Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- 1. Mai in Berlin-Kreuzberg: Dauerhoppeln abtrainieren
> Selbst am 1. Mai vermittelt auch im revolutionären Kreuzberg alles den
> Eindruck der Vollbeschäftigung. Denn Arbeit ist Teil dieses Plots namens
> Leben.
Bild: Junge Menschen sitzen an der Wegstrecke des Demonstrationszuges „Revolu…
[1][1. Mai]. Der Tag der Arbeit soll ein Tag der Muße werden. Ich beginne
ihn lesend im Café. Doch ich kann mich nicht konzentrieren. Neben mir
unterhalten sich zwei Paare. Es geht um „die Agentur“ und wann sie morgen
im „Office“ sein müssen. Weird. Als müssten sie sich untereinander am
Feiertag ihres Daseins als [2][lohnarbeitende Bürger*innen] versichern.
Macht euch mal locker, denke ich und erinnere mich an etwas.
Als Jugendlicher habe ich in einem Baumarkt gearbeitet. Manchmal gab es
nichts zu tun, und ich schritt durch leere Gänge. Eines Tages kam der
Marktleiter Herr S. mit rotem Kopf auf mich zu und brüllte: „Laufen Sie
nicht so rum. Wie sieht das denn aus! Wischen Sie die Regale!“ Der „Stachel
des Befehls“, wie Elias Canetti es nannte, bohrte sich tief in die Haut.
Ich nickte und verschwieg, dass ich die Regale vorhin erst gereinigt hatte.
Ich ahnte ja, was er wollte: vor den „Kunden“ keinesfalls den Eindruck
erwecken, nichts zu tun zu haben.
Heute besteht die ganze Welt aus diesen Kund*innen – und der Marktleiter
ist ein universaler Gott, der über alle wacht.
So erwische ich mich, wie ich all das gerade ins Notizbuch tippe. Mist. Das
war’s mit Lesen. Doch als freier Autor kann ich es mir kaum leisten, auf
Ideen zu warten. Wenn Beute kommt, muss ich zuschnappen. Ich bin stets
hyperaufmerksam und schaue, was die Leute so machen. Im Text switche ich
dann zwischen Menschen und Gesellschaft wie zwischen Instagram-Reels und
hoffe, dass Zusammenhänge entstehen.
Im Fall der Pärchen in Funktionskleidung ist er offensichtlich: Sie sind
Teil eines Systems, das sie abgerichtet hat. So, dass sie auch in der
Freizeit wie fleißige Häschen umherhoppeln. Voll peinlich. Noch peinlicher
ist, ich bin nicht anders.
## Bisschen Klassenfahrt
Karl Marx verwendete als Metapher für Arbeitskraft mal den Begriff
Gallerte, also jenes homogene, schleimige Zeug zur Nahrungsproduktion. So
fühle ich mich, als ich mich durch die Massen auf der „Revolutionären Demo�…
in Neukölln quetsche. Auch hier: alle vollbeschäftigt.
Und darin, bei aller Diversität, alle vereint. Die Parolen- und
Bierflaschen-schwingenden Demonstrant*innen, die sie bedienenden
Späti-Verkäufer*innen [3][und die Polizei], die überall in Kleingruppen
herumsteht. Ihr Vibe: bisschen Klassenfahrt, bisschen Bürgerkrieg. Ich
verstehe ihre Angespanntheit. Auch mir fällt Rumstehen seit dem
Baumarkt-Job schwer.
Doch ich habe immer noch kein Mittel gefunden, mir das Dauerhoppeln
abzutrainieren. Erstens sitzt der Stachel von Herr S. immer noch tief,
zweitens ist Arbeit immer noch Queen in Sachen sozialer Wertschätzung.
Was tun? Die queere Autor*in Lauren Berlant beschreibt im Buch „Cruel
Optimism“ eine ehemals arbeitslose Frau, die ihren neuen Job trotz krasser
Ausbeutung genießt. Endlich spüre sie, ähnlich wie in Paarbeziehungen,
wieder einen Plot namens Leben zu haben. Ich kann sie gut verstehen – und
deshalb müssen dringend neue Plots her.
4 May 2023
## LINKS
[1] /1-Mai-in-Kreuzberg/!5928511
[2] /Modelle-fuer-Arbeitszeitverkuerzung/!5916824
[3] /Polizeiforscherin-ueber-Gewalt-im-Einsatz/!5929031
## AUTOREN
Philipp Rhensius
## TAGS
Arbeiterklasse
Kolumne Unisex
Arbeit
Tag der Arbeit / 1. Mai
Kindergrundsicherung
Kolumne Unisex
Kolumne Unisex
## ARTIKEL ZUM THEMA
Innovationsunwille in der Politik: Deutschland denkt nichts neu
Klimaschutz, autofreie Städte, Kindergrundsicherung: Deutschland bekommt's
nicht auf die Reihe. Da helfen nur noch Wettbewerbe als Treibstoff.
Wie KI die Sexualität befreit: Virtuelle „Mistress“
Ein Chatbot ermöglicht einer US-Autorin, sich aus dem Alltag zu lösen und
neue erotische Erfahrungen zu machen. Doch dann ist plötzlich Schluss.
Drei Jahre nach dem ersten Lockdown: Denkmäler, um uns zu feiern
Vieles ist während der Pandemie schlecht gelaufen, aber vieles auch gut.
Diese kollektive Leistung sollten wir mit Denkmälern würdigen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.