Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Erdbeben in Syrien: Politisierte Katastrophe
> Assad und Türkei-treue Gruppen in Syrien nutzen das Erdbeben für den
> Machterhalt. Ihnen sollten international bindende Grenzen gezogen werden.
Bild: Kriegsverbrecher wieder auf diplomatischem Parkett: Assad in Oman
Millionen von Syrern und Türken wachten am 6. Februar im Morgengrauen auf
und sahen die Verwüstung, die das große Erdbeben mit mehr als 50.000 Toten
hinterlassen hatte. In Syrien ist das Ausmaß der Zerstörung für viele
durchaus mit der Verwüstung durch den Bürgerkrieg vergleichbar.
Trotz der humanitären Notlage, deren Folgen und Auswirkungen noch jahrelang
andauern werden, nutzen sowohl der syrische Diktator Assad als auch die von
der Türkei unterstützte syrische Opposition die Katastrophe aus, um von der
Tragödie politisch zu profitieren. Assad sucht nach persönlichem und
politischem Gewinn, [1][indem er sich als Retter in der Not inszeniert],
der versucht, dem ganzen Land zu Hilfe zu eilen. Mit Erfolg: Die USA haben
die Sanktionen gegen Syrien nun gelockert, damit Hilfeleistungen überhaupt
funktionieren können. Großbritannien und die EU sind diesem Beispiel
gefolgt und haben ebenfalls die Sanktionen gelockert, sodass nun
sanktionierte Einrichtungen und Personen humanitäre Hilfsgüter erhalten
können – für Assad ein Prestigegewinn.
Doch das Bild des barmherzigen Samariters hat einen gewaltigen Riss. Wie
brutal und skrupellos das Assad-Regime in Wirklichkeit ist, zeigt sich
selbst in solch einer Situation. Kurdische Viertel und Dörfer im stark vom
Erdbeben getroffenen Aleppo, das unter Kontrolle des Regimes steht, werden
von Truppen der syrischen Regierung belagert und blockiert. Gleichzeitig
werden Hilfsgüter, die den Erdbebenopfern zur Verfügung gestellt worden
sind, von regimetreuen bewaffneten Gruppen geraubt und auf den Märkten den
Opfern verkauft.
Auch wirkt es, als böte das Erdbeben eine Gelegenheit für Assad, [2][den
Prozess der Normalisierung mit der arabischen Welt zu beschleunigen],
insbesondere nachdem viele arabische Staaten die dringende Hilfe direkt mit
der syrischen Regierung koordiniert und nach Damaskus geschickt haben.
Konkreter wurde es, als Assad mit den Besuchen des ägyptischen
Außenministers Sameh Shoukry und des jordanischen Außenministers Ayman
Safadi zum ersten Mal seit 2011 wieder hochrangige Diplomaten aus diesen
beiden Staaten empfing. Assad selbst besuchte kürzlich in einer offiziellen
Staatsvisite den Golfstaat Oman – sein erst zweiter Besuch eines arabischen
Landes seit 2011. Die Zeichen stehen also auf Normalisierung der
Beziehungen zur arabischen Welt.
In den Jahren des Bürgerkriegs war Assad mit Ausnahme von Russland und des
Irans auf der diplomatischen Bühne isoliert. Nun, nach dem Erdbeben,
scheint es zumindest in den Beziehungen zur arabischen Welt wieder
vorwärtszugehen. Denkbar ist auch, dass der von Russland und dem Iran
unterstützte Annäherungsprozess zwischen Syrien und der Türkei wegen der
gemeinsamen Herausforderungen nach dem Erdbeben intensiviert wird. Ankara
war in den vergangenen Jahren ein zentraler Unterstützer der syrischen
Opposition.
Assad scheint es also zu gelingen, [3][die Barriere regionaler und
internationaler Embargos zu durchbrechen]. Gleichzeitig versucht er, die
Legitimität seines Regimes zu beweisen. Er hat Botschaften an die syrische
Opposition und „nicht verbündete“ Länder gesandt, in denen er erklärt, d…
sein Regime bleiben und er weiterhin die Angelegenheiten im Land
kontrollieren werde.
Aber nicht nur Assad nutzt das Erdbeben für sich. Auch bei seinen
politischen Kontrahenten im Land, in Nordwestsyrien, sind bewaffnete
Gruppen, die loyal zu Ankara sind, damit beschäftigt, die bereitgestellte
Hilfe untereinander aufzuteilen und zu stehlen. Berichte und Videos aus der
von der Türkei besetzten Region Afrin haben enthüllt, dass bewaffnete
Fraktionen die vom Ausland geschickten Hilfsgüter beschlagnahmt und auf den
Märkten weiterverkauft haben.
Im einst mehrheitlich kurdischen Afrin werden die noch übrig gebliebenen
Kurden trotz dieser Katastrophe systematisch von Ankara und der bewaffneten
Opposition diskriminiert und bei der Verteilung der Hilfsgüter umgangen. So
wird auch gegen politisch unliebsame Betroffene des Erdbebens vorgegangen,
vor allem, wenn es Kurden sind.
Die von Ankara unterstützte syrische Opposition verweigerte auch die
Weiterfahrt von Hilfskonvois, die von der kurdischen Selbstverwaltung Nord-
und Ostsyriens für die Regionen Nordwestsyriens bereitgestellt waren.
Offenbar erlaubte es Ankara nicht. Trotz des Ausmaßes der humanitären
Katastrophe laufen die Konfliktparteien im Land immer noch gegen die Zeit.
Auf Kosten von Millionen Syrern wird die Erdbebenkatastrophe politisiert.
## Al-Qaida-Ableger bekommt Erdbebenhilfe
Was ist also jetzt nötig, damit in Syrien die Katastrophe nicht weiter
politisch ausgenutzt wird? Solange sich das Land in einem Zustand des
politischen und militärischen Chaos befindet, müssen die internationale
Gemeinschaft und die Hilfe leistenden Parteien daran arbeiten, die
Verteilung der Hilfe vor Ort zu überwachen und statt mit dem Regime mit den
wirklichen Vertretern der Syrer zu kommunizieren.
Die Lösung kann nicht lauten, die Hilfe alleine der Verantwortung der
fragwürdigen Assad-Regierung oder der fragwürdigen Oppositionsgruppen wie
der in Afrin mitherrschenden [4][Hai’at Tahrir al-Scham (HTS), einem
Ableger von al-Qaida], zu überlassen. Die Erdbebenkatastrophe darf nicht
zur Legitimierung des Assad-Regimes und der Ankara-treuen Opposition
führen. Die Rolle von Assad und dem verlängerten Arm Ankaras könnte durch
international bindende Entscheidungen in Bezug auf die humanitäre Hilfe
eingeschränkt werden.
Schließlich müssen die EU und die USA mehr Druck auf Russland, Assads
Hauptverbündeten, ausüben – nicht nur im Hinblick auf die Ukraine, sondern
auch mit Blick auf Syrien. Gleiches gilt für das vermeintlich westliche
Regime in Ankara, das de facto die militärische und politische Hoheit über
weite Teile Nordwestsyriens ausübt.
6 Mar 2023
## LINKS
[1] /Schleppende-Erdbebenhilfen-fuer-Syrien/!5912489
[2] /Syrien-nach-dem-Erdbeben/!5915755
[3] /Wissenschaftler-ueber-Hilfe-nach-Erdbeben/!5912240
[4] /Wissenschaftler-ueber-Hilfe-nach-Erdbeben/!5912240
## AUTOREN
Ibrahim Murad
## TAGS
Schwerpunkt Syrien
GNS
Baschar al-Assad
Naturkatastrophe
Erdbeben in der Türkei und Syrien
IG
Türkei
Schwerpunkt Syrien
Ägypten
Schwerpunkt Syrien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Betrug mit angeblicher Syrien-Hilfe: Abzocke statt Luftbrücke
Die vermeintliche Hilfsorganisation „Syria Air Rescue“ behauptet, Spenden
zu sammeln, um Bedürftige auszufliegen. Doch sie existiert nicht.
Syrer*innen in der Türkei: Angriff auf TV-Moderator
Nach einer Eskalation im TV-Studio nimmt die Polizei zwei syrische
Journalisten zeitweise fest. Die Stimmung gegen Geflüchtete in der Türkei
kippt.
Syrien nach dem Erdbeben: Mit Krebs in Idlib
Früher ließen sich Krebspatient*innen aus Nordwest-Syrien in
türkischen Krankenhäusern behandeln. Seit dem Erdbeben ist die Grenze für
sie dicht.
Syrien nach dem Erdbeben: Assad wird wieder salonfähig
Ägyptens Außenminister besucht Syriens Diktator. Auch Oman und die
Vereinigten Arabischen Emirate nähern sich Damaskus an– das Beben macht's
möglich.
Nach den Erdbeben in Syrien: Nicht mal mehr Zelte zu kaufen
Durch das Nachbeben gibt es weitere Verletzte und Tote. Viele sind
traumatisiert, die psychische Belastung der Menschen nimmt zu.
Baerbock und Faeser in der Türkei: Zwischen Hilfsgütern und Bürokratie
Die deutschen Ministerinnen versprechen im Erdbebengebiet neue Hilfen und
preisen neue Visaverfahren. Kritiker finden die Regeln zu streng.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.