Bild geht, sondern eben um
einen „bürgerkriegsgeilen Wutsender, der sich als Nachrichtenkanal
verkleidet“, beantwortet er diese Frage zumindest ein bisschen. Ernst ist
in diesem Milieu nichts, es macht “einfach so viel Spaß, Regeln nicht zu
befolgen“, für Elon Musk ist die Welt ein Witz, und alle wären gerne so wie
Elon.
Am besten ist „Noch wach?“, wenn es diese Welt erzählerisch verkörpert.
Dann steht das Buch, genau wie Chef und Chefredakteur es immer versuchen,
über allem, lächelt ironisch und lässt sich schwer fassen. Endlich, endlich
kommt der*die Leser*in auch mal zum Denken.
26 Apr 2023
## LINKS
[1] /Stuckrad-Barres-neuer-Roman/!5926448
[2] /Enthuellungsroman-ueber-Medienbranche/!5925468
## AUTOREN
Paula Keller
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