# taz.de -- Vermeintlicher Reichstagsbrandstifter: Sie sprechen von Leichensch�… | |
> Das Grab des vermeintlichen Reichstagsbrandstifters Marinus van der Lubbe | |
> in Leipzig wurde geöffnet. Das stößt bei seiner Familie auf | |
> Unverständnis. | |
Bild: Marinus van der Lubbe: Vom Schicksal gebeugt oder doch eher Intoxikation … | |
LEIDEN/LEIPZIG taz | In Leipzig sorgt die Öffnung des Grabes von Marinus | |
van der Lubbe für Ärger. Die Familie des Niederländers, der 1933 von den | |
Nazis in Berlin nach dem Reichstagsbrand [1][wegen mutmaßlicher | |
Brandstiftung verhaftet und nach einem Schauprozess enthauptet] wurde, | |
fühlt sich hintergangen. | |
Der örtliche Denkmalverein hatte das bis dahin anonyme Grab auf einer Wiese | |
des Leipziger Südfriedhofs gefunden. Im Anschluss wurde es zu | |
Forschungszwecken auch geöffnet. | |
Der [2][Vorsitzende der Paul-Benndorf-Gesellschaft zu Leipzig], ein Verein | |
des Friedhofs- und Denkmalwesens mit besonderem Augenmerk auf den | |
Südfriedhof, Alfred E. Otto Paul, behauptete im Anschluss, von den | |
Angehörigen des bekennenden Anarchisten grünes Licht dafür bekommen zu | |
haben. | |
Da Wissenschaftler aus aller Welt seit Jahrzehnten an der alleinigen Schuld | |
van der Lubbes am Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 zweifeln, wurde | |
seine Leiche jetzt exhumiert. „Dafür haben wir die Erlaubnis von Verwandten | |
wie Heleen Marijt“, erklärte Paul, der frühere Baudirektor der Leipziger | |
Friedhöfe. | |
Toxikologen der Universität Leipzig untersuchen derzeit zusammen mit | |
Oberarzt Carsten Babian vom Institut für Rechtsmedizin die exhumierte | |
Leiche nach Spuren. Sie suchen nach sicheren Erkenntnissen, ob van der | |
Lubbe zur damaligen Zeit vergiftet oder mit Drogen behandelt wurde. Bei | |
seinem Prozess, der vom 21. September bis zum 23. Dezember 1933 vor dem 4. | |
Strafsenat des Reichsgerichts in Leipzig und Berlin stattfand, war er laut | |
Zeugen schläfrig und geistesabwesend gewesen. Auch seine Familie | |
kolportiert diese Sichtweise. | |
Prozessbeobachter sprachen über „Lustlosigkeit und Schlappheit“. Van der | |
Lubbes Körper sei „gekrümmt, in einander gefallen, seine Gedanken schienen | |
abwesend, sodass van der Lubbe, der ziemlich gut deutsch sprach, einen | |
Übersetzer brauchte und schlecht sehen konnte“. Er war nicht in der Lage, | |
gedruckte Buchstaben zu lesen. Er schien beinahe bewusstlos. Weil seine | |
Nase andauernd lief, gab es die Vermutung einer Scopolamin-Vergiftung, | |
einem dämpfenden Wahrheitsserum. Auch mögliche Folter wird nicht | |
ausgeschlossen. | |
## Gestohlene Leiche | |
„Wir sind nicht glücklich. Als Familie wollten wir genau wissen, wo das | |
Grab ist, aber die Paul-Benndorf-Gesellschaft sollte sich nicht an seiner | |
Leiche zu schaffen machen“, sagt die Sprecherin der Familie, die Cousine | |
zweiten Grades Heleen Marijt (67) in Leiden, der ältesten Universitätsstadt | |
des Königreichs an der Nordsee. „Sie sind mit seiner Leiche abgehauen. | |
Eigentlich haben sie sie gestohlen.“ | |
Die Tante von Marijt, die 77-jährige Elisabeth van der Lubbe, die in | |
Spanien wohnt, war mit Jan, dem Bruder von Marinus van der Lubbe, | |
verheiratet. Sie lässt sich von Marijt vertreten. „Wir sind einfach | |
schockiert. Das ist Leichenschändung. Nur die Identifizierung war von uns | |
beabsichtigt. Man hätte einfach ein Loch in die Holzkiste machen und | |
nachschauen können“, so Marijt. | |
Aber Paul gab die Nachricht einer historischen Sensation flugs an | |
Historikerinnen und Journalistinnen weiter. Er ließ das Grab öffnen und | |
stellte fest, dass der Halswirbel der Leiche unter dem Schädel vom Fallbeil | |
der Guillotine getroffen worden war. „Der Gerichtsmediziner konnte mir | |
aufgrund der tödlichen Verletzungen genau sagen, dass es tatsächlich van | |
der Lubbe war.“ Für den deutschen Spezialisten für Begräbniskultur ist es | |
ein besonderes Gefühl: „So etwas passiert alle hundert Jahre einmal, das | |
ist ein außergewöhnliches Ereignis für uns“, so der Vereinsvorsitzende, der | |
mit seinen Mitstreiterinnen für Denkmäler und ihre Pflege an letzten | |
Ruhestätten sorgt. „Diese Handlung hätte gereicht“, meint Marijt. | |
## Urteil aufgehoben | |
Aber die Paul-Benndorf-Gesellschaft wollte die historische Wahrheit | |
herausfinden. „Die Deutschen sind einen Schritt zu weit gegangen“, so die | |
niederländische Verwandtschaft, die von der Unschuld van der Lubbes | |
überzeugt ist. Marinus von der Lubbes Bruder Jan versuchte bereits im Jahr | |
1955 im damaligen Westberlin das Todesurteil durch das deutsche Gericht | |
aufheben zu lassen. Das gelang erst 12 Jahre später. | |
„Für uns war diese lang ersehnte Rehabilitierung sehr wichtig“, sagt | |
Marijt. „,Damals gab es die Aussage des SA-Manns Hans-Martin Lennings.“ Der | |
von manchen Forschern kritisierte Zeuge hatte bei einem Notar in Hannover | |
in einer eidesstattlichen Erklärung bestätigt, dass er van der Lubbe aus | |
einem Berliner SA-Lazarett geholt hat und mit ihm zum bereits brennenden | |
Reichstag gefahren ist. Während der Fahrt sei van der Lubbe „benommen“ | |
gewesen. „Lennings bekam Gewissensprobleme, weil er mit der Verhaftung | |
nicht einverstanden war“, mutmaßt Marijt. | |
Auf jeden Fall hatte der Brand große Folgen für die deutsche und | |
europäische Geschichte. Die Nazis ließen noch in derselben Nacht Tausende, | |
vor allem KPD- und SPD-Politiker sowie linksliberale Intellektuelle, nach | |
längst fertigen Listen verhaften. Das ausgebrannte Parlament diente als | |
Anlass, der verhassten Demokratie den Hals zu brechen, das Dritte Reich zu | |
errichten, mit zig Millionen Toten und dem Holocaust als Folge. | |
„Marinus war das erste Opfer der Nazis“, glaubt Frau Marijt, die lange am | |
Universitätsklinikum Leiden arbeitete. „Sie haben ihm eine Falle gestellt, | |
ihn als Sündenbock benutzt.“ Das Thema verursachte viel Trauer in ihrer | |
Familie. Im Jahr 2000 reiste man mitsamt Künstlern und Aktivisten nach | |
Berlin, um vor Ort einen Gedenkstein für van der Lubbe zu errichten. Doch | |
wurde dieser kurz nach der feierlichen Zeremonie am Deutschen Theater | |
gestohlen. Auch in Leipzig wie in van der Lubbes Geburtsstadt Leiden wurde | |
ein Monument aufgestellt. | |
## Wurde gezwungen | |
Für Marijt und ihre Familie war Marinus van der Lubbe „ein Abenteurer“. �… | |
wollte die Deutschen wachrütteln und auf die Gefahr durch die Nazis | |
hinweisen.“ Beim Prozess soll er zu einem Geständnis „gezwungen“ worden | |
sein. | |
Während die deutschen Forscher fast ein Jahrhundert später den wahren | |
Tatsachen nachjagen, will van der Lubbes Familie einfach ihre Ruhe haben. | |
Und die Totenruhe des Prozessopfers gewahrt sehen. „Ob es gelingt, fast | |
neunzig Jahre später Drogenspuren zu finden, steht in den Sternen. Für uns | |
muss das nicht sein.“ | |
Aber die Frage, ob van der Lubbe von den Nazis benutzt und vergiftet wurde, | |
bewegt Wissenschaft und Amateurhistoriker nach wie vor. In der sächsischen | |
Großstadt bezweifeln Gerichtsmediziner die Einzeltäterthese zum | |
Reichstagsbrand, dessen genauer Ablauf nach wie vor umstritten ist. | |
Van der Lubbe war ein niederländischer Anarchist, der kurz vor der | |
Machtübernahme des nationalsozialistischen Diktators Adolf Hitler nach | |
Berlin gekommen war. Sein Schicksal ist in jedem deutschen und | |
niederländischen Schulbuch nachzulesen. Von den fünf Angeklagten des | |
Reichstagsbrandprozesses wurde er als einziger im Sinne der Anklage für | |
schuldig befunden und somit am 23. Dezember 1933 auf der Grundlage eines | |
rückwirkenden Gesetzes zum Tode verurteilt. Die übrigen Angeklagten sprach | |
das Gericht mangels Beweisen frei. Van der Lubbe wurde am 10. Januar 1934 | |
durch das Fallbeil hingerichtet. | |
Seine Leiche zu finden, war allerdings alles andere als einfach. Zu Zeiten | |
der DDR wurde der Leipziger Südfriedhof, der der größte der Stadt ist, | |
vernachlässigt. „In dem anonymen Grab, das mit einem tonnenschweren | |
Findling markiert wurde, befand sich außerdem noch die Urne einer Frau“, so | |
Paul. Der Stein musste mit einem Bagger gehoben und entfernt werden. | |
## Leichtes Opfer | |
Die hinzugezogenen Toxikologen vermuten, dass van der Lubbe sukzessive | |
vergiftet wurde. „Man geht davon aus, dass ihm während seines Prozesses peu | |
à peu Medikamente verabreicht wurden“, erklärt Paul. „Und weil er zu | |
schläfrig war, konnte er sich nicht anständig verteidigen.“ Ein leichtes | |
Opfer also. | |
Die Historiker sind sich einig, dass dem linken Niederländer ein | |
Schauprozess gemacht wurde, dass er der „nützliche Idiot“ war, um die | |
Weimarer Republik ein für allemal zu vernichten und begraben. In der Tat | |
markiert der Reichstagsbrand den ersten Höhepunkt des Nazi-Terrors, der im | |
Zweiten Weltkrieg und im Holocaust gipfelte. | |
Die Einzeltäterthese war allerdings auch nach 1945 noch sehr verbreitet. | |
Möglicherweise hatten aber die Stoßtrupps der SA ihre Finger im Spiel. Im | |
Reichstagsgebäude, dem jetzigen Bundestag, verläuft ein Tunnel bis zur | |
Parlamentarischen Gesellschaft und dem Jakob-Kaiser-Haus, er kann heute | |
besichtigt werden. Durch ihn könnten SA-Männer in die Volksvertretung | |
gelangt sein. | |
27 Feb 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/reichstagsbran… | |
[2] https://www.paul-benndorf-gesellschaft.de/ | |
## AUTOREN | |
Rob Savelberg | |
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