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# taz.de -- Comic über Obdachlosigkeit: Aus dem sozialen Dunkel
> Der Comiczeichner Sebastian Lörscher gibt in „Schatten der Gesellschaft“
> einen Einblick in das Leben Berliner Obdachloser.
Bild: Anlaufstätte für Berliner Obdachlose in „Schatten der Gesellschaft“
Comic-Reportagen sind eine tolle Sache. [1][So richtig populär sind sie in
der deutschen Szene aber nicht,] zumindest im Vergleich zu den
allgegenwärtigen autobiografischen Comics. Sich mit sich selbst zu
beschäftigen, mit den eigenen Erfahrungen und Kümmernissen, scheint für
viele Zeichnerinnen und Zeichner attraktiver zu sein, als sich einmal
gründlich in der Welt umzuschauen. Genau dies aber liebt Sebastian
Lörscher. Nach Reiseberichten aus Bangalore in Südindien, aus Haiti und
Österreich ist seine aktuelle Veröffentlichung den Obdachlosen Berlins
gewidmet.
Im Winter 2019 hat Lörscher mehrfach zwei Anlaufstätten besucht, die in der
Hauptstadt Menschen ohne Wohnsitz zur Verfügung gestellt wurden. Beide Orte
sollten, wenn man auf der Straße kaum noch leben konnte, Schutz vor Kälte
bieten: eine rund um die Uhr geöffnete Zwischenebene am Bahnhof
Lichtenberg und ein ausschließlich zur Übernachtung ab 20 Uhr zugängliches
Zelt am Containerbahnhof. Aus den Begegnungen dort ist die Reportage
entstanden.
Von drei Frauen und zwölf Männern zeichnet Lörscher jeweils ein
Doppelporträt. Das erste zeigt die Person ohne Gesichtszüge; der
Bleistiftstrich ist dick und verläuft oft in Zickzacklinien. Beim zweiten,
behutsam mit Buntstiften kolorierten Porträt ist der Strich feiner und
ruhiger, und die Gesichtszüge sind vorhanden. Aus einem Schemen ist
plötzlich ein Mensch geworden.
So widerruft Lörscher, allein mit visuellen Mitteln, die traurige Aussage
des obdachlosen Uwe, der sich und seinesgleichen als „Schatten der
Gesellschaft“ bezeichnet: „Wir existieren, aber der Gesellschaft sind wir
ein Dorn im Auge. Man will uns eigentlich gar nicht sehen.“
## Ein Duden, der wertvollste Besitz
Die Statements der Obdachlosen rückt Lörscher unkommentiert zwischen die
Porträts. Einer hat eine Arbeitsstelle als Reinigungskraft in einem
Kaufhaus; dass er obdachlos ist, weiß fast keiner seiner Kollegen. Der
wertvollste Besitz eines ehemaligen Informatik- und Philosophiestudenten
ist der Duden; ihn durchforstet er „jede Nacht kreuz und quer“, um „neue
Begriffe und Definitionen“ zu lernen.
Da sind, natürlich, die dem Alkohol und Drogen Verfallenen, aber auch
diejenigen, die sich in geordnete Verhältnisse zurücksehnen. Andere
wiederum wollen ihre Existenz gerade als Verabschiedung von bürgerlichen
Zwängen und als große Freiheit begreifen.
Knapp die Hälfte der Porträtierten hat Lörscher im April 2020 erneut
getroffen. Manche von ihnen waren zu diesem Zeitpunkt auf einem guten Weg –
so kann der Band, anders als erwartet, vorsichtig optimistisch enden. Auf
einfühlsame, respektvolle Weise, ohne jeden unangenehmen Beigeschmack von
Voyeurismus gelingt es Sebastian Lörscher so, eine Handvoll Menschen dem
sozialen Dunkel, in dem sie hausen, für einen Moment ihres Lebens zu
entreißen.
3 Mar 2023
## LINKS
[1] /Buch-ueber-zeitgenoessische-Comics/!5905798
## AUTOREN
Christoph Haas
## TAGS
Comic
Deutscher Comic
Buch
Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin
wochentaz
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