# taz.de -- Zukunft der Nahrungsproduktion: Wachstum unter Neonlicht | |
> Neue Agrartechnologien dringen in die Städte und aufs Meer vor. Gemüse | |
> aus dem Regal, Muscheln von der Meeresfarm, geht das? | |
Bild: Nahrhaftes Grün: Vertical Farming in Kiel | |
KIEL taz | Große Trecker mit großen Maschinen auf großen Feldern: Wenn man | |
das Wort „Landwirtschaft“ hört, sind das wohl die Bilder, die als Erstes | |
auftauchen. Doch die Zukunft der Branche hat viele Facetten, und sie liegt | |
nicht mehr nur auf dem Land: Konzepte wie Vertical Farming, Urban Gardening | |
oder Mikro-Landwirtschaft dringen in die Städte vor. Mit ihnen erschließen | |
sich [1][neue Möglichkeiten, die Bevölkerung zu versorgen]. | |
## Pflanzen, die die Wände hochwachsen | |
Mitten in der Kieler Innenstadt steht eine Halle. Unscheinbar sieht sie | |
aus, es könnte sich eine Kfz-Werkstatt oder ein Lagerraum darin befinden. | |
Doch weder Autos noch Werkstoffe haben darin ihren Platz, sondern eine Farm | |
mit unzähligen kleinen, nährstoffreichen Pflanzen. | |
Ich habe mich mit Felix Doobe, dem Geschäftsführer und Gründer der „Verture | |
Farm“, verabredet. Doobe entdeckte das Vertical Farming auf einer Reise | |
durch Thailand, Japan und Neuseeland. Vor allem in Japan ist das | |
[2][Vertical Farming] nach der Atomkatastrophe in Fukushima und der damit | |
einhergehenden Belastung des Grundwassers immer populärer geworden. Es | |
handelt sich dabei um ein Konzept, bei dem die Produktion von | |
landwirtschaftlichen Erzeugnissen vertikal in Regalsystemen stattfindet. | |
Diese vertikalen Farmen finden in urbanen Räumen wie Industriehallen, | |
Hochhäusern oder auch ausgedienten U-Bahn-Schächten Platz. | |
Zurück in Kiel begann Doobe 2019 mit seiner eigenen Vertical Farm. Es hat | |
etwas Futuristisches, wenn man die Räume betritt. An den Wänden ranken | |
Pflanzen, Neonröhren spenden ein helles Licht, und es hat den Anschein, als | |
würde überall etwas wachsen. Und das tut es auch. | |
Im großen Zuchtraum der Farm stehen deckenhohe Regale voll mit winzig | |
kleinen Pflanzen: Microgreens. Das sind 10 bis 15 Tage junge Keimlinge | |
verschiedener Gemüse- oder Kräuterpflanzen. Dadurch, dass die Pflanzen sehr | |
früh geerntet werden, enthalten sie hoch konzentrierte Nährstoffe. Der | |
Nährstoffgehalt kann je nach Nährstoff bis zu 100-mal höher sein als bei | |
ausgewachsenen Pflanzen. | |
Doobe ist überzeugt von den ökologischen Vorteilen seiner Microgreens-Farm: | |
„Zum einen können wir uns lange Transportwege von Nahrungsmitteln ersparen, | |
und wir können Abwärme nutzen. Wir könnten durch grüne Hauswände und Gärt… | |
die Städte klimatisieren, was durch die Erderwärmung auf lange Sicht ja | |
auch ein großes Problem werden wird.“ Und so wachsen mitten in der Stadt | |
kleine Oasen. | |
Aktuell vertreibt Doobes Unternehmen die Microgreens in Supermärkten und | |
auf Wochenmärkten in und um Kiel. Sein Ziel ist es, in Zukunft weitere | |
Nahrungsmittel mit den gesunden Pflänzchen herzustellen. In Form von | |
Burger-Pattys, Nudeln und Saucen sollen sie bald auf den Tellern der | |
Verbraucher:innen landen, als eine neue Variante von Lebensmitteln aus | |
der Region. Gerade durch Covid und die Ukraine habe man gesehen, wie | |
brüchig globalisierte Lieferketten sind, meint Doobe. Man müsse weg von den | |
großen Fabriken, hin zu den kleinen Unternehmen, um die | |
Nahrungsmittelsicherheit zu gewährleisten. Doobe: „Wir schöpfen bisher auf | |
jeden Fall daraus.“ | |
## Miesmuscheln, die das Meerwasser filtern | |
Etwas außerhalb von Kiel, an der Ostsee, findet man noch ein anderes | |
Beispiel für eine alternative Form nachhaltiger Landwirtschaft: die Kieler | |
Meeresfarm. Sie ist ein Projekt von Nikolai Nissen, Tim Staufenberger und | |
Kristina Hartwig. Auf ihrer Farm züchten sie Muscheln, Algen und Fisch. | |
Ich treffe mich mit Kristina Hartwig in der Nähe des Stadtteils Holtenau an | |
der Kieler Förde. In Sichtweite von großen Fähren, Frachtern und | |
Segelbooten liegt hier ganz unscheinbar die Meeresfarm. Ein kleines Gebiet, | |
gekennzeichnet von Bojen, ist das Zuhause zahlreicher Miesmuscheln, welche | |
von dem Team für den menschlichen Direktverzehr geerntet werden. | |
Ähnlich wie bei den Microgreens stelle ich mir die Frage: Kann man mit | |
diesen Muscheln die Menschheit nachhaltig kernähren? | |
„Eines unserer Ziele ist es, die Ostsee zu retten“, sagt Hartwig. „Das | |
werden wir realistisch gesehen mit unserer kleinen Fläche leider nicht | |
schaffen. Wir möchten Menschen also vor allem zu einem nachhaltigen Konsum | |
animieren.“ | |
Dass man mit Muscheln die Welt ernähren kann, glaubt auch Hartwig nicht. | |
Doch Muscheln könnten durchaus einen Beitrag leisten, denn die Ostsee steht | |
vor [3][Problemen]. Durch den Einsatz von Gülle und Düngemitteln in der | |
Landwirtschaft landen immer mehr Nährstoffe über das Grundwasser im Meer. | |
Die Folgen: Die natürliche Balance des Ökosystems wird gestört. Es | |
entstehen sauerstofffreie [4][Todeszonen], in denen Würmer, Krebse und | |
Fische nicht mehr überleben können. | |
„Diese Nährstoffe müssen wieder aus der Ostsee gefiltert werden, und das | |
funktioniert unter anderem mithilfe der Muscheln“, sagt Hartwig. Mit der | |
Ernte würden die Nährstoffe, welche die Muscheln aufgenommen haben, wieder | |
aus der Ostsee genommen. | |
Auch Kristina Hartwig blickt positiv in die Zukunft. Das Trio plant, | |
[5][vermehrt Algen anzupflanzen]. Diese können dann sowohl als | |
Nahrungsmittel wie auch als Bestandteil von Medikamenten genutzt werden. | |
Auch der Anbau von Queller, auch bekannt als Wasserspargel, soll in Zukunft | |
ausgeweitet werden. Das Salzwiesengewächs, welches einen leicht pfeffrigen | |
und salzigen Geschmack hat, liefert wichtige Nährstoffe wie A-, B- und | |
C-Vitamine. Außerdem enthält er viel Chlorophyll und sekundäre | |
Pflanzenstoffe, welche antioxidativ wirken. Ein heimisches Superfood also. | |
„Ich glaube, dass Algen und andere Meerespflanzen viel mehr genutzt werden | |
müssen“, sagt Hartwig. Damit könnte man die Fischindustrie entlasten, die | |
dann nicht mehr allein das Omega 3 bereitstellen müsste. Algen wiederum | |
seien, je nach Sorte, auch an Land in Tanks anbaubar. „Ich glaube auch, | |
dass die Ernährung eher wieder in Richtung Regionalität geht. Die Menschen | |
müssen lernen, umzudenken“, sagt Hartwig. | |
Wenn es nach ihr ginge, würde das Wasser bei der Produktion von | |
Nahrungsmitteln sowieso eine größere Rolle spielen. „Diese großartige | |
Fläche, die wir haben, möchten wir mit Leben füllen. Wir stellen uns | |
Hausboote zur Forschung vor, auf denen schwimmende Gärten zu finden sind. | |
Darauf könnte man Gemüse oder Kräuter anbauen“, sagt Hartwig. | |
Schwimmende Gärten gibt es bereits seit einigen Jahren auf der Seine in | |
Paris. Und ein Stück die Ostseeküste hoch, auf der vorpommerschen Halbinsel | |
Darß, läuft seit zwei Jahren ein [6][Pilotprojekt]. Man sieht, die Zukunft | |
hat schon begonnen. | |
15 Apr 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Ernaehrung-in-der-Zukunft/!5642182 | |
[2] https://www.landwirtschaft.de/landwirtschaft-erleben/landwirtschaft-hautnah… | |
[3] /Ostsee-auf-der-Kippe/!5538765 | |
[4] https://www.ardalpha.de/wissen/umwelt/todeszonen-ozeane-sauerstoffmangel-kl… | |
[5] /Boomende-Algen-Wirtschaft/!5887258 | |
[6] https://www.eucc-d.de/news/schwimmender-kraeutergarten.html | |
## AUTOREN | |
Juliane Baxmann | |
## TAGS | |
Landwirtschaft | |
Ernährung | |
Schwerpunkt Stadtland | |
wochentaz | |
Mitte | |
Preisanstieg | |
Ernährung | |
Technikfolgenabschätzung | |
Essen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Gardening in Berlin: Das Ende der Liegewiese | |
Am Monbijoupark ist ein wegweisendes Wildpflanzenbeet entstanden. Es zeigt, | |
wie die Zukunft des Stadtparks aussehen könnte. Dafür gibt es eine Prämie. | |
Studie zu Lebensmittelpreisen: Hungrig nach Profiten | |
„Übermäßige Gewinnmitnahmen“ sind weit verbreitet in Europa. In Deutschl… | |
sind sie aber besonders „eklatant“, so der Kreditversicherer Allianz Trade. | |
Ernährung der Zukunft: Weniger Fleisch, mehr Drohnen | |
So kann es nicht weiter gehen, sonst bricht das globale Ernährungssystem | |
zusammen – das ist das Ergebnis eines Berichts der Unternehmensberatung | |
PwC. | |
Ernährung in der Zukunft: Nahrungsmittel als Klimakiller | |
Die Produktion von Lebensmitteln ist einer der großen Faktoren, die auf das | |
Klima einwirken. Ein radikaler Umbau ist notwendig. | |
Innovationen beim Essen: Mit Essen die Welt verändern | |
Die Start-up-Kultur hat die Küchen erreicht, zusammen mit der | |
Digitalisierung stellt sie die Essensbranche auf den Kopf. |