# taz.de -- Diagnose FASD: Raus aus dem Seelenkeller | |
> Ein adoptiertes Kind, das nie richtig in die Gesellschaft passt. Eine | |
> Mutter, die sich schuldig fühlt. Und nach drei Jahrzehnten endlich die | |
> Diagnose: Fetales Alkoholsyndrom. | |
Bild: Monika Reidegeld und Tim Puffler – Mutter und Sohn | |
GELSENKIRCHEN/BERLIN taz | Eckdaten, Monika Reidegeld brauchte ein paar | |
Eckdaten. Wie groß? Wie schwer? Zehn Finger, zehn Zehen? Über einen erst | |
wenige Stunden alten Menschen lassen sich nur begrenzt Aussagen treffen – | |
Reidegeld wollte sie alle noch am Telefon. Für die Frau vom Jugendamt, | |
zuständig für Adoptionen, mag das business as usual gewesen sein, ruhig | |
antwortete sie, während sich um Reidegeld herum alles zu drehen begann. | |
Zwei Jahre hatten sie und ihr Mann auf diesen Anruf gewartet, der, zusammen | |
mit dem ersten adoptierten Sohn, die Familie vollständig machen sollte. | |
Dann endlich klingelte es, im August 1980, als sie gerade aus einem | |
Nordseeurlaub zurückgekehrt waren. | |
Die leibliche Mutter habe sich erst um die Geburt herum entschieden, den | |
Jungen zur Adoption freizugeben. Daher gehe nun alles so plötzlich, sagte | |
die Frau vom Jugendamt. Und: „2.400 Gramm, 45 Zentimeter.“ So winzig und | |
kein Frühchen? Monika Reidegeld wurde stutzig. „Was ist denn mit dem?“, | |
fragte sie und hörte: „Eine Mangelgeburt, das kann passieren, das wächst | |
sich raus.“ | |
Heute blickt Monika Reidegeld, 71 Jahre alt, rote, kurze Haare, bunte | |
Perlenkette, liebevoll in das bärtige Gesicht ihres Sohnes. „Nicht viel | |
größer als der Stoffaffe deines Bruders warst du“, sagt sie. Und so | |
kraftlos. Kaum habe er es geschafft, mal die Augen zu öffnen. „45 | |
Zentimeter …“, sie seufzt. „Tim, hast du mal nen Zollstock?“ Tim Puffler | |
lacht, springt auf, kommt zurück und klappt ihn vor sich auf, als würde der | |
42-jährige Mann selbst ein winziges Baby in den Armen halten. | |
Zwar wirkt er mit seinen braunen Struwwelhaaren, in lässigem T-Shirt und | |
Hausschlappen jünger, doch kraftlos ist nichts an ihm. Im Gegenteil, er ist | |
voll da, neben seiner Mutter auf dem Sofa in der eigenen Gelsenkirchener | |
Wohnung und endlich auch in einem Alltag, der zu ihm passt. | |
Über drei Jahrzehnte hat es gedauert, bis er da angekommen ist. Drei | |
Jahrzehnte, in denen Monika Reidegeld immer wieder das Vertrauen in ihre | |
Fähigkeiten als Mutter verliert und Tim Puffler von einer Krise in die | |
nächste gerät und einmal sogar ins Gefängnis. | |
Tim Puffler hat FASD, eine sogenannte Fetale Alkoholspektrumstörung. Das | |
Zellgift Alkohol schädigte sein Frontalhirn im pränatalen Stadium. Da | |
Alkohol ungefiltert in den Blutkreislauf des Fötus gelangt, empfehlen | |
Expert:innen, in der Schwangerschaft komplett darauf zu verzichten. | |
Trotzdem trinken laut Robert Koch-Institut 20 Prozent der Schwangeren | |
Alkohol. [1][Etwa 10.000 Kinder] kommen jedes Jahr mit FASD zur Welt, es | |
ist die häufigste bei der Geburt bestehende chronische Erkrankung und | |
unheilbar. | |
Was bedeutet das für die Betroffenen? Vor allem, wenn sie jahrzehntelang | |
ohne Diagnose sind? Und wie wirkt sich FASD auf das Familienleben aus? | |
Reidegeld und Puffler haben sich mit ihrer Geschichte an die taz gewandt, | |
weil sie überzeugt sind, dass es ihnen ein paar mehr unbeschwertere Jahre | |
geschenkt hätte, wenn sie von den Erfahrungen anderer Betroffener gehört | |
hätten. Sie hoffen jetzt, dass Menschen in einer ähnlichen Lage von ihren | |
Erlebnissen profitieren können. | |
Vor Monika Reidegeld und Tim Puffler auf dem Wohnzimmertisch stapeln sich | |
Fotoalben, Zeugnisse, Berichte von Ärzt:innen und das Dokument der | |
Erlösung, ein Gutachten der Charité. | |
Reidegeld reicht ein Bild rüber, es zeigt ein hellblondes Kind in roter | |
Latzhose, das mit seinen Händen beschäftigt ist. Die ersten zwei Jahre | |
seines Lebens sind sie das einzige, was ihn interessiert: die eigenen | |
kleinen Händchen. Der ältere Bruder giggelte und jauchzte in der Wiege, | |
wenn seine Mutter ins Zimmer kam. Bei Tim scheint ihre Anwesenheit kaum | |
etwas auszulösen. „Wie in sich eingeschlossen wirkte der. Und natürlich | |
gingen da sofort die Selbstvorwürfe los.“ | |
Monika Reidegeld setzt sich damals sehr unter Druck, fragt sich, warum sie | |
keinen Kontakt zu diesem Kind herstellen, den „Eingeschlossenen“ nicht „a… | |
sich selbst befreien“ kann. Bei ihrem ersten Sohn, er ist auch adoptiert, | |
ging alles leichter. Hat sie den etwa lieber? | |
Als Tim zwei Jahre alt ist, lässt Monika Reidegeld ihn in einer | |
Kinderklinik durchchecken. Und hört dort etwas, das den Lauf seines Leben | |
hätte ändern können. Wäre die Forschung zu dem Zeitpunkt schon weiter | |
gewesen und Monika Reidegeld nicht so gut im Verdrängen. „Verdacht auf | |
Alkoholembryopathie“, sagt der Arzt damals, ohne den Blick von Tim | |
abzuwenden. | |
Reidegeld weiß mittlerweile, dass sie da einen ziemlich gut informierten | |
Arzt getroffen haben muss. Genutzt hat es ihr nichts. Sie ist geschockt, | |
fragt, was man machen könne. „Nichts“, sagt der Arzt. Womöglich bleibe Tim | |
„einfach irgendwann stehen“. Vielleicht mit 10, vielleicht mit 12 oder 14. | |
Ohne Handlungsanweisung entlässt er die beiden. Zuhause bespricht Reidegeld | |
die Aussagen des Arztes mit ihrem Mann. Der beschwichtigt – es sei ja nur | |
ein „Verdacht“. | |
Eine offizielle [2][medizinische Leitlinie zur Diagnose von FASD] gibt es | |
in Deutschland erst seit 2013. Dem Krankheitsbild verschaffte das unter | |
Ärzt:innen einen Bekanntheitsschub, für betroffene Kinder wurde es | |
leichter, Maßnahmen wie Logopädie, Physio- oder Ergotherapie in Anspruch zu | |
nehmen. Eltern haben mittlerweile die Möglichkeit, sich in | |
Selbsthilfegruppen zu organisieren. Doch auch 40 Jahre, nachdem der gut | |
informierte Arzt von „Alkoholembryopathie“ sprach, beklagt der Verband FASD | |
Deutschland, dass die Kenntnis über FASD und ihre Folgen in Behörden und | |
Erziehungseinrichtungen mehr als ausbaufähig ist. | |
Als Tim kurz darauf die Polypen entfernt bekommt und schlagartig Freude am | |
Sprechen gewinnt, viel interessierter und zugänglicher wird, hat Reidegeld | |
diese „Alkoholembryopathie“ jedenfalls längst in ihren „Seelenkeller“ | |
eingeschlossen. „Seelenkeller“ und „Hoffnungsnaivität“, mit solchen Wo… | |
beschreibt sie ihren Umgang mit den Hochs und Tiefs in Tims Leben. In den | |
Jahren, die folgen, wird sie immer wieder an die Vermutung des Arztes | |
denken, doch Reidegeld wird jedes Mal von Neuem Gründe finden, das zu | |
entkräften – egal, in welchem Loch sie gerade beide wieder stecken. | |
## Der IQ liegt oft im Normbereich | |
Das folgenschwerste Symptom einer FASD-Erkrankung ist die Störung der | |
sogenannten Exekutivfunktionen im Gehirn. Damit gemeint sind geistige | |
Prozesse, die wir für gezieltes und planvolles Handeln benötigen. Zu den | |
Exekutivfunktionen zählen das Arbeitsgedächtnis, mit dem Menschen | |
Informationen aufnehmen und sich beispielsweise an Dinge, die zu tun sind, | |
erinnern; die Inhibition, ein Mechanismus zur Impulskontrolle; sowie die | |
Fähigkeit, sich in andere Personen hineinzuversetzen – die kognitive | |
Flexibilität. Betroffene haben also Schwierigkeiten, vorausschauend zu | |
handeln, Gelerntes umzusetzen, Vereinbarungen einzuhalten oder Konflikte zu | |
lösen. | |
Der IQ hingegen liegt bei Menschen mit FASD oft im Normbereich. Er sagt | |
allerdings wenig darüber aus, wie gut sie ihren Alltag bewältigen können. | |
Denn durch die Störung der Exekutivfunktionen haben sie nur eingeschränkt | |
Zugriff auf ihr eigentliches Potenzial. Besonders tückisch: All diese | |
Auffälligkeiten lassen sich auch als Charakterschwächen interpretieren. Den | |
Kindern wird vorgeworfen, faul zu sein, unbelehrbar, stur, sonderbar. | |
Insbesondere Adoptiv- und Pflegeeltern fragen sich, was sie falsch machen | |
in der Erziehung. Und ihre Kinder verzweifeln darüber, dass immer alles | |
schiefgeht, obwohl sie sich doch so bemüht hatten, es diesmal hinzukriegen. | |
So ist es auch bei Tim, der seiner Mutter in der Vorschule neue Rätsel | |
aufgibt. Da ist zum Beispiel die Sache mit den Fotoalben. „Ich habe das | |
wirklich nicht gemacht, um sie zu verletzen“, sagt Tim Puffler heute. „Ich | |
hatte einfach einige Lieblingsfotos, die ich in meiner Nähe haben wollte.“ | |
Also reißt der Junge immer wieder Bilder aus dem Fotoalbum heraus, die dann | |
verknickt und dreckig in seinem Kinderzimmer herumliegen. | |
Monika Reidegeld probiert alle erdenklichen elterlichen Reaktionen zwischen | |
verständnisvoll und blanker Wut. Es ist noch nicht mal so, als habe ihr | |
Sohn Freude an der Provokation gehabt, sagt sie rückblickend. Eher wirkte | |
es, als könne sich Tim an die vorangegangenen Auseinandersetzungen gar | |
nicht richtig erinnern. Als habe er überhaupt keine Sensoren für die | |
Gefühlslage seiner Mutter. | |
In der Grundschule tut er sich mit anderen Kindern schwer. Freundschaften | |
halten meist nur kurz, Monika Reidegeld beobachtet, dass zwischen Tim und | |
Klassenkameraden, die zum Spielen vorbeikommen, immer wieder | |
Missverständnisse entstehen. Tim scheint Spielregeln zu ignorieren, die | |
anderen Kinder sind frustriert, es kommt zu Streit. | |
Und auch der Matheunterricht lässt ihn verzweifeln, er fühlt sich im | |
Vergleich zu seinen Mitschüler:innen viel zu langsam, Textaufgaben | |
klingen für ihn wie absurde Witze. | |
Für Menschen mit FASD sind Denkleistungen viel energieraubender als für | |
neurotypische Menschen. Sie sind schneller erschöpft, was dann in | |
Umgebungen wie dem Klassenraum als Antriebslosigkeit gedeutet werden kann. | |
Der Grund ist, dass sie mehr Gehirnareale für eine Aufgabe aktivieren | |
müssen als eigentlich vorgesehen. Das schlaucht. | |
Tim muss die Klasse wiederholen und trifft auf der Gesamtschule schließlich | |
auf einen engagierten Lehrer, der ein Auge auf ihn hat. Tim entdeckt seine | |
Liebe für die Bühne, besucht die Theater-AG. Seine Rampensau-Seite hat er | |
bisher nur zuhause ausgelebt; jeden Tag hört er in seinem Zimmer laute | |
Musik und singt noch lauter mit. | |
Aber er fühlt sich nicht als Teil der Klassengemeinschaft, einmal nennt ihn | |
jemand „irre“, erzählt er. Um dazu zu gehören, beginnt er mit dem Rauchen. | |
Auch so eine Episode, die seine Mutter fassungslos macht. Denn Tim zündet | |
sich seine ersten Zigaretten nicht irgendwo heimlich und ganz weit weg von | |
seinen Eltern an. Sondern im Wohnzimmer, als er mal alleine zuhause ist, | |
bei geschlossenen Fenstern. Als Monika Reidegeld nach Hause kommt, sitzt | |
Tim immer noch auf dem Sofa, vor ihm ein voller Aschenbecher. „Was hast du | |
dir dabei gedacht?“, fragt sie entsetzt. „Man muss Zigaretten hastig und | |
ohne Pause rauchen, um sich schneller daran zu gewöhnen“, sagt er sachlich. | |
Heute kann Monika Reidegeld über diese Anekdote lachen. Für Tim Puffler hat | |
sie nach wie vor nichts Absurdes. „Ja, aber es ist doch so“, sagt er. | |
Im Unterricht ist nun häufiger Thema, was die Schüler:innen nach dem | |
Abschluss vorhaben. Auf Nachfrage einer Lehrerin behauptet Tim, zwar noch | |
überhaupt nicht zu wissen, wie es weitergehen soll, aber „zu 100 Prozent | |
keine Zukunftsängste zu haben“. Nicht einmal irgendwelche vagen | |
Befürchtungen. Hinter dieser vermeintlichen Leichtigkeit steckt etwas ganz | |
anderes. Tims Erkrankung erschwert es ihm, Ereignisse, die außerhalb seiner | |
täglichen Routine liegen, zu antizipieren, sich also etwa einen | |
Zukunfts-Tim vorzustellen, der einer bestimmten Beschäftigung nachgeht. | |
„Alles in Ordnung, alles gut, ich mache das schon“, ist Tims Lieblingssatz, | |
er nutzt ihn gern, um in Ruhe gelassen zu werden, und weil er auch wirklich | |
daran glaubt. Die, die ihm nahestehen, nehmen ihm das ab, denn er kann sehr | |
überzeugend sein. | |
Und so glaubt selbst sein Lehrer, dass Tim die Türen schon zu öffnen weiß, | |
die sich vor ihm auftun werden mit einer Fachoberschulreife. Also kratzt er | |
gerade so die Noten zusammen, die es dafür braucht. „Es wäre besser | |
gewesen, er hätte das nicht gemacht“, sagt Tim Puffler. Denn all die | |
Ausbilder, auf die er in den nächsten Jahren treffen wird, Menschen in | |
Arbeitsagenturen und Sozialämtern, werden mit Unverständnis reagieren, wenn | |
er an scheinbar einfachsten Aufgaben scheitert, Job-Maßnahmen nicht zu Ende | |
führt und irgendwann einen Schwerbehindertenausweis beantragt. Denn | |
Fachoberschulreife und eine bescheinigte geistige Beeinträchtigung passen | |
für die meisten nicht zusammen. | |
In der Zeit zwischen Schulabschluss und Zivildienst hat Monika Reidegeld | |
immer wieder Albträume, die von Tim handeln. Auf Urlaubsreisen, im | |
Einkaufszentrum geht er ihr verloren. Oder der Junge will einfach nicht | |
wachsen. Reicht ihr nur bis zum Bauchnabel, obwohl er längst erwachsen ist. | |
Und sie ist die Einzige, die es bemerkt. Keiner glaubt ihr, wenn sie sagt, | |
dass da was nicht stimmt. | |
Wenn sie aufwacht, wird ihr klar, woher die Träume kommen: Ihr Sohn ist | |
zwar im Nebenzimmer, aber auf seine eigene Art verloren, weiß nichts mit | |
sich anzufangen und verhält sich im Grunde wie ein Kind. Kommt sie abends | |
nach Hause, sieht die Wohnung aus wie Sau. Nichts von den paar | |
Haushaltsaufgaben, die Monika Reidegeld ihrem Sohn aufträgt, erledigt er. | |
Die Nächte verbringt Tim feiernd in Bochum. Eigentlich müsste er sich | |
dringend um eine Zivildienststelle kümmern. Eines Tages meldet sich eine | |
Partyfreundin ihres Sohnes bei Monika Reidegeld: Ob sie wisse, dass Tim | |
immer wieder Heroinsüchtigen Geld leihe. Reidegeld ist entsetzt, stellt Tim | |
zur Rede: Die Leute seien halt nett, er helfe gern, entgegnet er. Das Geld | |
bekommt er nicht wieder. Obwohl er das weiß, hebt er weiter Scheine für sie | |
ab – bis er selbst nichts mehr hat. „Ich habe dieses Geldabheben nicht | |
bewusst gesteuert“, sagt Tim Puffler heute. „Anders kann ich das nicht | |
erklären. Das läuft ganz impulsiv bei mir.“ Später erfährt Reidegeld, dass | |
Tim mit den Abhängigen immer wieder auch Zeit verbrachte, seine Angst vor | |
Spritzen ihn aber davor zurückschrecken ließ, mitzumachen. | |
Das Risiko, eine Sucht zu entwickeln, ist für [3][Menschen mit FASD] um ein | |
Vielfaches erhöht. Ein Grund ist, dass sie sich leichter überzeugen lassen | |
und Gefahren oft nicht als solche identifizieren. Bei Tim äußert sich das | |
damals auch beim Autofahren. Er rast, drängelt, bemerkt nicht, wenn ihm mal | |
die Augen zufallen. Wenn seine Mitfahrer:innen vor Angst schreien, | |
findet er das witzig. „Die Autobahn war für mich wie ein Spiel, da habe ich | |
mich ausgetobt.“ Vier Unfälle wird er bauen. Er hat Glück: Nie wird ihm | |
oder anderen ernsthaft etwas zustoßen. Heute nimmt er nur noch das E-Bike. | |
Der Übergang in das Berufsleben kann für Jugendliche mit undiagnostizierter | |
FASD besonders hart sein – denn sie brauchen sehr viel länger als | |
neurotypische Menschen, um sich an veränderte Abläufe zu gewöhnen und neue | |
Aufgaben zu verinnerlichen. Wenn sie auf dem Papier dann auch noch völlig | |
gesund sind, eine Fachoberschulreife haben, kann das zu Unverständnis bei | |
den Ausbilder:innen führen. Oder, wie in Tims Fall, zu Anfeindungen. | |
Geht es um seinen Zivildienst, schlingt Monika Reidegeld die Arme fester um | |
sich, Tim Puffler sitzt ein bisschen aufrechter da. „Diese Zeit war | |
traumatisch für mich“, sagt er. „Mir wird heute noch schlecht, wenn ich | |
daran denke“, sagt sie. | |
## Das Zivildienst-Trauma | |
Monika Reidegeld ist es, die um das Jahr 2000 herum die Bewerbung ans | |
Salvador-Allende-Haus schreibt. Ein Bildungszentrum gleich um die Ecke, das | |
auch Gäste beherbergt. Im Allende-Haus muss er Anreisende in Empfang | |
nehmen, Betten beziehen, die Telefonanlage bedienen. „Diese Anlage war | |
riesig und bestand aus vielen blinkenden Knöpfen. Die anderen Zivis haben | |
das hingekriegt, ich nicht“, sagt Tim Puffler. Ständig habe es Ärger | |
gegeben, „immer war ich der Schuldige. Ich war völlig fertig, die Zeit war | |
ein Albtraum.“ | |
Er beschließt, nicht mehr hinzugehen, und weil er normalerweise auch dort | |
schläft, nimmt er sich ein Hotelzimmer, denkt: „Hier bin ich sicher“. Als | |
am Wochenende dann der Hausmeister vor Monika Reidegelds Tür steht, fühlt | |
sie sich gedemütigt von den Lügen ihres Sohnes. Der schweigt. | |
Tims Probleme, die eigenen Gefühle zu kommunizieren, interpretiert Monika | |
Reidegeld als Unwillen und Starrsinn. Und Tim sieht in seiner Mutter bloß | |
vermeintliche Gnadenlosigkeit – statt der Verzweiflung darüber, ihr Sohn | |
könnte bald eingebuchtet werden, weil er seiner Dienstpflicht nicht | |
nachkommt. Erst als sie ihn kurz darauf selbst ins Allende-Haus fährt, | |
bemerkt sie, wie unwohl ihm ist. Trotzdem schickt sie ihn rein. „Mir | |
könnten da heute wirklich die Tränen kommen, Tim“, sagt Monika Reidegeld. | |
„Ist doch okay, du konntest es nicht wissen“, antwortet er. | |
Für den Rest seiner Zivildienstzeit bekommt Tim vom Hausmeister eine | |
1:1-Betreuung und hat damit unbewusst erzwungen, was für ihn das beste ist. | |
Monika Reidegeld kämpft derweil mit einer Erschöpfungsdepression. Eine | |
Woche geht sie in Reha und hört von einer Therapeutin, sie mache ihren Sohn | |
klein. Sie müsse endlich in der Lage sein, den Jungen loszulassen. Als sie | |
aus der Reha in eine völlig verdreckte Wohnung zurückkehrt, obwohl Tim ihr | |
glaubhaft beteuert hatte, achtzugeben, schmeißt sie ihn raus und reduziert | |
den Kontakt. | |
## Monika Reidegeld lässt ihn los | |
Von nun an wird Tims Vater, mittlerweile Reidegelds Ex-Mann, für ihn | |
zuständig sein. Der Cut ist in beiderseitigem Einvernehmen, auch Tim hat | |
die Nase voll von all den Vorwürfen, in seinen Augen bemüht er sich doch. | |
Mutter und Sohn bleiben zunächst in losem Kontakt. Immer mal wieder treffen | |
sie sich im Café, Tim Puffler behält einen Schlüssel zu Reidegelds Wohnung. | |
Nach einer Reise, Tim ist da Mitte 20, bemerkt sie, dass jemand ihre | |
Schmuckschatulle geöffnet haben muss. Sie weiß zu dem Zeitpunkt schon, dass | |
ihr Sohn hin und wieder die Pfandleihe beansprucht. Dass er so weit gehen | |
würde, ihre Erbstücke einzulösen, hatte sie für unmöglich gehalten. | |
Reidegeld wird sie zurückbekommen, sich nun aber konsequenter zurückziehen. | |
In den knapp fünf Jahren, die zwischen der Schmuckschatulle und der | |
Diagnose stehen, lässt sie ihn los. Und Tim Puffler taumelt durchs Leben, | |
fängt Ausbildungen an und hört sie wieder auf, wird immer wieder vom | |
Jobcenter sanktioniert und versteckt Schreiben von der Hausverwaltung so | |
lange unter seiner Matratze, bis die Räumungsklage droht. | |
„Jeden Tag habe ich mich gefragt, welche Tretmine da heute ist, die ich | |
nicht kommen gesehen habe“, sagt er. Eine dieser Tretminen ist ein | |
Strafbefehl, den er so lange ignoriert, bis die Polizei ihn in Gewahrsam | |
nimmt. Ein Bekannter hatte einem anderen Bekannten das Auto entwendet, Tim | |
Puffler war dabei gewesen und aus seiner Sicht unschuldig. | |
Dieser völlig vermeidbare Gefängnisaufenthalt führt dazu, dass Monika | |
Reidegeld einen letzten Anlauf nimmt: Im Jahr 2012 sucht sie den Rat einer | |
Ärztin vom Gesundheitsamt und kommt mit einer Berliner Adresse wieder | |
heraus. Es ist die von Professor Hans-Ludwig Spohr, Kinderarzt und Gründer | |
des FASD-Zentrum an der Charité. Spohr ist einer der wenigen Experten auf | |
dem Gebiet in Deutschland, seit über 40 Jahren beschäftigt er sich mit der | |
Erkrankung. | |
Kurze Zeit später besuchen Mutter und Sohn den Kinderarzt. Hätte am Ende | |
des Besuchs keine Diagnose festgestanden, wäre das für Monika Reidegeld die | |
„emotionale Kernschmelze“ gewesen, sagt sie heute. Als Spohr ein | |
FASD-Vollbild bei Tim Puffler feststellt, fällt daher ein Stein von ihrem | |
Herzen, so wuchtig, dass man ihn „bis ins Ruhrgebiet“ hätte hören müssen. | |
Und dann sagt der Professor einen Satz, den Reidegeld nun ganz feierlich | |
wiederholt: „Hiermit entlaste ich Sie von allen vermeintlichen | |
Erziehungsfehlern.“ Das ist der Moment, an dem sie damals in Tränen | |
ausbricht. Und Tim Puffler sagt: „Professor Spohr war sowas wie mein | |
Retter.“ | |
Hans-Ludwig Spohr, heute 83 Jahre alt, mit Schnäuzer und gütigem Blick, | |
bittet in sein Haus in Berlin-Dahlem und führt gleich wieder heraus, in den | |
spätwinterlichen Garten: Diese Schneeglöckchen müsse man gesehen haben. | |
An Tim Puffler und Monika Reidegeld kann er sich gut erinnern. Denn Puffler | |
ist 2012 einer der ersten Erwachsenen, die sich an ihn wenden. Die Diagnose | |
steht für Spohr schon fest, als der junge Mann bei ihm zur Tür reinkommt. | |
30 Jahre Leben konnten in Pufflers Gesicht FASD-typische Merkmale nicht | |
verwischen. Die schmale Lidspalte, die wenig konturierte Oberlippe und der | |
kleine Kopf fallen Spohr sofort auf. | |
In über 90 Prozent der Fälle sind es nicht die leiblichen Eltern, die Spohr | |
gegenüber sitzen. Sondern Adoptiv- und Pflegemütter und -väter, oft am | |
Rande des Burnouts. Selten hat er es mit Frauen zu tun, die vermuten, ihr | |
Alkoholkonsum in der Schwangerschaft könnte der Grund für die Probleme | |
ihrer Kinder sein. Bemerkenswert findet er, dass ihm nicht ein einziges Mal | |
in seiner über 40-jährigen Karriere eine Familie aus dem Bildungsbürgertum | |
gegenüber gesessen habe. Keinesfalls, weil es so was in diesem Milieu nicht | |
gebe, sagt er. Nur würden diese Kinder dann in teuren Internaten betreut, | |
und kriegen wenn nötig ihr ganzes Leben lang finanzielle Unterstützung. | |
Hans-Ludwig Spohr sagt über sich, er sei auch „addicted“ – abhängig: er | |
könne einfach nicht aufhören, zu praktizieren. Zwar ist er schon lange | |
nicht mehr der Einzige, der in Deutschland FASD-Patient:innen begutachtet. | |
Anlaufstellen insbesondere für Erwachsene mit Alkoholsyndrom gebe es aber | |
noch viel zu wenige. Außerdem müsse es für Menschen mit Diagnose einfacher | |
werden, Hilfen zu beanspruchen. „Mitarbeiter in Sozialämtern sind darauf | |
gedrillt, Normalität zu sehen, um Kosten einzusparen“, sagt Spohr. Und die | |
Normalität dränge sich bei Menschen wie Tim Puffler nun mal auf. Eloquent, | |
Schulabschluss, wo soll das Problem sein? | |
## Mehr Unterstützung für Betroffene | |
2021 forderte Spohr vor dem Gesundheitsausschuss, bei der Beurteilung des | |
Grades der Behinderung bei Menschen mit FASD mehr Flexibilität an den Tag | |
zu legen. Er verwies für seine Forderungen auch auf den Kostenfaktor. | |
Studien und seine eigene jahrzehntelange Erfahrung belegen zum Beispiel, | |
dass Menschen mit FASD überdurchschnittlich oft im Gefängnis oder | |
Psychiatrien landen. Nur um nach Haftentlassung erneut straffällig zu | |
werden. In der Justiz gelten sie dann als besonders renitent, dabei ist es | |
ihnen unmöglich, Lehren aus dem eigenen Handeln zu ziehen. 2019 fanden | |
US-Forscher:innen heraus, dass das [4][Suizidrisiko für Menschen mit FASD] | |
um einiges höher ist als in der Gesamtbevölkerung. Spohr ist sich sicher: | |
All das ließe sich verhindern, würde ihnen nur früh genug geholfen. | |
Tim Puffler und Monika Reidegeld entlässt er damals mit den Worten: „Macht | |
was draus!“ Sie werden sich daran halten. Reidegeld beantragt für Tim | |
Puffler eine ambulante Betreuung. Er bekommt im Alltag von nun an | |
Sozialarbeiter:innen an die Seite gestellt, die im Haushalt helfen | |
und Behördliches klären. Er hat einen Schwerbehindertenausweis und Anspruch | |
auf bestimmte Sozialleistungen wie die Anerkennung eines Pflegegrades oder | |
Wiedereingliederung ins Berufsleben. | |
Der Diagnosebericht empfiehlt einen „beschützten Arbeitsplatz“ mit enger | |
Begleitung. Und so organisiert ihm seine Betreuerin einen Platz im | |
Sozialwerk St. Georg in Gelsenkirchen, wo Menschen mit Assistenzbedarf die | |
Möglichkeit haben, einer Beschäftigung nachzugehen und sich auf Gebieten, | |
die sie interessieren, weiterzubilden – mit viel Struktur und wenig Druck. | |
Puffler ist dort Redakteur beim Magazin DruckArt, aktuell will er eine | |
Schulung zum Medienberater machen. | |
Einmal im Monat kommt in den Räumen des Sozialwerks seine | |
Improvisationstheatergruppe „InkluImpro“ zusammen. Auf Bühnen hat sich Tim | |
Puffler immer wohlgefühlt. „Als Tim hier angefangen hat, war er aber noch | |
viel vorsichtiger“, sagt Theaterpädagogin Karin Badar bei einer Probe Mitte | |
Februar. Heute habe er eine tolle Energie. | |
Seine wichtigste Bühne steht allerdings in Fulda, dort finden die | |
jährlichen FASD-Fachtagungen statt, dort spricht er jedes Mal vor hunderten | |
von Menschen. „Ich frage mich wirklich oft, wie viele Leute da draußen | |
rumlaufen, die es schwer haben und nicht wissen, dass sie eigentlich krank | |
sind“, sagt er. Er wünscht sich, dass sich andere in seiner Geschichte | |
wiedererkennen und Hilfe finden. Monika Reidegeld und Tim Puffler haben | |
deswegen [5][ein Buch] verfasst, es heißt „Tim – ein Leben mit dem Fetalen | |
Alkoholsyndrom“; vor ein paar Wochen haben sie in Gelsenkirchen gemeinsam | |
daraus gelesen. Am liebsten würde Tim auch Aufklärungsarbeit in | |
Schulklassen leisten. „Damit die jungen Leute dort erfahren, was FASD | |
bedeutet und dass es zu 100 Prozent vermeidbar ist.“ | |
Wenn man sie fragt, was sie aneinander bewundern, dann lehnt sich Tim | |
Puffler erst mal zurück und lässt seine Mutter antworten. „Deine | |
Stehaufmännchen-Qualität“, sagt sie. „Der gibt einfach nicht auf!“ Tim | |
Puffler ist stolz auf das Engagement seiner Mutter, wenn es um ihn geht. | |
„Und dass du mir hilfst zu erzählen.“ | |
7 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://fasd-fachzentrum.de/was-ist-fasd/ | |
[2] https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/022-025 | |
[3] https://fasd-netz.de/wp-content/uploads/Lebenslang_durch_Alkohol.pdf | |
[4] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6650307/ | |
[5] https://www.editionblaes.de/tim-und-das-fetale-alkoholsyndrom/ | |
## AUTOREN | |
Leonie Gubela | |
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