Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Diagnose FASD: Raus aus dem Seelenkeller
> Ein adoptiertes Kind, das nie richtig in die Gesellschaft passt. Eine
> Mutter, die sich schuldig fühlt. Und nach drei Jahrzehnten endlich die
> Diagnose: Fetales Alkoholsyndrom.
Bild: Monika Reidegeld und Tim Puffler – Mutter und Sohn
Gelsenkirchen/Berlin taz | Eckdaten, Monika Reidegeld brauchte ein paar
Eckdaten. Wie groß? Wie schwer? Zehn Finger, zehn Zehen? Über einen erst
wenige Stunden alten Menschen lassen sich nur begrenzt Aussagen treffen –
Reidegeld wollte sie alle noch am Telefon. Für die Frau vom Jugendamt,
zuständig für Adoptionen, mag das business as usual gewesen sein, ruhig
antwortete sie, während sich um Reidegeld herum alles zu drehen begann.
Zwei Jahre hatten sie und ihr Mann auf diesen Anruf gewartet, der, zusammen
mit dem ersten adoptierten Sohn, die Familie vollständig machen sollte.
Dann endlich klingelte es, im August 1980, als sie gerade aus einem
Nordseeurlaub zurückgekehrt waren.
Die leibliche Mutter habe sich erst um die Geburt herum entschieden, den
Jungen zur Adoption freizugeben. Daher gehe nun alles so plötzlich, sagte
die Frau vom Jugendamt. Und: „2.400 Gramm, 45 Zentimeter.“ So winzig und
kein Frühchen? Monika Reidegeld wurde stutzig. „Was ist denn mit dem?“,
fragte sie und hörte: „Eine Mangelgeburt, das kann passieren, das wächst
sich raus.“
Heute blickt Monika Reidegeld, 71 Jahre alt, rote, kurze Haare, bunte
Perlenkette, liebevoll in das bärtige Gesicht ihres Sohnes. „Nicht viel
größer als der Stoffaffe deines Bruders warst du“, sagt sie. Und so
kraftlos. Kaum habe er es geschafft, mal die Augen zu öffnen. „45
Zentimeter …“, sie seufzt. „Tim, hast du mal nen Zollstock?“ Tim Puffler
lacht, springt auf, kommt zurück und klappt ihn vor sich auf, als würde der
42-jährige Mann selbst ein winziges Baby in den Armen halten.
Zwar wirkt er mit seinen braunen Struwwelhaaren, in lässigem T-Shirt und
Hausschlappen jünger, doch kraftlos ist nichts an ihm. Im Gegenteil, er ist
voll da, neben seiner Mutter auf dem Sofa in der eigenen Gelsenkirchener
Wohnung und endlich auch in einem Alltag, der zu ihm passt.
Über drei Jahrzehnte hat es gedauert, bis er da angekommen ist. Drei
Jahrzehnte, in denen Monika Reidegeld immer wieder das Vertrauen in ihre
Fähigkeiten als Mutter verliert und Tim Puffler von einer Krise in die
nächste gerät und einmal sogar ins Gefängnis.
Tim Puffler hat FASD, eine sogenannte Fetale Alkoholspektrumstörung. Das
Zellgift Alkohol schädigte sein Frontalhirn im pränatalen Stadium. Da
Alkohol ungefiltert in den Blutkreislauf des Fötus gelangt, empfehlen
Expert:innen, in der Schwangerschaft komplett darauf zu verzichten.
Trotzdem trinken laut Robert Koch-Institut 20 Prozent der Schwangeren
Alkohol. [1][Etwa 10.000 Kinder] kommen jedes Jahr mit FASD zur Welt, es
ist die häufigste bei der Geburt bestehende chronische Erkrankung und
unheilbar.
Was bedeutet das für die Betroffenen? Vor allem, wenn sie jahrzehntelang
ohne Diagnose sind? Und wie wirkt sich FASD auf das Familienleben aus?
Reidegeld und Puffler haben sich mit ihrer Geschichte an die taz gewandt,
weil sie überzeugt sind, dass es ihnen ein paar mehr unbeschwertere Jahre
geschenkt hätte, wenn sie von den Erfahrungen anderer Betroffener gehört
hätten. Sie hoffen jetzt, dass Menschen in einer ähnlichen Lage von ihren
Erlebnissen profitieren können.
Vor Monika Reidegeld und Tim Puffler auf dem Wohnzimmertisch stapeln sich
Fotoalben, Zeugnisse, Berichte von Ärzt:innen und das Dokument der
Erlösung, ein Gutachten der Charité.
Reidegeld reicht ein Bild rüber, es zeigt ein hellblondes Kind in roter
Latzhose, das mit seinen Händen beschäftigt ist. Die ersten zwei Jahre
seines Lebens sind sie das einzige, was ihn interessiert: die eigenen
kleinen Händchen. Der ältere Bruder giggelte und jauchzte in der Wiege,
wenn seine Mutter ins Zimmer kam. Bei Tim scheint ihre Anwesenheit kaum
etwas auszulösen. „Wie in sich eingeschlossen wirkte der. Und natürlich
gingen da sofort die Selbstvorwürfe los.“
Monika Reidegeld setzt sich damals sehr unter Druck, fragt sich, warum sie
keinen Kontakt zu diesem Kind herstellen, den „Eingeschlossenen“ nicht „a…
sich selbst befreien“ kann. Bei ihrem ersten Sohn, er ist auch adoptiert,
ging alles leichter. Hat sie den etwa lieber?
Als Tim zwei Jahre alt ist, lässt Monika Reidegeld ihn in einer
Kinderklinik durchchecken. Und hört dort etwas, das den Lauf seines Leben
hätte ändern können. Wäre die Forschung zu dem Zeitpunkt schon weiter
gewesen und Monika Reidegeld nicht so gut im Verdrängen. „Verdacht auf
Alkoholembryopathie“, sagt der Arzt damals, ohne den Blick von Tim
abzuwenden.
Reidegeld weiß mittlerweile, dass sie da einen ziemlich gut informierten
Arzt getroffen haben muss. Genutzt hat es ihr nichts. Sie ist geschockt,
fragt, was man machen könne. „Nichts“, sagt der Arzt. Womöglich bleibe Tim
„einfach irgendwann stehen“. Vielleicht mit 10, vielleicht mit 12 oder 14.
Ohne Handlungsanweisung entlässt er die beiden. Zuhause bespricht Reidegeld
die Aussagen des Arztes mit ihrem Mann. Der beschwichtigt – es sei ja nur
ein „Verdacht“.
Eine offizielle [2][medizinische Leitlinie zur Diagnose von FASD] gibt es
in Deutschland erst seit 2013. Dem Krankheitsbild verschaffte das unter
Ärzt:innen einen Bekanntheitsschub, für betroffene Kinder wurde es
leichter, Maßnahmen wie Logopädie, Physio- oder Ergotherapie in Anspruch zu
nehmen. Eltern haben mittlerweile die Möglichkeit, sich in
Selbsthilfegruppen zu organisieren. Doch auch 40 Jahre, nachdem der gut
informierte Arzt von „Alkoholembryopathie“ sprach, beklagt der Verband FASD
Deutschland, dass die Kenntnis über FASD und ihre Folgen in Behörden und
Erziehungseinrichtungen mehr als ausbaufähig ist.
Als Tim kurz darauf die Polypen entfernt bekommt und schlagartig Freude am
Sprechen gewinnt, viel interessierter und zugänglicher wird, hat Reidegeld
diese „Alkoholembryopathie“ jedenfalls längst in ihren „Seelenkeller“
eingeschlossen. „Seelenkeller“ und „Hoffnungsnaivität“, mit solchen Wo…
beschreibt sie ihren Umgang mit den Hochs und Tiefs in Tims Leben. In den
Jahren, die folgen, wird sie immer wieder an die Vermutung des Arztes
denken, doch Reidegeld wird jedes Mal von Neuem Gründe finden, das zu
entkräften – egal, in welchem Loch sie gerade beide wieder stecken.
## Der IQ liegt oft im Normbereich
Das folgenschwerste Symptom einer FASD-Erkrankung ist die Störung der
sogenannten Exekutivfunktionen im Gehirn. Damit gemeint sind geistige
Prozesse, die wir für gezieltes und planvolles Handeln benötigen. Zu den
Exekutivfunktionen zählen das Arbeitsgedächtnis, mit dem Menschen
Informationen aufnehmen und sich beispielsweise an Dinge, die zu tun sind,
erinnern; die Inhibition, ein Mechanismus zur Impulskontrolle; sowie die
Fähigkeit, sich in andere Personen hineinzuversetzen – die kognitive
Flexibilität. Betroffene haben also Schwierigkeiten, vorausschauend zu
handeln, Gelerntes umzusetzen, Vereinbarungen einzuhalten oder Konflikte zu
lösen.
Der IQ hingegen liegt bei Menschen mit FASD oft im Normbereich. Er sagt
allerdings wenig darüber aus, wie gut sie ihren Alltag bewältigen können.
Denn durch die Störung der Exekutivfunktionen haben sie nur eingeschränkt
Zugriff auf ihr eigentliches Potenzial. Besonders tückisch: All diese
Auffälligkeiten lassen sich auch als Charakterschwächen interpretieren. Den
Kindern wird vorgeworfen, faul zu sein, unbelehrbar, stur, sonderbar.
Insbesondere Adoptiv- und Pflegeeltern fragen sich, was sie falsch machen
in der Erziehung. Und ihre Kinder verzweifeln darüber, dass immer alles
schiefgeht, obwohl sie sich doch so bemüht hatten, es diesmal hinzukriegen.
So ist es auch bei Tim, der seiner Mutter in der Vorschule neue Rätsel
aufgibt. Da ist zum Beispiel die Sache mit den Fotoalben. „Ich habe das
wirklich nicht gemacht, um sie zu verletzen“, sagt Tim Puffler heute. „Ich
hatte einfach einige Lieblingsfotos, die ich in meiner Nähe haben wollte.“
Also reißt der Junge immer wieder Bilder aus dem Fotoalbum heraus, die dann
verknickt und dreckig in seinem Kinderzimmer herumliegen.
Monika Reidegeld probiert alle erdenklichen elterlichen Reaktionen zwischen
verständnisvoll und blanker Wut. Es ist noch nicht mal so, als habe ihr
Sohn Freude an der Provokation gehabt, sagt sie rückblickend. Eher wirkte
es, als könne sich Tim an die vorangegangenen Auseinandersetzungen gar
nicht richtig erinnern. Als habe er überhaupt keine Sensoren für die
Gefühlslage seiner Mutter.
In der Grundschule tut er sich mit anderen Kindern schwer. Freundschaften
halten meist nur kurz, Monika Reidegeld beobachtet, dass zwischen Tim und
Klassenkameraden, die zum Spielen vorbeikommen, immer wieder
Missverständnisse entstehen. Tim scheint Spielregeln zu ignorieren, die
anderen Kinder sind frustriert, es kommt zu Streit.
Und auch der Matheunterricht lässt ihn verzweifeln, er fühlt sich im
Vergleich zu seinen Mitschüler:innen viel zu langsam, Textaufgaben
klingen für ihn wie absurde Witze.
Für Menschen mit FASD sind Denkleistungen viel energieraubender als für
neurotypische Menschen. Sie sind schneller erschöpft, was dann in
Umgebungen wie dem Klassenraum als Antriebslosigkeit gedeutet werden kann.
Der Grund ist, dass sie mehr Gehirnareale für eine Aufgabe aktivieren
müssen als eigentlich vorgesehen. Das schlaucht.
Tim muss die Klasse wiederholen und trifft auf der Gesamtschule schließlich
auf einen engagierten Lehrer, der ein Auge auf ihn hat. Tim entdeckt seine
Liebe für die Bühne, besucht die Theater-AG. Seine Rampensau-Seite hat er
bisher nur zuhause ausgelebt; jeden Tag hört er in seinem Zimmer laute
Musik und singt noch lauter mit.
Aber er fühlt sich nicht als Teil der Klassengemeinschaft, einmal nennt ihn
jemand „irre“, erzählt er. Um dazu zu gehören, beginnt er mit dem Rauchen.
Auch so eine Episode, die seine Mutter fassungslos macht. Denn Tim zündet
sich seine ersten Zigaretten nicht irgendwo heimlich und ganz weit weg von
seinen Eltern an. Sondern im Wohnzimmer, als er mal alleine zuhause ist,
bei geschlossenen Fenstern. Als Monika Reidegeld nach Hause kommt, sitzt
Tim immer noch auf dem Sofa, vor ihm ein voller Aschenbecher. „Was hast du
dir dabei gedacht?“, fragt sie entsetzt. „Man muss Zigaretten hastig und
ohne Pause rauchen, um sich schneller daran zu gewöhnen“, sagt er sachlich.
Heute kann Monika Reidegeld über diese Anekdote lachen. Für Tim Puffler hat
sie nach wie vor nichts Absurdes. „Ja, aber es ist doch so“, sagt er.
Im Unterricht ist nun häufiger Thema, was die Schüler:innen nach dem
Abschluss vorhaben. Auf Nachfrage einer Lehrerin behauptet Tim, zwar noch
überhaupt nicht zu wissen, wie es weitergehen soll, aber „zu 100 Prozent
keine Zukunftsängste zu haben“. Nicht einmal irgendwelche vagen
Befürchtungen. Hinter dieser vermeintlichen Leichtigkeit steckt etwas ganz
anderes. Tims Erkrankung erschwert es ihm, Ereignisse, die außerhalb seiner
täglichen Routine liegen, zu antizipieren, sich also etwa einen
Zukunfts-Tim vorzustellen, der einer bestimmten Beschäftigung nachgeht.
„Alles in Ordnung, alles gut, ich mache das schon“, ist Tims Lieblingssatz,
er nutzt ihn gern, um in Ruhe gelassen zu werden, und weil er auch wirklich
daran glaubt. Die, die ihm nahestehen, nehmen ihm das ab, denn er kann sehr
überzeugend sein.
Und so glaubt selbst sein Lehrer, dass Tim die Türen schon zu öffnen weiß,
die sich vor ihm auftun werden mit einer Fachoberschulreife. Also kratzt er
gerade so die Noten zusammen, die es dafür braucht. „Es wäre besser
gewesen, er hätte das nicht gemacht“, sagt Tim Puffler. Denn all die
Ausbilder, auf die er in den nächsten Jahren treffen wird, Menschen in
Arbeitsagenturen und Sozialämtern, werden mit Unverständnis reagieren, wenn
er an scheinbar einfachsten Aufgaben scheitert, Job-Maßnahmen nicht zu Ende
führt und irgendwann einen Schwerbehindertenausweis beantragt. Denn
Fachoberschulreife und eine bescheinigte geistige Beeinträchtigung passen
für die meisten nicht zusammen.
In der Zeit zwischen Schulabschluss und Zivildienst hat Monika Reidegeld
immer wieder Albträume, die von Tim handeln. Auf Urlaubsreisen, im
Einkaufszentrum geht er ihr verloren. Oder der Junge will einfach nicht
wachsen. Reicht ihr nur bis zum Bauchnabel, obwohl er längst erwachsen ist.
Und sie ist die Einzige, die es bemerkt. Keiner glaubt ihr, wenn sie sagt,
dass da was nicht stimmt.
Wenn sie aufwacht, wird ihr klar, woher die Träume kommen: Ihr Sohn ist
zwar im Nebenzimmer, aber auf seine eigene Art verloren, weiß nichts mit
sich anzufangen und verhält sich im Grunde wie ein Kind. Kommt sie abends
nach Hause, sieht die Wohnung aus wie Sau. Nichts von den paar
Haushaltsaufgaben, die Monika Reidegeld ihrem Sohn aufträgt, erledigt er.
Die Nächte verbringt Tim feiernd in Bochum. Eigentlich müsste er sich
dringend um eine Zivildienststelle kümmern. Eines Tages meldet sich eine
Partyfreundin ihres Sohnes bei Monika Reidegeld: Ob sie wisse, dass Tim
immer wieder Heroinsüchtigen Geld leihe. Reidegeld ist entsetzt, stellt Tim
zur Rede: Die Leute seien halt nett, er helfe gern, entgegnet er. Das Geld
bekommt er nicht wieder. Obwohl er das weiß, hebt er weiter Scheine für sie
ab – bis er selbst nichts mehr hat. „Ich habe dieses Geldabheben nicht
bewusst gesteuert“, sagt Tim Puffler heute. „Anders kann ich das nicht
erklären. Das läuft ganz impulsiv bei mir.“ Später erfährt Reidegeld, dass
Tim mit den Abhängigen immer wieder auch Zeit verbrachte, seine Angst vor
Spritzen ihn aber davor zurückschrecken ließ, mitzumachen.
Das Risiko, eine Sucht zu entwickeln, ist für [3][Menschen mit FASD] um ein
Vielfaches erhöht. Ein Grund ist, dass sie sich leichter überzeugen lassen
und Gefahren oft nicht als solche identifizieren. Bei Tim äußert sich das
damals auch beim Autofahren. Er rast, drängelt, bemerkt nicht, wenn ihm mal
die Augen zufallen. Wenn seine Mitfahrer:innen vor Angst schreien,
findet er das witzig. „Die Autobahn war für mich wie ein Spiel, da habe ich
mich ausgetobt.“ Vier Unfälle wird er bauen. Er hat Glück: Nie wird ihm
oder anderen ernsthaft etwas zustoßen. Heute nimmt er nur noch das E-Bike.
Der Übergang in das Berufsleben kann für Jugendliche mit undiagnostizierter
FASD besonders hart sein – denn sie brauchen sehr viel länger als
neurotypische Menschen, um sich an veränderte Abläufe zu gewöhnen und neue
Aufgaben zu verinnerlichen. Wenn sie auf dem Papier dann auch noch völlig
gesund sind, eine Fachoberschulreife haben, kann das zu Unverständnis bei
den Ausbilder:innen führen. Oder, wie in Tims Fall, zu Anfeindungen.
Geht es um seinen Zivildienst, schlingt Monika Reidegeld die Arme fester um
sich, Tim Puffler sitzt ein bisschen aufrechter da. „Diese Zeit war
traumatisch für mich“, sagt er. „Mir wird heute noch schlecht, wenn ich
daran denke“, sagt sie.
## Das Zivildienst-Trauma
Monika Reidegeld ist es, die um das Jahr 2000 herum die Bewerbung ans
Salvador-Allende-Haus schreibt. Ein Bildungszentrum gleich um die Ecke, das
auch Gäste beherbergt. Im Allende-Haus muss er Anreisende in Empfang
nehmen, Betten beziehen, die Telefonanlage bedienen. „Diese Anlage war
riesig und bestand aus vielen blinkenden Knöpfen. Die anderen Zivis haben
das hingekriegt, ich nicht“, sagt Tim Puffler. Ständig habe es Ärger
gegeben, „immer war ich der Schuldige. Ich war völlig fertig, die Zeit war
ein Albtraum.“
Er beschließt, nicht mehr hinzugehen, und weil er normalerweise auch dort
schläft, nimmt er sich ein Hotelzimmer, denkt: „Hier bin ich sicher“. Als
am Wochenende dann der Hausmeister vor Monika Reidegelds Tür steht, fühlt
sie sich gedemütigt von den Lügen ihres Sohnes. Der schweigt.
Tims Probleme, die eigenen Gefühle zu kommunizieren, interpretiert Monika
Reidegeld als Unwillen und Starrsinn. Und Tim sieht in seiner Mutter bloß
vermeintliche Gnadenlosigkeit – statt der Verzweiflung darüber, ihr Sohn
könnte bald eingebuchtet werden, weil er seiner Dienstpflicht nicht
nachkommt. Erst als sie ihn kurz darauf selbst ins Allende-Haus fährt,
bemerkt sie, wie unwohl ihm ist. Trotzdem schickt sie ihn rein. „Mir
könnten da heute wirklich die Tränen kommen, Tim“, sagt Monika Reidegeld.
„Ist doch okay, du konntest es nicht wissen“, antwortet er.
Für den Rest seiner Zivildienstzeit bekommt Tim vom Hausmeister eine
1:1-Betreuung und hat damit unbewusst erzwungen, was für ihn das beste ist.
Monika Reidegeld kämpft derweil mit einer Erschöpfungsdepression. Eine
Woche geht sie in Reha und hört von einer Therapeutin, sie mache ihren Sohn
klein. Sie müsse endlich in der Lage sein, den Jungen loszulassen. Als sie
aus der Reha in eine völlig verdreckte Wohnung zurückkehrt, obwohl Tim ihr
glaubhaft beteuert hatte, achtzugeben, schmeißt sie ihn raus und reduziert
den Kontakt.
## Monika Reidegeld lässt ihn los
Von nun an wird Tims Vater, mittlerweile Reidegelds Ex-Mann, für ihn
zuständig sein. Der Cut ist in beiderseitigem Einvernehmen, auch Tim hat
die Nase voll von all den Vorwürfen, in seinen Augen bemüht er sich doch.
Mutter und Sohn bleiben zunächst in losem Kontakt. Immer mal wieder treffen
sie sich im Café, Tim Puffler behält einen Schlüssel zu Reidegelds Wohnung.
Nach einer Reise, Tim ist da Mitte 20, bemerkt sie, dass jemand ihre
Schmuckschatulle geöffnet haben muss. Sie weiß zu dem Zeitpunkt schon, dass
ihr Sohn hin und wieder die Pfandleihe beansprucht. Dass er so weit gehen
würde, ihre Erbstücke einzulösen, hatte sie für unmöglich gehalten.
Reidegeld wird sie zurückbekommen, sich nun aber konsequenter zurückziehen.
In den knapp fünf Jahren, die zwischen der Schmuckschatulle und der
Diagnose stehen, lässt sie ihn los. Und Tim Puffler taumelt durchs Leben,
fängt Ausbildungen an und hört sie wieder auf, wird immer wieder vom
Jobcenter sanktioniert und versteckt Schreiben von der Hausverwaltung so
lange unter seiner Matratze, bis die Räumungsklage droht.
„Jeden Tag habe ich mich gefragt, welche Tretmine da heute ist, die ich
nicht kommen gesehen habe“, sagt er. Eine dieser Tretminen ist ein
Strafbefehl, den er so lange ignoriert, bis die Polizei ihn in Gewahrsam
nimmt. Ein Bekannter hatte einem anderen Bekannten das Auto entwendet, Tim
Puffler war dabei gewesen und aus seiner Sicht unschuldig.
Dieser völlig vermeidbare Gefängnisaufenthalt führt dazu, dass Monika
Reidegeld einen letzten Anlauf nimmt: Im Jahr 2012 sucht sie den Rat einer
Ärztin vom Gesundheitsamt und kommt mit einer Berliner Adresse wieder
heraus. Es ist die von Professor Hans-Ludwig Spohr, Kinderarzt und Gründer
des FASD-Zentrum an der Charité. Spohr ist einer der wenigen Experten auf
dem Gebiet in Deutschland, seit über 40 Jahren beschäftigt er sich mit der
Erkrankung.
Kurze Zeit später besuchen Mutter und Sohn den Kinderarzt. Hätte am Ende
des Besuchs keine Diagnose festgestanden, wäre das für Monika Reidegeld die
„emotionale Kernschmelze“ gewesen, sagt sie heute. Als Spohr ein
FASD-Vollbild bei Tim Puffler feststellt, fällt daher ein Stein von ihrem
Herzen, so wuchtig, dass man ihn „bis ins Ruhrgebiet“ hätte hören müssen.
Und dann sagt der Professor einen Satz, den Reidegeld nun ganz feierlich
wiederholt: „Hiermit entlaste ich Sie von allen vermeintlichen
Erziehungsfehlern.“ Das ist der Moment, an dem sie damals in Tränen
ausbricht. Und Tim Puffler sagt: „Professor Spohr war sowas wie mein
Retter.“
Hans-Ludwig Spohr, heute 83 Jahre alt, mit Schnäuzer und gütigem Blick,
bittet in sein Haus in Berlin-Dahlem und führt gleich wieder heraus, in den
spätwinterlichen Garten: Diese Schneeglöckchen müsse man gesehen haben.
An Tim Puffler und Monika Reidegeld kann er sich gut erinnern. Denn Puffler
ist 2012 einer der ersten Erwachsenen, die sich an ihn wenden. Die Diagnose
steht für Spohr schon fest, als der junge Mann bei ihm zur Tür reinkommt.
30 Jahre Leben konnten in Pufflers Gesicht FASD-typische Merkmale nicht
verwischen. Die schmale Lidspalte, die wenig konturierte Oberlippe und der
kleine Kopf fallen Spohr sofort auf.
In über 90 Prozent der Fälle sind es nicht die leiblichen Eltern, die Spohr
gegenüber sitzen. Sondern Adoptiv- und Pflegemütter und -väter, oft am
Rande des Burnouts. Selten hat er es mit Frauen zu tun, die vermuten, ihr
Alkoholkonsum in der Schwangerschaft könnte der Grund für die Probleme
ihrer Kinder sein. Bemerkenswert findet er, dass ihm nicht ein einziges Mal
in seiner über 40-jährigen Karriere eine Familie aus dem Bildungsbürgertum
gegenüber gesessen habe. Keinesfalls, weil es so was in diesem Milieu nicht
gebe, sagt er. Nur würden diese Kinder dann in teuren Internaten betreut,
und kriegen wenn nötig ihr ganzes Leben lang finanzielle Unterstützung.
Hans-Ludwig Spohr sagt über sich, er sei auch „addicted“ – abhängig: er
könne einfach nicht aufhören, zu praktizieren. Zwar ist er schon lange
nicht mehr der Einzige, der in Deutschland FASD-Patient:innen begutachtet.
Anlaufstellen insbesondere für Erwachsene mit Alkoholsyndrom gebe es aber
noch viel zu wenige. Außerdem müsse es für Menschen mit Diagnose einfacher
werden, Hilfen zu beanspruchen. „Mitarbeiter in Sozialämtern sind darauf
gedrillt, Normalität zu sehen, um Kosten einzusparen“, sagt Spohr. Und die
Normalität dränge sich bei Menschen wie Tim Puffler nun mal auf. Eloquent,
Schulabschluss, wo soll das Problem sein?
## Mehr Unterstützung für Betroffene
2021 forderte Spohr vor dem Gesundheitsausschuss, bei der Beurteilung des
Grades der Behinderung bei Menschen mit FASD mehr Flexibilität an den Tag
zu legen. Er verwies für seine Forderungen auch auf den Kostenfaktor.
Studien und seine eigene jahrzehntelange Erfahrung belegen zum Beispiel,
dass Menschen mit FASD überdurchschnittlich oft im Gefängnis oder
Psychiatrien landen. Nur um nach Haftentlassung erneut straffällig zu
werden. In der Justiz gelten sie dann als besonders renitent, dabei ist es
ihnen unmöglich, Lehren aus dem eigenen Handeln zu ziehen. 2019 fanden
US-Forscher:innen heraus, dass das [4][Suizidrisiko für Menschen mit FASD]
um einiges höher ist als in der Gesamtbevölkerung. Spohr ist sich sicher:
All das ließe sich verhindern, würde ihnen nur früh genug geholfen.
Tim Puffler und Monika Reidegeld entlässt er damals mit den Worten: „Macht
was draus!“ Sie werden sich daran halten. Reidegeld beantragt für Tim
Puffler eine ambulante Betreuung. Er bekommt im Alltag von nun an
Sozialarbeiter:innen an die Seite gestellt, die im Haushalt helfen
und Behördliches klären. Er hat einen Schwerbehindertenausweis und Anspruch
auf bestimmte Sozialleistungen wie die Anerkennung eines Pflegegrades oder
Wiedereingliederung ins Berufsleben.
Der Diagnosebericht empfiehlt einen „beschützten Arbeitsplatz“ mit enger
Begleitung. Und so organisiert ihm seine Betreuerin einen Platz im
Sozialwerk St. Georg in Gelsenkirchen, wo Menschen mit Assistenzbedarf die
Möglichkeit haben, einer Beschäftigung nachzugehen und sich auf Gebieten,
die sie interessieren, weiterzubilden – mit viel Struktur und wenig Druck.
Puffler ist dort Redakteur beim Magazin DruckArt, aktuell will er eine
Schulung zum Medienberater machen.
Einmal im Monat kommt in den Räumen des Sozialwerks seine
Improvisationstheatergruppe „InkluImpro“ zusammen. Auf Bühnen hat sich Tim
Puffler immer wohlgefühlt. „Als Tim hier angefangen hat, war er aber noch
viel vorsichtiger“, sagt Theaterpädagogin Karin Badar bei einer Probe Mitte
Februar. Heute habe er eine tolle Energie.
Seine wichtigste Bühne steht allerdings in Fulda, dort finden die
jährlichen FASD-Fachtagungen statt, dort spricht er jedes Mal vor hunderten
von Menschen. „Ich frage mich wirklich oft, wie viele Leute da draußen
rumlaufen, die es schwer haben und nicht wissen, dass sie eigentlich krank
sind“, sagt er. Er wünscht sich, dass sich andere in seiner Geschichte
wiedererkennen und Hilfe finden. Monika Reidegeld und Tim Puffler haben
deswegen [5][ein Buch] verfasst, es heißt „Tim – ein Leben mit dem Fetalen
Alkoholsyndrom“; vor ein paar Wochen haben sie in Gelsenkirchen gemeinsam
daraus gelesen. Am liebsten würde Tim auch Aufklärungsarbeit in
Schulklassen leisten. „Damit die jungen Leute dort erfahren, was FASD
bedeutet und dass es zu 100 Prozent vermeidbar ist.“
Wenn man sie fragt, was sie aneinander bewundern, dann lehnt sich Tim
Puffler erst mal zurück und lässt seine Mutter antworten. „Deine
Stehaufmännchen-Qualität“, sagt sie. „Der gibt einfach nicht auf!“ Tim
Puffler ist stolz auf das Engagement seiner Mutter, wenn es um ihn geht.
„Und dass du mir hilfst zu erzählen.“
7 May 2023
## LINKS
[1] https://fasd-fachzentrum.de/was-ist-fasd/
[2] https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/022-025
[3] https://fasd-netz.de/wp-content/uploads/Lebenslang_durch_Alkohol.pdf
[4] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6650307/
[5] https://www.editionblaes.de/tim-und-das-fetale-alkoholsyndrom/
## AUTOREN
Leonie Gubela
## TAGS
Alkohol
Leben mit Behinderung
Alkoholmissbrauch
Gehirn
Schwangerschaft
Lesestück Recherche und Reportage
wochentaz
GNS
Liebeserklärung
Alkohol
## ARTIKEL ZUM THEMA
Mutterschaft über 40: Es gibt keine zu alten Mütter
Die Geburtenhäufigkeit bei älteren Müttern steigt. Was gesellschaftlich
noch immer tabuisiert wird, ist ein Grund zur Freude.
Alkoholismus in Deutschland: Immer mehr Süchtige
1,8 Millionen Deutsche sind alkoholabhängig. Das
Bundesgesundheitsministerium weist Vorwürfe politischer Untätigkeit zurück.
Beratungsstelle von Schließung bedroht: Achtung, Baby trinkt mit
Menschen, deren Mütter als Schwangere Alkohol getrunken haben, leiden ein
Leben lang unter den Folgen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.