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# taz.de -- Die Wahrheit: Gesund, jung und schön wie ich
> Solange es nicht um Politik, Wirtschaft oder Straftat geht, ist es kein
> Verbrechen, den eigenen Hintergrund zu vertuschen – wie bei
> Videokonferenzen.
Um langwierige und dröge Videocalls für Gesprächspartner interessanter zu
machen, habe ich mir angewöhnt, meinen „geblurrten“, also unscharfen
Bildhintergrund mit geheimnisvollen Accessoires anzureichern, die Fragen
evozieren.
Eine zusammengerollte, unscharfe Decke sieht mit ein paar entsprechenden,
in der Nähe drapierten Kleidungsstücken zum Beispiel schnell aus wie eine
Leiche; während die verschwommene Sammlung stolz aufragender peruanischer
Felsenkakteen gepaart mit etwas Undefinierbarem, Kettenähnlichem, das von
der Decke herunterhängt und eigentlich nur ein Lampenkabel ist, die
verklemmteren unter den Videokonferenzteilnehmern schamesrot ihren letzten
Besuch im Sexspielzeugladen erinnern lässt.
Und der alte, rote Sitzball, der vom Bandscheibenvorfall liegen geblieben
ist, erweckt weichgezeichnet in der richtigen Umgebung den ulkigen
Eindruck, man sei zu Besuch in einem Achtziger-Jahre-Videospiel.
Solange es auf der Einrichtungsebene bleibt und nicht in Richtung Politik,
Wirtschaft oder Straftat geht, ist es schließlich kein Verbrechen, den
eigenen Hintergrund zu vertuschen. Andere Menschen blurren sogar ihren
Vordergrund: Die Musikerin Jennifer Lopez, die das Geburtsjahr mit mir
teilt und demzufolge eigentlich auch meine Notenlinien auf der Stirn teilen
müsste, sieht in ihren mit dem Handy aufgenommenen Beauty-Routine-Videos
stets aus wie ein junger, puerto-ricanischer Pfirsich. Bis ihr neulich mal
der Gesichtsfilter verrutschte und die Betrachter für den Bruchteil einer
Sekunde eine Dorian-Gray-ähnliche Runzelmaske mit hohem Pferdeschwanz
anblinzelte.
Mich hat das vor allem gefreut, weil JLo eine von diesen Angeberinnen
ist, die ständig behaupten, sie sähen so wahnsinnig gut aus, weil sie
wahnsinnig gesund lebten. Dabei hat das eine nichts mit dem anderen zu tun.
Ich kenne Menschen, die morgens Cornflakes mit Bier und abends Pommes mit
Currywurst essen, die noch nie einen Flaschenverschluss brauchten, weil sie
noch nie eine angebrochene Wein- oder Sektflasche nicht ausgetrunken haben
– egal ob Piccolo oder Nebukadnezar – und die sich nicht mal im Schlaf
umdrehen, weil es ihnen körperlich zu anstrengend ist. Und trotzdem sehen
sie aus wie ein sexy Sportlehrer Anfang 30.
Das ist alles Veranlagung, da bin ich mir sicher. Ich stehe nämlich jeden
Morgen noch vor den Vögeln auf, schwimme zehn Kilometer durch den Berliner
Landwehrkanal und fische dabei den Treibmüll heraus, esse ausschließlich
Rohkostsalate und arbeite in meiner Freizeit als „Sober Coach“ für Popstars
mit Drogenproblemen. Man sieht es mir nur nicht an.
Das macht mir aber nichts aus. Wenn ich genug vom Scharfsehen habe, nehme
ich einfach meine Kontaktlinsen raus. Schon ist die Welt ein Tuschebild aus
sanften Wasserfarben. Und der verschwommene, jung und energetisch wirkende
blasse Fleck in der Mitte des Computerbildschirms bin ich.
5 May 2023
## AUTOREN
Jenni Zylka
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
Videokonferenz
Gesundheit
Stars
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